Wie mir die Bedeutung der „Künzli-Punkte“ bewusst wurde.
von Horst Hauptmann
1969 habe ich mich als Kinderarzt in einer Kassenpraxis in Augsburg niedergelassen, von Anfang an mit dem Ehrgeiz verbunden, meine kleinen Patienten und natürlich Alle, die den Weg zu mir finden, „klassisch-homöopathisch“ zu behandeln. Die damit verbundenen Schwierigkeiten wurden mir sehr bald bewusst. Ein Beispiel: Mein benachbarter Kollege fragte mich eines Tages: „Ja, Herr Hauptmann, was machen Sie denn mit Ihren ‚Soor- Kindern? Warum nehmen Sie denn kein Moronal? Jedesmal, wenn eine Mutter mit ihrem Baby zu mir wechselt, steige ich wie ‚Phönix aus der Asche’. Meine Antwort lautete: „In Hahnemanns ‚Chronischen Krankheiten’[1] steht, dass man Hautausschläge nicht unterdrücken darf, weil sonst in der Folgezeit schwere innere chronische Krankheiten entstehen können. Deswegen warte ich lieber, bis das Baby seine eigene Immunität zur Abwehr, also so mit 9 bis 12 Monaten selbst aufgebaut hat, denn dann verschwindet der Ausschlag von selber.“ – „Das verstehe ich nicht.“ war die Antwort des sympathischen Kollegen. Wir verabschiedeten uns freundlich voneinander.
Zu seiner (und auch meiner) Ehre sei gesagt, dass der freundliche Kontakt weiter bestand.
Trotz dieses oder ähnlicher Sachverhalte (z.B. keine Rezeptur von Fieberzäpfchen, seltenere Verordnung von Antibiotika, ein anderer Impfplan als üblich u.a.) ist meine Praxis schnell größer geworden, sodass das ‚Zeitproblem’ bald immer deutlicher wurde. Je nach Fülle des Wartezimmers wurde spätestens nach einer halben Stunde der ‚Doc’ freundlich darauf aufmerksam gemacht, dass der nächste Patient bereits da sei und warte.
Dieses Problem – ‚Keine Zeit’ – ist uns ja von jeder Kassenpraxis, egal aus welcher Facharztrichtung, bekannt.
Für den klassisch-homöopathischen Arzt ist dies eine besonders schwierige Angelegenheit; er empfindet es als einen ziemlichen Nachteil.
Wie kann man dieses Problem lösen?
Ich erinnerte mich an einen Vortrag über Sulfur von Martin Stübler (1915-1989 ), meinen ersten homöopathischen Lehrer, in dem er uns Anfängern den ‚Jagdhundtyp’ ZR 81 [2] plastisch darstellte:
„Da kommt ein Kind, sagen wir ein 4-jähriger Bub ins Sprechzimmer, trennt sich ganz selbstverständlich von der Mutter, begrüßt kurz seinen Doktor, schaut sich das Hörrohr an oder überprüft es, ohne daran zu reißen, springt dann in jede Ecke des Sprechzimmers, guckt in den Papierkorb, um zu sehen, was da drin ist, klappt den Mülleimer auf usw. Dabei macht der Bub der Mutter große Sorgen, weil er eine schwere asthmoide Bronchitis mit einer erheblichen Atemnot hat. „Doch das macht ihm gar nichts aus“. – Wenn Sie, liebe Kollegen, ein solches Verhalten bei einem Kind erleben, denken Sie daran: Das entspricht genau dem Verhalten eines Jagdhundes. Der schnüffelt überall herum, ohne etwas kaputt zu machen. Dann können Sie an Sulfur denken und können nach weiteren Hinweisen für diese Arznei suchen.“
Die genaue Beobachtung des Verhaltens eines Kindes, wie auch die Beachtung der sichtbaren Zeichen, führt schnell zum Finden des passenden Mittels! Das hatte ich, natürlich auch durch Lesen in weiterer homöopathischer Literatur, im Laufe der Jahre gelernt: Das kann den Zeitaufwand in einer homöopathischen Kassenpraxis deutlich vermindern.
1986 erschien ‚Kent`s Repertorium Generale’,[3] in der J. Künzli nach jahrelanger Erfahrung zum ersten Mal rote Punkte für wichtige Zeichen und Symptome einführte, um den Kollegen die Wahl der ähnlichsten Arznei zu erleichtern.
Eine große Hilfe für den homöopathischen Arzt oder Heilpraktiker, die ich aber persönlich zunächst gar nicht so beachtete. Ich steckte in der Planung meines eigenen Buches.
Kollege Kurt-Hermann Illing (*1925 – †2008) aus Kassel hatte mich zu dieser Zeit gefragt, ob ich nicht in seiner Reihe ‚Homöopathische Taschenbücher’ ein Buch über die Behandlung von Kinderkrankheiten schreiben wolle. Ich sagte zu. Bei der Bearbeitung des Buches kam mir die Idee, ein Kapitel über die „Bedeutung der Zeichen als Bestandteil der Gesamtperson“ zu verfassen. Durch die vorzügliche Beratung von Dario Spinedi bei der Gestaltung meines Buches bin ich schnell in die Denkweise von J. Künzli eingeführt worden und so zum Künzli-Schüler heran gewachsen.
Nachträglich kann man sagen, dass sich die „Künzli-Punkte“ und das „Zeichenrepertorium“ sehr gut ergänzen.
Welche Zeichen könnte aber der Homöopath an dem „Jagdhundtyp“ noch entdecken, die ihm –ohne eine langwierige Anamnese – Sulfur als das ähnlichste Mittel bestätigen würden?
Hier seien lediglich ein paar Rubriken aufgeführt, die im Repertorium zum Teil mit einem Punkt von Künzli versehen und ebenso im Zeichenrepertorium (ZR) zu finden sind:
Intensiv rote Lippen: s. Gesicht – Farbe – rot – Lippen : Sulfur [2] (ZR 33)
Offener Mund: s. Mund – Offen : Sulfur [2]
Sommersprossen im Gesicht: s. Gesicht – Sommersprossen : Sulfur [2] (ZR 35)
Sommersprossen nur auf der Nase: Phos / Sulfur [2] (ZR 30)
Ein solches Vorgehen führt in vielen Fällen, insbesondere bei Kindern zum Erfolg und erspart eine langwierige Anamnese.
So wurde aus der „Not“ in der Kassenpraxis eine „Tugend“ für die homöopathische Lehre und Praxis.
Literatur
- Dr. Hahnemann, S.: Die Chronischen Krankheiten, Bd. 1, Karl F.Haug Verlag, Heidelberg, 2. Nachdruck, 1979, S. 21
- Hauptmann, Horst: Homöopathie in der kinderärztlichen Praxis,
Karl F. Haug Verlag, Heidelberg, 2. Auflage 1994
- Künzli, Jost: Kent’s Repertorium Generale, O.-Verlag GmbH, Berg am Starnberger See, 1986