Originalarbeiten Dr. Künzlis

Zu den §§ 153 und 154 des Organon (ZKH 1977/5)

J. Künzli von Fimelsberg

Bei jedem Krankheitsfall können wir 2 Arten von Symptomen unterscheiden:

  1. Die pathognomonischen Symptome

d. h. diejenigen Symptome, welche das typische Bild einer Krankheit ausmachen, zum typischen Bild gehören. Z. B.

  1. bei den Masern bestehen sie aus dem typischen Hautausschlag, dem Fieber, der Konjunktivitis, der Lichtscheu,
    den Koplikschen Flecken im Mund,
    manchmal Halsweh,
    und einem bellenden Husten.

    Oder

  2. bei einem Parkinsonkranken zum Beispiel charakterisieren folgende Symptome das Krankheitsbild: die Akinesie, mit Schwierigkeit, sich anzuziehen, sich zu rasieren, zu schreiben, zu nähen, sich seiner Hände bei den Mahlzeiten zu bedienen, die Apathie, das Salbengesicht, die Bewegungsarmut, das Fehlen der Beweglichkeit, Verlangsamung der Reaktion und aller Bewegungen, die langsame und monotone Sprache, manchmal Dysarthrie, Speichelfluß, manchmal Dysphagie, die kleinen Schrittchen beim Gehen, die Füße gleiten dem Boden nach, statt daß sie gehoben werden, die Propulsion beim Gehen, die Steifheit, — der Kranke kann einen Stuhl nicht ohne Hilfe verlassen — und Tremor, durch Emotion gesteigert und im Schlaf verschwindend.

Alle diese Symptome finden sich bei jedem Masernfall, bei jedem Parkinson. Sie charakterisieren aber in nichts den Kranken selbst, seine Individualität.

  1. Die individuellen Symptome,

welche die momentane Masernepidemie von früheren Epidemien derselben Krankheit unterscheiden, — was bei HAHNEMANN „genius epidemicus“ genannt ist, — und was unseren Parkinson-Kranken von anderen, an demselben Syndrom erkrankten Patienten unterscheidet, wie dieser spezielle Patient ganz persönlich auf seine Krankheit reagiert.
Und HAHNEMANN lehrt uns, daß es gerade diese letzteren Symptome sind, die uns auf die Spur des richtigen Heilmittels bringen.

Das Medikament auf der anderen Seite hat ebenfalls in seinen großen Wirkungszügen manches gemeinsam mit anderen Medikamenten (z. B. Nux vom. mit Ignatia, oder die verschiedenen Schlangengifte untereinander), diese Wirkungszüge sind also nicht spezifisch.

Aber durch gewisse individuelle Züge, die nur ihm persönlich eigen sind und die bei keiner anderen Substanz gefunden werden, unterscheidet es sich doch von den anderen, und das sind diejenigen Symptome, die vor allem wichtig sind, die man vor allem kennen muß.
Das Heilmittel, das wir für den Patienten auswählen, soll auf der einen Seite in seinen großen Zügen die pathognomonischen Symptome des Patienten decken, aber vor allem in den individuellen Symptomen dem Kranken entsprechen. Das letztere ist das wesentliche.

Hier muß noch von einem Spezialfall gesprochen werden:

Ab und zu entspricht ein noch nicht voll ausgeprüftes Mittel den individuellen Symptomen eines Patienten aufs treffendste. Sein Arzneiprüfungsbild ist noch nicht völlig klar, man weiß deshalb nicht eindeutig, ob es auch den pathognomonischen Symptomen des Falles entspricht. Wenn man dieses Mittel dann dem Kranken gibt, erlebt man vielleicht eine schöne Heilung. Hier liegt die Erklärung dafür, wieso Laienpraktiker manchmal zu so überraschenden Erfolgen kommen können. Wir „wissenschaftlichen“ Homöopathen geben nach unserem langen Ausbildungsgang eben lieber bloß solche Mittel, die sowohl die pathognomonischen als auch die individuellen Symptome des Falles decken. Aus einem gewissen Objektivitätsstreben heraus glauben wir uns nicht einzig auf seltene außergewöhnliche Symptome bei der Wahl stützen zu dürfen, — wie es Laien vielleicht ohne viel Skrupel eben wagen.

Schauen wir nun diese auffallenden, originellen, ungewöhnlichen, persönlichen Symptome etwas näher an.

Ein Symptom kann auffallend, sonderlich, eigenheitlich, charakteristisch

  1. an sich sein,
  2. oder es wird auffallend erst durch seine Modalität,
  3. oder seine Lokalisation,
  4. oder seine Ausstrahlung, seine Erstreckung nach anderen Körperpartien,
  5. oder das auffallende, sonderliche Symptom ist ein auffallendes Gefühl, eine auffallende Empfindung,
  6. oder auffallend sind Beginn und Ende des Symptoms,
  7. auffallend kann auch die Kombination zweier konträrer Symptome sein, h) auffallend kann aber auch die Ab-senz eines erwarteten Symptoms sein.

Ziehen wir zur Verdeutlichung des Gesagten Beispiele aus der Praxis heran:

  • Kategorie a
    Symptom an sich auffallend, merkwürdig, ungewohnt, persönlich:
    z. B. gelb-bräunliche Verfärbung in Sattelform über den Nasenrücken = Sep. (dieses Symptom paßt auch unter Kategorie c = Lokalisation auffallend), oder linke Hand geschwollen bei Herzleiden = Cact. (paßt ebenfalls in Kategorie c = Lokalisation), oder Auswurf von Zitronenfarbe = Puls. etc.
  • Kategorie b
    Charakteristisch wird das Symptom erst durch seine Modalität: z. B. Tränen fließen in kalter Luft, also in kalter Jahreszeit = Puls. u. a.,

    oder Leibweh, besser in Bauchlage = Beil., Bry., Coloc. etc., oder Kreuzschmerzen, besser durch Liegen auf harter Unterlage = Nat. mur., Rhus t. u. a.

  • Kategorie c
    Charakteristische Lokalisation eines Symptoms:
    z. B. Warze auf der Nasenspitze = Caust.,
    oder Warze an Nagelrand = Caust., oder Schmerz vom Kopf zur Zungenwurzel = Ip,
  • Kategorie d
    Ausstrahlung auffallend: z. B. Schmerzen, die sich diagonal erstrecken = Agar.,
    oder Symptome gehen von links nach rechts = Lach. u. a., oder Symptome gehen von rechts nach links = Lyc. u. a.
  • Kategorie e
    Z. B. Kältegefühl Mammae = Med. u. a.,
    oder Gefühl, Därme seien an Abdomenwand angewachsen = Sep., oder Gefühl, ein kalter Wind wehe in die Augen = Croc, Fl. ac, Thuj. u. a.
    Über diese Gefühle „als ob …“ existieren Spezialrepertorien, z.B. eines von ROBERTS [*], eines von WARD [»].
    Wenn so ein Gefühl konstant und deutlich markiert ist, verdient es unsere Aufmerksamkeit. Wenn der Kranke es aber jedesmal anders beschreibt, so ist es unzuverlässig und dann eben meist wertlos. Es ist vielleicht nicht überflüssig, hier darauf hinzuweisen, daß bei dieser Kategorie „Gefühl“ Neuropathen ihre reiche Fantasie spielen lassen können. Also Vorsicht damit.
  • Kategorie f
    Anfang und Ende eines Symptoms charakteristisch:
    z. B. brüsker, plötzlicher Beginn eines Symptoms = Bell., Spig., Sul. u. a., oder langsamer Beginn = Stann., oder plötzliches Ende = Bell., oder langsamer Beginn und langsames Ende = Stann.,
    oder langsamer Beginn, aber plötzliches Ende = Ign. und Sul. ac.
  • Kategorie g
    Kombination zweier konträrer Symptome:
    z. B. Schläfrigkeit, sobald im Bett aber schlaflos = Puls.,
    oder trockener Mund, aber durstlos = Bry. u. v. a.,
    oder sehr kälteempfindlich, aber trotzdem Verlangen nach immer offenen Fenstern = Puls.
  • Kategorie h
    Absenz eines erwarteten Symptoms: z. B. hohes Fieber; da erwartet man doch Durst. Wenn unter diesen Umständen Durstlosigkeit herrscht, erstaunt uns das, ist frappierend, außergewöhnlich = Apis, Cina, Gels., Sa-bad., Sep. u. a. haben das, oder Masernepidemie. Dabei einige Abortivfälle fast ohne Ausschlag. Dieses Fehlen des Ausschlags, dieses Nicht-recht-herauskommen des Ausschlags ist auffallend und läßt vorzüglich an Bry. denken, aber auch an Ip., oder ein Herzkranker, der sich besser befindet, wenn er flach liegt, — das Gegenteil dessen, was man bei den meisten Herzkranken trifft. Das ist extraordinär, ungewohnt, macht uns stutzen. Wir denken an Laur. u. a.

Es gibt also viele Möglichkeiten, wie wir sehen. Es ist eine gute Übung, noch andere Beispiele für diese verschiedenen Kategorien zu suchen.
Ich habe versucht, Ihnen in einfachen Ausdrücken das nahe zu bringen, was unsere großen Meister JAHR [4], HERING [5] und KENT [6] uns zu den §§ 153 und 154 des Organon gelehrt haben und was HAHNEMANN damit meinte. Und vergessen Sie nicht, daß JAHR lange Zeit mit HAHNEMANN gearbeitet hat.

Zusammenfassung

Die für die Mittelwahl wichtigeren Symptome sind weniger die pathognomonischen (= diejenigen Symptome, die eine Krankheit charakterisieren), sondern viel eher die individuellen Symptome eines Krankheitsfalles.

Das ist, was HAHNEMANN uns mit den §§ 153 und 154 des Organon sagen will. Diese individuellen, d. h. auffallenden, sonderlichen, ungewöhnlichen und eigenheitlichen (charakteristischen) Symptome können selten, auffallend an sich, oder in ihrer Modalität, oder in ihrer Lokalisation, oder in ihrer Ausbreitung sein.
Es kann sich auch um ein seltsames Gefühl, das einem auffällt, handeln. Oder auffallend kann Beginn und Ende eines Symptômes sein, auffallend kann auch die Kombination zweier gegensätzlicher Symptome sein. Selbst das Fehlen eines erwarteten Symptoms kann unsere Aufmerksamkeit auf sich lenken.
Demonstration des Gesagten an 2 Fällen, einem akuten und einem chronischen.

Résumé

Les symptômes importants pour le choix du remède sont moins les symptômes pathogno-moniques (= les symptômes typiques d’une ma-ladie, qui caractérisent teile ou teile maladie) d’un cas mais plutôt les symptômes individuels de celui-ci.
C’est ce que veut, dire HAHNEMANN avec ses §§ 153 et 154 de POrganon. Ces symptômes individuels, c’est à dire, frappants, originaux, inusités, caractéristiques, personnels, peuvent être rares en soi, ou rares dans la modalité, ou leur localisation, ou leur extension.
Ou il peut s’agir d’une Sensation extra-ordinaire, 4
ou caractéristique est Revolution du symptôme, la manière dont il débute, s’accroit, déçroit et se termine,
et extraordinaire peut être la combinaison de deux symptômes contraires, et même l’absence- d’un symptôme attendu peut être frappant, méritant notre attention. Deux cas pratiques, l’un aigu, l’autre chro-nique, illustrant les thèses terminent le travail.

Summary

For the choice of the remedy, the pathognomonic Symptoms (= Symptoms which caracterize a disease, typical Symptoms of a disease) are less important than the individual Symptoms of the case.
That is what HAHNEMANN will say with his §§ 153 and 154 of the Organon. These individual, i. e. strange, peculiar, unusual Symptoms of the case could be extraordinary, notable can be a certain Sensation, rare, extraordinary by themselves, or by the modality, or the localisation, or the extension.
or the mode of onset and end of a Symptom, or the combination of two contrary Symptoms,
but even the absence of some Symptom expected can be something to mark.
Two cases, on acute, the other chronic illustrating the theses, terminate the paper.

Literatur

  1. HAHNEMANN, S.: Doctrine homoeo-pathique ou Organon de l’Art de Guérir. Traduction en français de la 6me édition allemande, Pierre SCHMIDT. Vigot édi-teur, Paris 1952.
  2. ROBERTS, H. A.: Sensations as if… Economic homoeopathic Pharmacy, Cal-cutta 1960.
  3. WARD: Sensations as if… San Francisco.
  4. JAHR, G. H. G.: Die Lehren und Grundsätze der gesamten therapeutischen und praktischen homöopathischen Heilkunst. Liesching Verlag, Stuttgart 1857, Kap. 1, p. 273 u. f.
    HERING: zitiert durch JAHR (s. bei JAHR).
  5. KENT, J. T.: La Science et l’Art de l’Homoeopathie, traduction des „Lectures on homoeop. philosophy“ par le Dr. Pierre SCHMIDT. 2me édition, Maisonneuve, Ste. Ruffine, France 1960, chap. XXXI, p. 301 u. f.

(Anschrift des Verfassers: Dr. med. J. Künzli von Fimelsberg, Bruggwaldpark 28, CH-9008 St. Gallen 9 I Heiligkreuz/Schweiz)

Copyright Karl.F. Haug Verlag Stuttgart, mit freundlicher Genehmigung
https://www.thieme.de/de#66B646

2 Comments
  • Fredy Fuchs

    28. März 2017 at 10:13 Antworten

    Sehr geehrte Verfasser

    in der Kategorie f der & 153 Symptome ist Bell 2x falsch geschrieben.

    Super diese 3 Artikel ich hoffe es kommen noch mehr!

    Freundliche Grüsse

    Fredy Fuchs

    Dr.Fredy Fuchs, Arzt für Homöopathie SVHA 4500 Solothurn

    • Lars Stange

      29. Juni 2017 at 11:45 Antworten

      Lieber Kollege Fuchs!
      Danke für die Beobachtung der falsch geschriebenen Bell im Künzli-Artikel!
      wir werden den Fehler korrigieren!

      Herzlichen Gruß!
      L.Stange

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