Künzli.Punkt – Was ist das?

Was ist ein „Künzli-Punkt“?

von Dr. Christoph Thomas

Der Schwerpunkt des ärztlichen Unterrichts Dr. Künzlis lag auf der homöopathischen Arzneimittelbestimmung, vor allem in chronischen Fällen. Künzlis hat uns nicht nur die Technik dieser Arzneimittelbestimmung mit all ihren Finessen beigebracht, sondern hat vor allem immer wieder ganz konkret diejenigen Zeichen und Symptome gelehrt, die sich ihm in seiner Praxis besonders bewährt hatten, das passende homöopathische Heilmittel aufzufinden. Rubriken im Repertorium mit diesen speziell wertvollen Zeichen und Symptomen sollten wir – so seine Empfehlung – mit einem roten Punkt kennzeichnen. Auch einzelne Heilmittel, die bei einem bestimmten Zeichen oder Symptom besonders häufig auftreten, sollten wir ebenfalls mit einem roten Punkt markieren.

Wen wundert es: Rasch hatten diese Punkte ihren Namen erhalten und wurden von seinen Schülern „Künzli-Punkte“ genannt.

Die „Künzli-Punkte“ stellen also ein zusätzliches Strukturierungs- und Ordnungsprinzip innerhalb des Kentschen Repertoriums dar und erleichtern und präzisieren zusammen mit Künzlis zahlreichen Nachträgen im Kentschen Repertorium die homöopathische Mittelwahl. In Künzlis 1987 erschienenem „Kent´s Repertorium Generale“ wurden diese Punkte erstmals veröffentlicht. Auszugsweise finden sie sich auch in Horst Barthels „Charakteristika der homöopathischen Arzneimittel“ und in seinem „Repertorium der Charakteristika“.

Die „Künzli-Punkte“ verdanken ihren Ursprung jedoch nicht allein der persönlichen Beobachtung Künzlis, sondern stehen in engem Zusammenhang mit der bahnbrechenden Einsicht Pierre Schmidts und Künzlis, welch‘ grundlegende Rolle der Theorie der chronischen Krankheiten Samuel Hahnemanns für die homöopathische Praxis zukommt. Deshalb hat Künzli seine Patienten jahrzehntelang mit äußerster Sorgfalt daraufhin untersucht, ob bei ihnen Symptome aufzufinden sind, die Hahnemann in seinen Symptomenreihen für die latente und für die ausbrechende Psora benennt (veröffentlicht im 1. Band seiner „Chronischen Krankheiten“).

Und so verhält es sich in der Tat:

  • Viele der „Künzli-Punkte“ indizieren nicht nur Zeichen und Symptome, welche homöopathische Arzneien besonders gut voneinander differenzieren,
  • sondern zugleich auch Symptome der latenten und der ausbrechenden Psora und
  • bestätigen damit Hahnemanns Psora-Theorie auf faszinierende Weise.

Wie mir die Bedeutung der „Künzli-Punkte“ bewusst wurde.

von Horst Hauptmann

1969 habe ich mich als Kinderarzt in einer Kassenpraxis in Augsburg niedergelassen, von Anfang an mit dem Ehrgeiz verbunden, meine kleinen Patienten und natürlich Alle, die den Weg zu mir finden, „klassisch-homöopathisch“ zu behandeln. Die damit verbundenen Schwierigkeiten wurden mir sehr bald bewusst. Ein Beispiel: Mein benachbarter Kollege fragte mich eines Tages: „Ja, Herr Hauptmann, was machen Sie denn mit Ihren ‚Soor- Kindern? Warum nehmen Sie denn kein Moronal? Jedesmal, wenn eine Mutter mit ihrem Baby zu mir wechselt, steige ich wie ‚Phönix aus der Asche’. Meine Antwort lautete: „In Hahnemanns ‚Chronischen Krankheiten’[1] steht, dass man Hautausschläge nicht unterdrücken darf, weil sonst in der Folgezeit schwere innere chronische Krankheiten entstehen können. Deswegen warte ich lieber, bis das Baby seine eigene Immunität zur Abwehr, also so mit 9 bis 12 Monaten selbst aufgebaut hat, denn dann verschwindet der Ausschlag von selber.“„Das verstehe ich nicht.“ war die Antwort des sympathischen Kollegen. Wir verabschiedeten uns freundlich voneinander.

Zu seiner (und auch meiner) Ehre sei gesagt, dass der freundliche Kontakt weiter bestand.

Trotz dieses oder ähnlicher Sachverhalte (z.B. keine Rezeptur von Fieberzäpfchen, seltenere Verordnung von Antibiotika, ein anderer Impfplan als üblich u.a.) ist meine Praxis schnell größer geworden, sodass das ‚Zeitproblem’ bald immer deutlicher wurde. Je nach Fülle des Wartezimmers wurde spätestens nach einer halben Stunde der ‚Doc’ freundlich darauf aufmerksam gemacht, dass der nächste Patient bereits da sei und warte.

Dieses Problem – ‚Keine Zeit’ – ist uns ja von jeder Kassenpraxis, egal aus welcher Facharztrichtung, bekannt.

Für den klassisch-homöopathischen Arzt ist dies eine besonders schwierige Angelegenheit; er empfindet es als einen ziemlichen Nachteil.

Wie kann man dieses Problem lösen?

Ich erinnerte mich an einen Vortrag über Sulfur von Martin Stübler (1915-1989 ), meinen ersten homöopathischen Lehrer, in dem er uns Anfängern den ‚Jagdhundtyp’ ZR 81 [2] plastisch darstellte:

„Da kommt ein Kind, sagen wir ein 4-jähriger Bub ins Sprechzimmer, trennt sich ganz selbstverständlich von der Mutter, begrüßt kurz seinen Doktor, schaut sich das Hörrohr an oder überprüft es, ohne daran zu reißen, springt dann in jede Ecke des Sprechzimmers, guckt in den Papierkorb, um zu sehen, was da drin ist, klappt den Mülleimer auf usw. Dabei macht der Bub der Mutter große Sorgen, weil er eine schwere asthmoide Bronchitis mit einer erheblichen Atemnot hat. „Doch das macht ihm gar nichts aus“. – Wenn Sie, liebe Kollegen, ein solches Verhalten bei einem Kind erleben, denken Sie daran: Das entspricht genau dem Verhalten eines Jagdhundes. Der schnüffelt überall herum, ohne etwas kaputt zu machen. Dann können Sie an Sulfur denken und können nach weiteren Hinweisen für diese Arznei suchen.“

Die genaue Beobachtung des Verhaltens eines Kindes, wie auch die Beachtung der sichtbaren Zeichen, führt schnell zum Finden des passenden Mittels! Das hatte ich, natürlich auch durch Lesen in weiterer homöopathischer Literatur, im Laufe der Jahre gelernt: Das kann den Zeitaufwand in einer homöopathischen Kassenpraxis deutlich vermindern.

1986 erschien ‚Kent`s Repertorium Generale’,[3] in der J. Künzli nach jahrelanger Erfahrung zum ersten Mal rote Punkte für wichtige Zeichen und Symptome einführte, um den Kollegen die Wahl der ähnlichsten Arznei zu erleichtern.

Eine große Hilfe für den homöopathischen Arzt oder Heilpraktiker, die ich aber persönlich zunächst gar nicht so beachtete. Ich steckte in der Planung meines eigenen Buches.

Kollege Kurt-Hermann Illing (*1925 – †2008) aus Kassel hatte mich zu dieser Zeit gefragt, ob ich nicht in seiner Reihe ‚Homöopathische Taschenbücher’ ein Buch über die Behandlung von Kinderkrankheiten schreiben wolle. Ich sagte zu. Bei der Bearbeitung des Buches kam mir die Idee, ein Kapitel über die „Bedeutung der Zeichen als Bestandteil der Gesamtperson“ zu verfassen. Durch die vorzügliche Beratung von Dario Spinedi bei der Gestaltung meines Buches bin ich schnell in die Denkweise von J. Künzli eingeführt worden und so zum Künzli-Schüler heran gewachsen.

Nachträglich kann man sagen, dass sich die „Künzli-Punkte“ und das „Zeichenrepertorium“ sehr gut ergänzen.

Welche Zeichen könnte aber der Homöopath an dem „Jagdhundtyp“ noch entdecken, die ihm –ohne eine langwierige Anamnese – Sulfur als das ähnlichste Mittel bestätigen würden?

Hier seien lediglich ein paar Rubriken aufgeführt, die im Repertorium zum Teil mit einem Punkt von Künzli versehen und ebenso im Zeichenrepertorium (ZR) zu finden sind:

Intensiv rote Lippen: s. Gesicht – Farbe – rot – Lippen : Sulfur [2] (ZR 33)

Offener Mund: s. Mund – Offen : Sulfur [2]

Sommersprossen im Gesicht: s. Gesicht – Sommersprossen : Sulfur [2] (ZR 35)

Sommersprossen nur auf der Nase: Phos / Sulfur [2] (ZR 30)

Ein solches Vorgehen führt in vielen Fällen, insbesondere bei Kindern zum Erfolg und erspart eine langwierige Anamnese.

So wurde aus der „Not“ in der Kassenpraxis eine „Tugend“ für die homöopathische Lehre und Praxis.

Literatur

  1. Dr. Hahnemann, S.: Die Chronischen Krankheiten, Bd. 1, Karl F.Haug Verlag, Heidelberg, 2. Nachdruck, 1979, S. 21
  2. Hauptmann, Horst: Homöopathie in der kinderärztlichen Praxis,
    Karl F. Haug Verlag, Heidelberg, 2. Auflage 1994
  3. Künzli, Jost: Kent’s Repertorium Generale, O.-Verlag GmbH, Berg am Starnberger See, 1986

„Kents Repertorium Generale“ – vierzig Jahre Erfahrung und Arbeit im Dienste der Homöopathie

Dario Spinedi

Vierzig Jahre Erfahrung und Arbeit, die Dr. Künzli im Dienste der Homöopathie geleistet hat, finden ihren Niederschlag in seinem „Repertorium Generale“.

Zu den schwarzen Punkten im „Repertorium Generale“

Wie oft reißt bei schwierigen Fällen der „Ariadnefaden“ und man schwebt im Ungewissen. Wie Leuchttürme im Meer des Zweifelns wirken die Punkte Künzlis im Repertorium. Sie bedeuten uns: „Studiere den Fall ganz genau, vergleiche mit der Materia Medica, achte auch auf die seltenen und kleingradigen Mittel, aber paß´ auf, mir – gemeint ist Künzli – haben sich diese Mittel in langjähriger Erfahrung besonders bewährt!“ Diese Punkte bedeuten keine rezeptmäßigen Indikationen, sondern ganz besondere und berechtigte Hinweise auf die Wichtigkeit und Häufigkeit, nämlich dafür, wo sich die betreffenden Mittel in der Praxis bei der Behandlung akuter und chronischer Leiden besonders bewährt haben.

Wie wohltuend ist es, auf dem eigenen Arbeitstisch ein Buch mit den therapeutischen Hinweisen eines der bedeutendsten Homöopathen unserer Zeit zu haben. Welches Geschenk!

Zu den Nachträgen im „Repertorium Generale“

Wie oft kam die Situation in der Praxis vor, daß ich der Überzeugung war: „… aber das ist doch bestimmt ein Phosphor- oder ein Sulphur-Fall!“ Man schlug im alten „Kent“ nach: Nein, Phosphor war nicht da, Sulphur war nicht da. Was für ein schönes Gefühl ist es dagegen, im neuen Repertorium nachzuschlagen, und gerade dort, wo man z.B. Phosphor oder Sulphur vermutete, diese Mittel nun auch zu finden – mit der Ziffer „16“, das bedeutet: Nachtrag Dr. Künzlis aus der „Reinen Arzneimittellehre“ bzw. aus den „Chronischen Krankheiten“ Hahnemanns.

Das letzte Beispiel dafür ereignete sich gerade gestern bei meiner Tochter:
Sie erwacht nachts um vier Uhr durch anfallsweisen, ununterbrochenen Husten und klagt über Halsschmerzen beim Husten und weint zwischendurch. Sonst zeigt sie keine weiteren Symptome. Sie ist nicht durstig, sie bleibt während des Hustenanfalls liegen, hat weder Auswurf, noch Fieber.

Das einzig auffallende ist ihre ungeheure Speichelproduktion. In kurzer Zeit hat sie fünf Papiertücher naß gemacht. Halb im Schlaf, hole ich den „Kent“ und schaue nach.
Speichelfluß während Husten, „mouth, salivation, cough“ enthält die Mittel: Ambra, Ammonium muriaticum, Arsen, Carbo vegetabilis, Cyclamen, Lachesis, Mercur, Mezereum, Spigelia, Staphysagria.

Keines dieser Mittel scheint mir besonders zu passen. Ich schlage nun im „Repertorium Generale“ nach und – siehe da: Diese Rubrik enthält jetzt noch zwei Nachträge Dr. Künzlis: Belladonna mit Ziffer „16“, und Veratrum mit Ziffer „16“!

Die Sache wird nun klarer:

  1. Speichelfluß beim Husten, „mouth, salivation, cough“;
  2. Weint vor und nach Husten, „mind, weeping, coughing“: „before“ und „after“;
  3. Trockener Husten nach Mitternacht, „cough, dry, night, midnight, after“.

Ich gebe ihr Belladonna M (Schmidt-Nagel). Verlauf: 30 Minuten später kein Husten mehr.

Dies wiederholt sich tagtäglich in meiner Praxis. Was denkt einer dabei? Welch ungeheure Arbeit, welch Zeugnis großen Fleißes. Eine Gewalttat, die auf den ersten Blick so bescheiden und unscheinbar wirkt.

Durch das mehrjährige Erleben von Dr. Künzli in Vorlesungen, in täglichen Gesprächen, in der Supervision, konnte ich mich immer wieder überzeugen von seiner Gewissenhaftigkeit, seiner Genauigkeit. In diesem Werk bildet sich nun auch der enorme Fleiß dieses Mannes auf eindrückliche Art und Weise ab. Würde jeder von uns auch nur einen Bruchteil dieser Arbeit leisten, welch großer Fortschritt wäre das für die Homöopathie! Diese Worte sollen nur meiner Dankbarkeit Dr. Künzli gegenüber Ausdruck geben.