Pierre Schmidt

Autobiographie

von Dr. Pierre Schmidt

(Ich nehme an, dass es mein Schatten ist, oder vielleicht meine Manen, die dies hier einmal lesen werden, wenn ich längst nicht mehr auf dieser Erde sein werde. Auf diese Weise werdet ihr von dem, der Euch seit so langem unterrichtet, wissen, woher er kommt und was er war.)Ich werde am 22. Juli 1894 in einer Hütte in den Bergen in Chaument bei Neuchâtel (Schweiz) geboren, kurioserweise zufällig im Landhaus meiner zukünftigen Schwiegereltern. Meine Eltern sind Schweizer, jedoch mit Vorfahren väterlicherseits aus einer Kaufmannsfamilie aus Württemberg und mütterlicherseits aus einer französischen, protestantischen Flüchtlingsfamilie aufgrund des Edikts von Nantes. Ich bin der erste Sohn dieser Familie mit sechs Kindern und verbringe meine Volks- und Gymnasialschulzeit in Neuchâtel.

Sehr früh interessiere ich mich insbesondere für Naturwissenschaften wie Mathematik und Chemie, Fächer , die mich begeistern und in denen ich die Chance habe mich auszuzeichnen. Ich richte mir ein kleines Labor ein und führe zahlreiche und manchmal sogar gefährliche Versuche durch. Ich destilliere ein chlorhaltiges Derivat, um Chlor zu gewinnen, und ein grünliches hochgiftiges Gas tritt aus, welches mir Atemnot und Blutspucken bereitet. Und später , beim Experimentieren mit explosiven Stoffen, vermische ich in einem Reagenzglas Kaliumchlorat, Schwefel und Kohle, um Schießpulver zu erzeugen. Es explodiert und Glassplitter fliegen mir in die Augen. Ich muss dringend zu einem Augenarzt, der mir diese aus der Hornhaut entfernt, aber nicht mit einer Pinzette, wie ich glaubte, sondern mit einer kleinen, sehr spitzen Lanzette, was mich außerordentlich interessiert, mich jedoch dazu nötigt mein Auge mehrere Tage verbunden zu lassen und außerdem die Schließung meines geliebten Labors durch den ausdrücklichen und unwiderruflichen väterlichen Beschluss zur Folge hat. Zur gleichen Zeit strebe ich die Musik an, wie das Studium der Kallisthenie, des Tanzes, der Violine und des Gesangs. Mein Vater, ein Offizier in der Armee, lässt mir Reitunterricht geben, im Voltigieren, nur mit einer einfachen Decke auf dem Pferd, ohne Sattel oder Steigbügel, außerdem im Boxen und im Jiu-Jitsu, damit ich mich unter jeglichen Umständen selber verteidigen kann; Sportarten, die sich im späteren Berufsleben als sehr brauchbar erweisen.

Um die Richtigkeit der Ideen meines Vaters zu zeigen, greife ich hier ein wenig voraus, denn ich fand mich in mehreren Situationen mit Geisteskranken wieder, die mich bedrohten und mir nach dem Leben trachten wollten, und in einigen anderen ziemlich seltsamen Situationen, wo sich dieser Unterricht als einer der Nützlichsten erwies. Eines Morgens bekam ein junger Schizophrener, um die zwanzig Jahre, plötzlich eine Panikattacke und versuchte , in dem Moment , als ihm von einem Helfer sein Frühstück gebracht wurde, auf seinen Pfleger zu stürzen. Die beiden Männer versuchten ihn zu bändigen, doch er wehrte sich mit vollen Kräften, um sich prügelnd, schlagend und gestikulierend. Schließlich hatten sie die Idee, ihn in sein Badezimmer zu schubsen, das sehr schmal war und auf dessen Boden sich das WC befand. Der Radau war so groß, dass der Direktor plötzlich auftauchte und mich anrief, dringend zu kommen. Als ich ankam, sah ich die drei, wie sie am Badezimmerboden rangen, so dass man nicht mehr unterscheiden konnte , welches Bein und welcher Arm zu wem gehörte und wer angriff und wer sich verteidigte, so sehr waren sie ineinander verschlungen. Ich bekam glücklicherweise den Arm des jungen Kranken zu fassen und drehte diesen heftig hinter seinen Rücken, indem ich seine Hand kräftig in Richtung Handgelenk drückte. Er schrie kurz auf und war dann wie gelähmt vor Schmerz. Ich bat die beiden Helfer, aus dem Weg zu gehen und befahl dem Kranken, mit dem Rücken zu mir aufzustehen. Seinen Arm hielt ich immer noch hinter seinem Rücken, allein durch den starken Druck meiner rechten Hand, die sein verbogenes Handgelenk festhielt. Er versuchte mit dem Fuß nach mir zu treten, aber ein Schmerzensschrei ließ ihn zurückfahren, da der Druck auf sein Handgelenk dadurch noch einschneidender geworden war. Ich befahl ihm ruhig eine Runde im Zimmer zu gehen, wobei ich ihm direkt folgte. Nach zwei Runden teilte ich ihm mit, dass ich bei der kleinsten Bewegung noch fester zudrücken würde. Ich erklärte ihm, wie unerlässlich es sei, dass er seinem Pfleger gehorche und dass er sich ihm gegenüber von nun an tadellos zu verhalten habe. Ich ließ seine Hand los und verabreichte ihm Stramonium C10.000(XM); es kam keine Widerrede, stattdessen versprach er mir, wie ein verprügelter Hund, nicht mehr damit anzufangen. Das war das Ende dieses Tumultes und die Erinnerungen dessen, was wir erlitten hatten, sowie die wohltätige Wirkung des Medikaments waren überzeugend.

Ein anderes Mal wurde ich in ein katholisches Institut gerufen, wo ein fünfzehnjähriges Mädchen einen hysterischen und manischen Anfall hatte, so dass die Schwestern sie in ein Bett legen mussten, wo sie mit Riemen festgebunden wurde und sich vier Schwestern auf sie setzten und ihre Arme und Beine festhielten. Als ich ankam, brüllte sie und wehrte sich , und sie schafften es kaum noch, sie festzuhalten. Ich bat eine fünfte Schwester , ihr die Schuhe auszuziehen und packte den ersten rechten Zehen und verbog ihn heftig. Sie stieß einen grellen Schrei aus; schließlich lockerte ich den Griff und bat die Schwestern sie loszubinden und in Ruhe zu lassen. Die kleine Patientin war von da an ruhig , und bei der kleinsten Bewegung oder dem kleinsten Schrei drückte ich wieder ein bisschen mehr auf ihren Zehen, wodurch sie verstand, dass ich so lange dableiben würde, bis sie aufhörte sich zu bewegen. Der Schmerz wirkte wahrlich Wunder und nach einigen Minuten bat ich sie sich aufzusetzen und gab ihr wegen des Wutanfalles und der hysterischen Spinnerei, wodurch sich ihre Kräfte verdoppelt hatten, Belladonna C10.000(XM). Das war der letzte ihrer Anfälle.

So gut war das Resultat des nützlichen Unterrichts, den ich dank des väterlichen Einflusses in meiner Jugend erfahren habe.

Sehr jung, nachdem ich einige Zeit zur Chemie tendierte, entscheide ich mich dazu, Arzt zu werden. Schon mit zehn Jahren macht es mir Spaß, mit einem gebogenen Eisendraht die Münder meiner jüngeren Brüder und Schwestern zu erforschen und die Strapazierfähigkeit ihrer Zähne auszutesten. Mit vierzehn Jahren nimmt meine Karriere Gestalt an, als mich mein Onkel, der selber Arzt ist, fragt, ob ich lieber Arzt oder Chirurg werden will. Von dieser Frage überrascht, zögere ich erst. Also schlägt er vor, einen Eignungstest zu machen. Ich muss mit einem großen Küchenmesser eine gerade Linie in ein weiches Holzbrett ritzen. Meine junge Hand schwankt, und es wird eher eine Wellenlinie. „Da die Linie nicht gerade ist, beweist dieser Test zweifelsfrei und unmissverständlich, dass man von einer Karriere als Chirurg abkommen muss und du Arzt werden musst.“ Damals fange ich an zu verstehen, welche Schwierigkeiten diese Aufgabe, die mich erwartet, mit sich bringt. Ich, der ich im Land der Uhren lebe, muss die Fähigkeit besitzen, einen menschlichen Körper zu reparieren, fast so wie eine Uhr, aber ohne sie öffnen zu können, alleine durch das scharfsinnige Beobachten, die Intuition und Schlussfolgerungen.

Beim Abschlussexamen der Volksschule, um ins Gymnasium aufgenommen zu werden, fürchtete ich mich am allermeisten vor Geschichte; ich konnte mir das alles nie merken. Es hing mir wirklich zum Hals, raus und mein Lehrer hatte sich zum wiederholten Male bei meinem Vater beschwert, welcher mir daraufhin in einem energischem Ton mitteilte, dass er mich Schuster werden ließe, falls ich durch diese Prüfung fiele. Sie können sich vorstellen, was das für eine Schande für mich war! Diese Drohung ließ mich nicht mehr los, da ich doch in allen anderen Fächern ein exzellenter Schüler war. Ich war einfach unfähig, mir all diese Geschichtsdaten, vor allem die Schlacht von St. Jacques an der Birs im Jahre 1444 und die Gründung unseres Staatenbundes im Jahre 1291, einzuprägen. Da mich aber Napoleon interessierte, beschloss ich eine einzige Frage gründlich zu lernen, nämlich die über Napoleon im Jahre 1802! Wie groß war mein Erstaunen, als der gefürchtete Lehrer in meiner mündlichen Prüfung genau diese Frage über Napoleon im Jahre 1802 auswählte! Ich war so hervorragend, dass mein Lehrer, anstatt mich zu beglückwünschen, wütend wurde und behauptete, ich hätte ihn das ganze Jahr über zum Narren gehalten, indem ich ihn glauben ließe, dass ich rein gar nichts über Geschichte wisse, was auch die jämmerlichen Noten in meinem Heft bestätigten. Die Überraschung für meinen Lehrer, sowie für meinen Vater, war riesig aber vor allem … für mich selbst natürlich!

Mit siebzehn verlasse ich mit meiner gesamten Familie meine Geburtsstadt, und wir lassen uns in Genf nieder. Diese Stadt war das erste intellektuelle Zentrum in der Schweiz. Hier verbringe ich den Rest meiner Schulzeit und gebe sogar meinen eigenen Kameraden Nachhilfe in Mathematik, Chemie und Stenographie. Ich erhalte mein “baccalauréat”, dann das erste Examen an der Universität, und schließlich mit 26 Jahren lege ich glänzend die 26 Prüfungen der Medizin ab. Beim Abschlussexamen sind ein Kamerad und ich von 40 Studenten die besten.

Ab 1911 werde ich zusammen mit Monsieur Blondel eines der Gründungsmitglieder der Pfadfinderbewegung in der Schweiz, eine Sache, die mich noch heute beschäftigt. Die äußere wie innere Disziplin, die von dieser Organisation, der ich ein vorbildhafter Leiter sein will, gefordert wird, übt einen starken Einfluss auf mich aus. Die Pfadfinderregeln zeichnen mich von da an auf meinem Berufsweg sowie in meinem ganzen übrigen Leben wie mit einem Brandeisen.

Hier die Pfadfinderregeln, die stets mein idealer Beschützer waren:

  • Ein Pfadfinder hält sein Wort
  • Ein Pfadfinder ist ehrenhaft und treu
  • Ein Pfadfinder macht sich immer nützlich und hilft seinem Nächsten
  • Ein Pfadfinder ist ein guter Sohn, er ist der Freund eines jeden und der Bruder aller Pfadfinder
  • Ein Pfadfinder ist höflich und ritterlich
  • Ein Pfadfinder ist ein Tierfreund und beschützt die Pflanzen
  • Ein Pfadfinder kann gehorchen
  • Ein Pfadfinder ist tapfer und lächelt in schwierigen Situationen
  • Ein Pfadfinder arbeitet gerne und wirtschaftlich
  • Ein Pfadfinder hat seine eigenen Gedanken, Worte und Handlungen
  • Ein Pfadfinder bemüht sich diese Regeln in allen Situationen einzuhalten

Mein Vater, der seit seiner Jugend an einer chronischen Dünndarmentzündung litt, war erfolgreich von Dr. Ubert aus Neuchâtel, einem strikten Hahnemann-Jünger, der grundsätzlich nur 30er Potenzen C.H. anwandte, behandelt worden. Bei jeder Visite wiederholte er aufs neue, dass die zwei ältesten Söhne Pierre und Roger Homöopathen werden müssten. Und er überreichte uns „die Kleine Lehre der Homöopathie“ von Dewey auf Deutsch und das „Organon“ von Hahnemann. Diese Lektüren begeisterten mich, ich habe diese Werke buchstäblich verschlungen. Vom Studium der Sprachen angezogen, lerne ich Latein, Deutsch, Englisch, Italienisch und Sanskrit.

Während meines Studiums, als junger Student, behandle ich meine Familie, meine Angehörigen, meine Kameraden und sogar Tiere mit kleinen homöopathischen Kügelchen und das sogar mit beachtlichem Erfolg.

Als ich mich einmal in unserem Landhaus, neben einem großen Bauernhof im Berner Jura aufhalte, werde ich eines Sommerabends von unserem Bauern zu ihrem Großvater, einem ehrwürdigen Mann von 80 Jahren, mit einem schönen weißen Backenbart, gerufen. Er war seit einem Tag, mit 39,9° Fieber, bettlägerig und hatte sehr großen Durst, wobei er mindestens immer ein ganzes Glas möglichst kaltes Wasser auf einmal trinken wollte. Bei meiner Ankunft fallen mir seine linke gerötete Backe und seine entzündeten Augen auf, und gleich teilt er mir mit: „Es ist der Mühe nicht wert, mir noch Medikamente zu geben, Herr Doktor, da ich seit gestern, als ich zu Bett gegangen bin, eine Vorahnung habe; ich habe keine Angst und bin bereit, denn ich fühle, dass morgen um 9 Uhr meine letzte Stunde schlagen wird.“

In der Zwischenzeit befragte ich ihn, und er bestätigte mir, dass er einen gewissen Schmerz in seiner linken Lungenhälfte verspürte, der ihn daran hinderte sich auf die linke oder rechte Seite zu legen, nur ausgestreckt auf dem Rücken liegend sei es angenehm für ihn. Von Zeit zu Zeit hüstelte er trocken, er hatte schon einige Male blutigen Schleim ausgespuckt. Das Abhören deckte einen Entzündungsherd in der linken Lungenhälfte auf, wodurch ich zweifelsfrei eine Lungenentzündung im linken Lungenflügel diagnostizierte.

Ich war Anfänger in der Homöopathie, dennoch wusste ich, dass es, trotz des dafür typischen Dursts, nicht Arsenicum sein konnte, da dieses Medikament nicht „die Stunde seines Todes voraussagte“. Nichtsdestotrotz verschrieb ich ihm, nach meinem damaligen Wissen, Aconit C200 und Belladonna C200 im Wechsel; drei Kügelchen von jedem in ein Glas mit Wasser, und davon sollte er jede Stunde abwechselnd einen Teelöffel voll einnehmen.

Am folgenden Tag war ich Punkt 9 Uhr an seinem Krankenbett. Er saß aufrecht, sah erholt aus, sehr zufrieden und sagte mir: „Ich habe mich wohl geirrt. Es war noch nicht Zeit für die große Reise, da ich eine wunderbare Nacht ohne Durst verbracht und auch fast nicht mehr gehustet habe.“ Innerhalb von 48 Stunden war das Fieber verschwunden und die Lungenentzündung war geheilt. Und der Alte hat noch acht Jahre lang gelebt. Er ist auch nicht an einer Krankheit gestorben, sondern an einem Unfall, bei dem er sich eine komplizierte Hüftfraktur zuzog.

Heute bin ich mir darüber im klaren, dass dieses abwechselnde Einnehmen falsch war, denn Belladonna war nicht das richtige Mittel. Nur Aconit sprach hervorragend auf alle Symptome an und hätte vollkommen ausgereicht.

Diese Bauernfamilie hatte auch noch einen kleinen Hund, der ihrer Meinung nach einen Wurm im Kopf hatte, da er von Zeit zu Zeit von einem Schwindelanfall ergriffen wurde, so dass er sich ohne Halt rechtsherum drehte und schließlich wie erschöpft zu Boden fiel. Durch Aconit wurde auch er vollständig geheilt.

So behandle ich auch während der schweren Grippeepidemie von 1918 mit großem Erfolg, und zwar ausschließlich mit Influenzium Hispanicum von Nebel in der C200er Potenz, ohne einen einzigen Patienten zu verlieren, wohingegen in anderen Gegenden ziemlich viele Kranke sterben.

In den letzten Tagen meines Medizinstudiums werde ich gerufen, um einen zehn Jahre alten Jungen, den Sohn meines Fahrradhändlers, der an einer schweren Angina erkrankt war, zu behandeln. Der entzündete Geruch seines Atems, die stark entzündeten, weißlichen Mandeln, die mit übelriechenden membranösen Belegen bedeckt sind, die sich fast auf den ganzen Rachenraum ausbreiten, und welche ihm bis hin zu den Ohren starke Schmerzen bereiten, das hohe Fieber, der graue Belag auf der Zunge, und der starke Speichelfluss deuten auf eine Diphtherie und unmissverständlich auf Mercurius cyanatus hin, ein Mittel, das von Dr. Beck aus Montreux entdeckt wurde. Diese Umstände bringen mich in ein ernstes Dilemma: Im Verlauf meines Studiums habe ich Diphtherie nie selbst gesehen, aber ich erinnere mich genau an den Ratschlag meines Professors der Pädiatrie aus Espine: „Spritzen Sie Serum und zwar soviel wie möglich.“ Meine homöopathischen Lektüren und die Ergebnisse, die ich damit schon erhalten habe, geben mir Selbstsicherheit und Beweise, die mir die Schulmedizin nie geboten hat. Es ist eine Gewissensfrage, die mir noch nie so heftig begegnet ist, ob es besser ist, eine klassische allopathische Behandlung anzuwenden, oder die Homöopathie zu wagen, wobei ich weder das eine noch das andere in Anwendung bei dieser Krankheit gesehen hatte. Auch wenn es von meinen Professoren sehr verschrien war, entscheide ich mich nach einigem Zögern, die Homöopathie auf den Prüfstand zu stellen und diese Heilmethode zu wagen. Ich stelle mich einer großen Verantwortung, aber meiner Meinung nach ist es eine Möglichkeit, eine Heilmethode, die mir als richtig erscheint, zu bestätigen, um sie eventuell noch tiefgründiger zu erlernen, und sie dann zu übernehmen, falls sie sich in einem derartigem Fall als tauglich erweist. Einen Abstrich der Beläge schicke ich sofort an das Institut für Hygiene.

Ich besorge mir also 50 Milligramm Quecksilbercyanat in einer Apotheke (glauben Sie mir, ich war sehr stolz darauf, denn als zukünftiger Arzt hatte ich das Recht, Rezepte, sogar für ein derartiges Gift, zu verschreiben). Der Apotheker sieht mich natürlich schräg an, als ich mit dieser Verschreibung von 50 Milligramm Quecksilbercyanat ankomme, und fragt mich, was ich damit machen wolle. Als ich ihm erkläre, dass ich es verdünne und es in unendlich kleiner Dosis einem Kranken verabreiche, erklärt er sich einverstanden. Ich mache die drei klassischen Triturationen (Verreibungen), nach den pharmazeutischen Regeln der Homöopathie, von der jede eine Stunde dauert: Dann verdünne ich 50 Milligramm dieser dritten centesimalen Trituration mit 500 Tropfen Wasser und Alkohol. Aber nach acht Stunden Arbeit höre ich bei der 9. centesimalen Potenz auf, da ich erschöpft bin und Angst habe, das Mittel schon zu sehr verdünnt zu haben. In flüssiger Form verabreiche ich dem Kind alle zwei Stunden sechs Tropfen, wobei ich ganz schön zittere. Wie groß ist meine Überraschung, als ich sehe, wie das Fieber rasch sinkt, die Beläge verschwinden wie Schnee in der Sonne und der Schmerz im Hals nachlässt. Nach 48 Stunden ist das Kind wie verwandelt. In diesem Moment kommt die Nachricht aus dem Labor und verkündet: „Kurze Löfflerbazillen in Verbindung mit Streptokokken.“ Nun werden aber kurze Bazillen als viel giftiger betrachtet als mittlere oder lange, und hinzu kommt noch die gefährliche und gefürchtete Kombination mit dem Streptokokkus. Es handelte sich hier also um eine besonders schwere Form von Diphtherie. Eine zweite Probe zwei Tage später ist negativ, und das Institut, das an ein so schnelles Verschwinden der Krankheit nicht glauben kann und glaubt, einen schlechten Test gemacht zu haben, schickt einen Arzt zur Kontrolle: Auch hier erweist sich der Test wieder als negativ!

Diese Erfahrung und diese spektakuläre Heilung sind entscheidend für mein Leben, und von diesem Tag an brenne ich darauf, meine Kenntnisse über diese Heilmethode, die sich nach objektiver Kontrolle als unbestreitbar erwiesen hat, und die durch eine unendlich kleine Dosis eine infektiöse und sehr ernste Krankheit heilen kann, zu vertiefen.

Gewöhnlicherweise kaufte ich meine Butter und meinen Käse in einem Geschäft, dessen verwitwete Verkäuferin einen Sohn hatte, der gerade in meine Pfadfindergruppe eingetreten war. Sie war eine autoritäre Frau, sehr energiegeladen und hatte einen eisernen Willen, und dank ihrer persönlichen Fähigkeiten und ihres hartnäckigen Arbeitens hatte ihr Geschäft einen guten Ruf.

Bei einem meiner Einkäufe erwähnte ich, dass ich gerade mein Abschlussexamen der Medizin bestanden habe. Sie bat mich daraufhin, ihr in das Hinterzimmer des Ladens zu folgen. Ich wunderte mich, sie ohne das geringste Hinken gehen zu sehen, wie jeden anderen, da ich sie bisher immer nur humpelnd erlebt hatte. Dann erzählte sie mir ausführlich über eine halbe Stunde lang die Geschichte der wunderbaren Heilung ihrer chronischen, rheumatischen Arthritis in ihrem rechten Knie. Diese hatte sich seit einigen Jahren zunehmend verschlechtert und ihr trotz aller möglichen Behandlungen und zahlreicher Untersuchungen durch Spezialisten, sogar durch Professoren unserer Universität, stetig Schmerzen bereitet . Sie veranschaulichte ihren Vortrag noch, indem sie mir ihre Röntgenbilder zeigte. Diese chronische Arthritis hatte sie dazu genötigt zu humpeln und ihr die häufigen Abstiege in den feuchten und kalten Keller, wo der Käse und die Milchprodukte lagerten, erschwert und schmerzhaft gemacht.

Der eklatante Misserfolg und die Nutzlosigkeit der Medizin, sowie eine religiöse Erfahrung bringen sie dazu, christliche Lehren zu praktizieren; dank ihres Glaubens schafft sie es, die volle Belastbarkeit ihres Knies wiederzuerlangen, obwohl es offensichtlich von einer krankhaften Schädigung befallen ist. Ein aktuelles Röntgenbild zeigt genau den selben Zustand wie vor ihrer Heilung, und trotzdem läuft sie ohne Schmerzen und ohne zu hinken. „Sie müssen unbedingt das Buch von Miss Eddy lesen, welches ich Ihnen gerne leihe, denn das wird Ihnen ermöglichen, über die Grenzen der Medizin hinauszugehen.“ Nun hatte ich mir aber gerade das „Organon“ von Hahnemann angeschafft, das Basisbuch der Homöopathielehre, und beschlossen, die beiden Bücher, die der sogenannten klassischen Medizin unbekannt sind, mit Aufmerksamkeit und Unvoreingenommenheit zu lesen und auf diese Weise eine rechtschaffene, intellektuelle Tat zu vollbringen.

Ich bin etwas durcheinander durch die zwei Lektüren, die so unterschiedlich und völlig anders sind, im Vergleich zu all dem, was ich bisher in meinen sechs Studienjahren gelernt und verinnerlicht hatte, in Genf, in Basel und in Frankreich. Die berühmten Professoren, die uns unterrichtet und uns eine unglaubliche Masse von Wissen wie dogmatische Wahrheiten eingetrichtert hatten, haben uns nie zu geringsten Kritikäußerungen ermutigt. Und hier stehe ich mit zwei handfesten Genesungen, der Diphtherie und der chronischen Arthritis, die beide durch alternative Methoden, die von unseren Meistern verschrien sind, und von denen sie jedes Mal in einem ironischen und verachtenden Ton sprechen, erzielt wurden. Schon bald ist mir der Vergleich der beiden Lehren, die beide so neu für mich sind, klar. Die eine ist rational, basiert auf Erfahrungen und Tatsachen und gipfelt in einem unveränderlichen therapeutischen Gesetz. Meinem Studium nach erscheint es paradox, aber dieses Gesetz hat sich seit fast 200 Jahren als konstant und treu erwiesen. Alle anderen therapeutischen Heilmethoden seit dem Mittelalter haben sich, wie man sagt, „entwickelt“, das heißt eine neue hat eine alte ersetzt, die schnell aus der Mode gekommen oder überholt war. Sie basieren auf Theorien, die sich ständig verändern, und Erfahrungen mit Tierversuchen, wobei Tiere so anders sind in ihrem Denken und Leiden als das menschliche Wesen. So steht auf der einen Seite die Homöopathie als einzige Lehre, die seit dem Mittelalter fortbesteht, und auf er anderen Seite die christliche Lehre, die einen blinden Glauben an die Verdrängung des Schmerzes und jeglicher Äußerungen der Krankheit fordert.

Nun sind mir aber gerade ein Fall einer chronischen, eitrigen Ohrenentzündung und zwei Fälle von grauem Star begegnet, die alle drei Anhänger der christlichen Lehre waren und denen man, angesichts des Fortbestehens und der Ausbreitung ihrer Krankheiten, vorwarf, nicht gläubig genug zu sein! Was für ein einfaches Argument, bei ihrer aussichtslosen Lage! Sogar Miss Eddy, die Gründerin dieser Bewegung, musste vor ihrem Tod Morphium zu sich nehmen, um die Schmerzen zu lindern, die trotz ihres Glaubens tatsächlich existierten. Aber das, was mich in ihrem Buch gewundert hat, ist, dass ihrer Meinung nach, wenn ein Medikament unbedingt notwendig ist, nur die homöopathische Therapie erlaubt sei. Und sie bringt sogar selber einen interessanten Fall, der mit Natrum muriaticum , dem dynamisiertem Salz, geheilt wurde.

Ich entscheide diese Vergleichsstudie, ohne den geringsten Zweifel, zugunsten der Homöopathie. Ich fange an das „Organon“ und die „chronischen Krankheiten“ von Hahnemann nochmals gründlich zu lesen und notiere hundert Fragen auf einem Papier. Dann entschließe ich mich dazu, eine Art Pilgerfahrt durch die großen Städte der Schweiz, wo Homöopathen tätig sind, zu machen: Nach Genf, Lausanne, Bern, Neuchâtel, Basel und nach St. Gallen. Da es nur an die zwanzig sind, ist dies auch nicht allzu schwer. Ich werde überall sehr kollegial empfangen, und sie nehmen sich die nötige Zeit für meine Fragen. Ich stelle jedem Einzelnen die hundert Fragen und werde von den logischen und weisen Antworten, die ich erhalte, überrascht. Es ist damals, als Dr. Mende aus Zürich fest darauf besteht, dass ich nach Amerika gehe und dabei auch in London vorbeikomme, wo ich die berühmten englischen Homöopathen, Dr. John Henry Clarke (Autor des berühmten Lexikons der Materia Medica) und Dr. John Weir, einen der Ärzte der englischen Königin und des Königshauses kennenlerne.

Eine erste Reise nach Paris ist eher entmutigend. Ich treffe die Doktoren Mondain, Chiron, Le Tellier, Teissier, Cartier, Léon Vannier…usw…., aber alle diese Homöopathie-Kollegen sind gestresst und finden keine Zeit, mir ein oder zwei Abende zu schenken, um mit mir über die Homöopathie zu sprechen. Ich erinnere mich noch gut an einen dieser Besuche, als mir Dr. Chiron sagte: „Hören Sie, wir haben gerade Zeit, ein kleines Glas Bier trinken zu gehen und über die Homöopathie zu reden; ich habe gerade einige Minuten Zeit.“ Dr. Vannier sagt mir, als er ankommt: „Monsieur, ich widme Ihnen eine halbe Stunde, das ist das Maximum!“ Die dreißig Minuten wurden dann, angesichts meines großen Interesses für seinen Bericht, doch eine ganze Stunde, er riet mir jedoch davon ab, nach Übersee zu gehen, da er mir doch, wie er bekräftigte, all das Wissen, das ich benötigte, auch hier in Paris beibringen könne. Er stellte mir alle Sequenzen und Verwandtschaftsverhältnisse der Medikamente durch eindrucksvolle Schemen detailliert dar. Aber unsere Unterhaltung wurde rasch beendet, als ich ihm erklärte, dass ich das alles schon seit langem wüsste, da ich es sozusagen bei der Quelle, bei Dr. Nebel aus Lausanne, gelernt hatte!

Indessen besuche ich all die Kollegen, die ich weiter oben genannt habe, und erlebe die Blitzuntersuchungen im Allgemeinen Homöopathischen Krankenhaus mit. Ich besuche natürlich auch das Hahnemann Krankenhaus und das St. Jacques Krankenhaus und bin erschreckt darüber, wie wenig Zeit jedem Patienten gewidmet wird, über die zahlreichen Medikamente, die fast ohne Anamnese verschrieben werden, und zu denen sie zusätzlich noch Blutverdünner (Ausleitungsverfahren)(etwas was das Blut gerinnen lässt und Gerinnsel an Stellen lenkt, wo sie aufgelöst werden) verabreichen. Ihre Art und Weise die Homöopathie anzuwenden, scheint völlig von Hahnemanns Lehren, die ich gerade gelesen habe, abzuweichen. ( Ich erinnere mich, wie Dr. Mondain meinen rechten Arm ergreift, ihn zur Seite biegt und sagt: „Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf, Sie sind Calcarea phosphorica, Sie brauchen kein anderes Mittel“ Es hat sich später herausgestellt, dass dies tatsächlich mein Basismittel ist, aber ich fand die Methode doch etwas zu schnell und zu vereinfacht , um mit Gewissheit ein Medikament zu verschreiben!…) Das war aufs Neue eine dieser „Minuten-Diagnosen“, die von Nebel angeführt wurden, um zwischen den drei Calcareas , -carbonica , – phosphorica , und -fluorica zu unterscheiden!

Für diese Reise in die englischsprachigen Länder habe ich klugerweise beschlossen, zusätzlich zu den Kenntnissen aus meinem Englischunterricht noch zehn Tage intensiver Vorbereitung auf diese Sprache in der Berlitz School, wo nur Englisch gesprochen wird, hinzuzufügen, was sich als sehr nützlich erwies. Doch mein Akzent und das Verstehen dieser Sprache bereiten mir in den ersten Tagen einige Schwierigkeiten.

Ich reise also nach England und treffe dort die Doktoren Clarke, Weir und eine ganze Schar von ausgezeichneten Homöopathen wie die Doktoren Rorke, Borland, Wheeler, Ferge Woods, Margaret Tyler und Neatby, die einen starken Eindruck auf mich machen. Zwei Wochen lang erlebe ich täglich die Sprechstunden im Königlichen Krankenhaus auf den verschiedenen Stationen mit und bewundere die intelligente und sorgfältige Art und Weise der Anamnesen, die dort durchgeführt werden, die Anwendung des Repertorisierens (die mir bisher unbekannt war), die Diskussionen über die einzelnen Fälle, die das, was ich in Paris gesehen habe, wieder gut macht, sowie den Enthusiasmus, den die englischen Kollegen für die Homöopathie hegen.

Bevor ich wieder von Großbritannien abkomme, muss ich Ihnen doch noch von dem Empfang erzählen, den mir Dr. Clarke bereitete. Ich war ihm völlig unbekannt, aber nach einem Telefonat, in dem ich ihm die Absicht meines Besuchs darlege, lädt er mich gleich in sein „Office“ ein. Welch warmer, freundschaftlicher und sympathischer Empfang. Ich trete in ein völlig rotes Zimmer ein, roter Teppich, rote Vorhänge, die Möbel mit scharlachrotem Samt überzogen, eine beachtliche Bibliothek, die die drei Wände ausfüllt und deren Bücher fast alle rot eingebunden sind, und auf mich zu kommt ein etwas älterer, ziemlich kleiner Mann mit funkelnden Augen, einem hochroten Gesicht, einem Backenbart und reichlichem silbergrauem Kopfhaar, der mir zur Begrüßung beide Hände entgegen streckt. Was für ein Kontrast zu meinem Empfang in Paris. Gleich zu Beginn beglückwünscht er mich, eine so große Reise der Homöopathie zuliebe zu unternehmen, und sogleich gibt er mir Empfehlungen, die ich benötige, um an einen Professor an der New Yorker Universität zu gelangen, und überreicht mir spontan auch noch eine seiner Publikationen: „ Der Enthusiasmus der Homöopathie“ in einem roten Umschlag, versteht sich. Wir sprechen zwei volle Stunden lang über Homöopathie, halb auf Englisch und halb auf Französisch. Noch nie hatte ich einen derartigen Empfang bekommen. Es war in der Tat unsere gemeinsame Bewunderung für die Homöopathie und ähnliche Interessen, die dieses Treffen bestimmte.

Wohingegen meine Begegnung mit Dr. Weir, im königlichen Krankenhaus, unter für mich eher demütigenden Umständen stattfand. Ich war sehr freundlich dazu eingeladen worden, der Krankenvisite zu folgen, und an diesem Morgen war es Dr. John Weir, der diese erledigte. Ich kannte diesen Namen nur durch die Empfehlung von Dr. Mende aus Zürich. War er ein guter oder ein schlechter Homöopath? War er kompetent? Ich würde es bald selber sehen und wissen.

„Ganz frisch“ aus Genf angekommen, nachdem ich die Homöopathie aus dem „Katechismus“ von Dewey und aus dem „Organon“ von Hahnemann sowie der „positiven Therapie“ von Sieffert studiert hatte, glaubte ich alles über diese Therapieform zu wissen, vor allem, da ich selbst schon Fälle erfolgreich behandelt hatte und von den Erfahrungen von Dr. Duprat aus Genf profitieren konnte, der mich bei einigen besonders schwierigen Fällen beraten hatte.

Ich sah, wie der Arzt samt seinen ganzen Assistenten, der Frau Dr. Margret Tyler und einigen Studenten in weißen Kitteln vor dem Bett einer neuen Patientin stehen blieben und Doktor Weir (Später erfuhr ich, dass er der Leibarzt der Königin von England und der königlichen Familie war) sich zu ihr hinbeugte und ihr eine unzählbare Menge von Fragen stellt. Kaum hatte sie eine Frage beantwortet, formulierte er schon die nächste, aber ich bemerkte rasch, dass der rechte Mundwinkel dieser Kranken tief eingerissen war. Dann erinnerte ich mich an einen ähnlichen Fall, der neben einigen anderen Symptomen auch jenes aufwies, und da ich kein geeignetes Mittel finden konnte, half mir ein bekannter Homöopath: „Aber das ist doch ein klarer Fall von Condurango“. Und so bemerkte ich, kaum hatte Dr. Weir geendet, wobei er trotz zwanzigminütigen Fragens kein Mittel finden konnte, so dass ich mich ihm in meinen Kenntnissen deutlich überlegen fühlte: „Sehen sie nicht, dass das ein typischer Fall von Condurango ist?“ Er drehte sehr freundlich den Kopf herum, und ohne die geringste Ironie oder den kleinsten Vorwurf verneigte er sich vor mir und sagte vor allen anderen: „ Ich danke Ihnen, mein Herr, wir werden uns darüber später unterhalten.“ Alle anwesenden Assistenten sahen mich mit einem würdigenden Blick an, der soviel aussagte wie: „Schau an, da kennt aber einer die Materia Medica!“… .ich machte ungefähr den selben Eindruck auf sie, den damals der Arzt auf mich gemacht hatte, der mir zu diesem Mittel geraten hatte. Doch während der restlichen Visite, fast bei jedem Kranken, fragte mich Dr. Weir nun nach meinem therapeutischen Rat. Ich geriet etwas in Verlegenheit durch die Fragen, die mir gestellt wurden, und mir war sehr unbehaglich zu Mute, und dennoch war ich mir meiner lächerlichen Lage nicht bewusst.

Nachdem die Visite beendet war, gingen wir hinunter in sein Büro, und dort bekam ich eine viertelstunde Rabelais. „Also lassen Sie uns doch mal sehen,“ sagte Dr. Weir „warum ist das ein Fall von Condurango?“

  • „Na wegen ihren eingerissenen Mundwinkeln.“
  • „Und was machen Sie mit den anderen Symptomen, die sie hat?“
  • „Ach, die sind nicht so wichtig,“ sagte ich „zusammen mit jenem Symptom wird man auch immer eine teilweise entblößte Zunge und einige Beschwerden in der Magengegend vorfinden, aber das ändert nichts an der Wahl von Condurango, da nun einmal diese typische Rhagade da ist.“
  • „ Ah gut, lassen Sie uns dies einmal etwas genauer betrachten.“
    Er öffnete ein Buch, wie eine große Bibel, mit über 1500 Seiten, und fragte mich, ob ich dieses Werk kenne.
  • „ Nein,“ sagte ich verdutzt „gibt es Homöopathen, die solche dicken Bände geschrieben haben?“

„Das ist das Repertorium von Kent“ erwiderte er mir und zeigte mir auf Seite 357 zweiundzwanzig andere Mittel, die neben Condurango auch auf diesen Mundwinkelriss zutreffen! Ich war ziemlich verblüfft und durcheinander! Mit Wohlwollen, aber überzeugungsvoll, zerstörte er mit einem Schlag meine Illusionen und meine Selbstsicherheit. Er überzeugte mich, dass dies hier ein Fall von Sepia war, denn man müsse die Symptome , die in der Befragung auftauchen, differenzieren, da jedes einzelne eine spezielle Bedeutung hat, die man abwägen sollte – was ich hingegen ignoriert hatte, da ich dachte, ein objektives und so offensichtliches Symptom reiche immer für die Wahl des Medikaments aus. Dann hätte man die Symptome hierarchisch einzuordnen, erklärte er mir, und schließlich ein Mittel auszuwählen, das nicht auf ein einzelnes Symptom, sondern auf die, die den Kranken wirklich repräsentieren, zutrifft. Mit einer Logik, die mich in Staunen versetzte, stellte er mir die Prinzipien und die Regeln dar, die bei einer solchen Lehre herrschten. In diesem Fall sei Sepia und nur Sepia richtig, da es alle der wesentlichen Symptome aufwies und keinesfalls Condurango, das nur zu diesem einen äußerlichen Symptom passte, wohingegen Sepia auch zu den zweiundzwanzig Mitteln gehörte, die diese charakteristische Rhagade aufwiesen! Das war die allerschönste Lektion in Bescheidenheit und Erniedrigung, die ich jemals erhalten hatte. Ich hatte meine Ignoranz raushängen lassen und meine Unfähigkeit kundgegeben, aber ich war wahrscheinlich noch immer nicht getauft.

In der Tat lege ich, nachdem ich London verlassen habe, ab in Richtung New York, bewaffnet mit zwei Empfehlungen, die in meinen Augen sehr unterschiedlichen Wertes sind: Die eine von Dr. Clarke für Professor Rabe, welcher am Universitätskrankenhaus von New York Homöopathie unterrichtet und die andere von Dr. Weir für einen einfachen privaten Arzt, einen gewissen Dr. Austin.

Diese Atlantiküberquerung dauerte 14 Tage. Es war ein kleines amerikanisches Schiffchen, von 14.000 Tonnen, das „Saint Paul“ hieß. Ich neigte, sobald ich den Fuß auf ein Boot setzte, sehr dazu, seekrank zu werden. Ich teilte mir die Kajüte mit einem finnischen Pastor, der dagegen sehr seefest war. Ich beobachtete ihn jeden Morgen, wie er sich aufrecht stehend vor dem Spiegel rasierte, und bekam schon vom Zuschauen einen Drehwurm. Durch das Schaukeln des Schiffes schwang er sein Rasiermesser in alle möglichen Richtungen, und ich wartete nur darauf, dass er sich jeden Moment das Gesicht zerschneiden würde, aber er hatte ein seemännisches Gleichgewicht und eine sichere Hand, so dass er sich trotz der heftigen und unregelmäßigen Bewegungen des Fußbodens nicht schnitt. Mehr tot als lebendig kam ich in New York an und war noch acht Tage lang krank, da es in meinem Körper noch wie auf dem Schiff schaukelte. Ich werde diese Reise sicherlich nie vergessen. Das Schiff hatte sechs Turbinen, die man aber wegen Kohlenmangels, angesichts der Streiks, nicht alle in Gang gesetzt hatte. Aus diesem Grund brauchten wir für diese Überfahrt anstatt der üblichen sechs Tage vierzehn!

Ich hatte mir für diese Reise drei Ziele gesetzt: Als erstes wollte ich Professor Kent, der als der größte Homöopath Amerikas galt, interviewen, dann wollte ich die großen Universitätszentren besuchen, um zu sehen, was dort in punkto Homöopathie gemacht wurde und um dort vor allem die Grundlagen für meine geplante Doktorarbeit zu finden. Der Titel dieser Arbeit sollte lauten: „Die Gesetze und Prinzipien, die die heutige Therapeutik von der Homöopathie übernommen hat.“ „Was für eine Anmaßung!“ meinte mein Allopathieprofessor aus Genf „Als ob die Homöopathie der Medizin irgendetwas gebracht hätte!“ Trotz dieser kalten Dusche breche ich nach New York auf, und dort gehe ich als erstes ins „Flower Hospital“, wo regelmäßig Homöopathievorlesungen gegeben wurden. Der Empfang von Dr. Rabe, der mich gleich seinen beiden Kollegen, Simonson und Dearborn (welcher ein dickes Buch über Dermatologie mit homöopathischer Therapie geschrieben hat), vorstellt, ist sehr freundlich. Ich nehme einige Tage lang an den Vorlesungen teil, die sonst für Studenten reserviert sind, in einem so riesigen Hörsaal, dass jene, die nicht weit genug vorne saßen, den Vorführungen von Kranken mit einem Feldstecher folgten.

Ich werde mich immer an die Vorlesungen von Professor Rabe erinnern: Ein Kranker wurde samt seinem Bett herbeigebracht, um seinen Fall zu diskutieren. Es war ein Fall von Ignatia; er stellte kurz die Gründe für diese Verschreibung dar und machte einige Anmerkungen über das Medikament. Dann sprach er noch über Kalium carbonicum, Kalium bichromicum, Ipecacuanha, Glonoinum, usw… Kurzgesagt, den verkürzten medizinischen Stoff von fünf oder sechs Mitteln in einer dreiviertel Stunde – Grundkenntnisse, die jeder auch im nächstbesten Homöopathielehrbuch hätte nachlesen können! Bei der Ankunft hatte er jedem Zuhörer zwei kleine Kügelchen gegeben, um ein sogenanntes „Proving“ zu machen. Am Ende der Vorlesung fragte er dann: „Was haben Sie verspürt?“ Niemand hatte auch nur irgendetwas verspürt: Das war wirklich ein trauriger Beweis. Doch zwei Studenten meldeten sich und meinten, dass sie zu Beginn des Kurses furchtbare Kopfschmerzen hatten, einen stechenden Schmerz, der im Verlauf der Vorlesung nach und nach verschwunden sei, nachdem sie die zwei Kügelchen eingenommen hätten. Der Professor teilte mit, dass er Glonoinum in der zweiten zentisemalen Verdünnung verabreicht hätte, ein Mittel, das diese Art von Schmerz hervorruft und heilt. Ich muss sagen, dass mich dies kaum beeindruckt hatte.

Daraufhin begebe ich mich in die Praxis von Dr. Rabe, dem Cousin des Professor Rabe aus Berlin: Er empfängt mich sehr freundlich. Er ist ein kleiner, sehr gepflegter Mann mit einem kahlen Schädel und erscheint mir außerordentlich sympathisch. Er zeigt mir seine dicken, ordentlich geführten Karteien und erklärt mir, wie er seine Patienten befragt. Dr. Simonson hat mich auf gleiche Weise empfangen. Er ist Kinderarzt, ein dicker etwas unwirscher Herr, der mir, als ich ihm einige Fragen stellen will, sagt: „Sie müssen nur unseren morgendlichen klinischen Vorlesungen folgen, zu denen ich Sie herzlich einlade.“ Dr. Dearborn, ein Dermatologe, der auch sehr im Stress war, machte mir den selben Vorschlag. Ich bemerkte, dass diese Vorlesungen im Grunde genommen Vorführungen waren, wie wir sie in den Krankenhäusern haben, mit langen klinischen Erörterungen und Diagnosen, nur, dass man abschließend die indizierten Mittel besprach. Dieser therapeutische Teil war um vieles besser als jene Vorlesungen, an die ich mich während meines Studiums gewöhnt hatte. Was mir jedoch nicht sehr gut gefiel, war die zu große Anzahl von Studenten, und vor allem, dass der Unterricht, aus homöopathischer Sicht, welche mich natürlich speziell interessierte, viel zu abgekürzt und oberflächlich war.

Unter diesen Umständen entscheide ich mich, meine zweite Empfehlung zu nützen, die von Dr. Weir, aber ohne große Begeisterung, wie ich gestehe. Was konnte sich schon hinter einem einfachen, praktizierenden Arzt mit Namen Dr. Austin, Privatarzt von Dr. John Rockfeller Senior, verstecken? Lustigerweise der dritte John, da ich ja schon Dr. John Clarke und Dr. John Weir getroffen hatte.

Nach einem Briefwechsel werde ich dazu eingeladen, mich in seine Wohnung zu begeben in der 59. Straße am Ende des Central Park in der 9. Etage, wenn ich mich recht erinnere. Ich klingle und ein großer Mann mit blonden Haaren, blauen Augen und einer leicht gebogenen schmalen Adlernase, da er indianischer Abstammung ist, empfängt mich freundlich mit einer sanften Stimme. Er begrüßt mich persönlich, auf amerikanische Art, da seine gute alte Betty erst um 10 Uhr ankommt. Monsieur hatte schon seine Schuhe geputzt und sein Frühstück gemacht, und sie würde die Zimmer machen, das Mittagessen anrichten und um 3 Uhr, wie eine feine Dame, zurück nach Hause gehen, nachdem sie ihren Dank erhalten hatte!

Er führt mich in ein kleines Zimmer mit zwei Schaukelstühlen, denn Amerika ist zugleich das Land des Komforts und des Nonkonformismus. Ich überreiche ihm meine Empfehlung von Dr. Weir, worauf er mit einem Ausdruck von Zufriedenheit mit dem Kopf nickt, was mich wiederum sofort ermutigt. Ich teile ihm mit, dass ich komme, um Dr. Kent, dessen Adresse ich nicht kenne, zu besuchen. Er sieht mich daraufhin fassungslos an und sagt: „Aber Kent ist seit fast sechs Jahren tot!“… .Niemand in England hatte mir jemals davon etwas erzählt. Ich bin sehr bestürzt und enttäuscht. Im weiteren Verlauf erfahre ich aber dann, dass Dr. Austin der Lieblingsschüler von Kent war, und so konnte es sich also kaum besser treffen.

Er fuhr fort: „Darf ich ihnen eine Frage stellen?“

  • „Aber sicherlich“
  • „Kennen Sie die Homöopathie schon?“
  • „Aber natürlich, ich habe als Student schon zahlreiche Fälle geheilt“, antworte ich. „Ich habe die Materia Medica von Dewey und“, ich dachte, damit könnte ich ihn beeindrucken „sogar schon das Organon von Hahnemann! Eine knifflige und ziemlich trockene Lektüre – heutzutage liest so etwas niemand mehr – noch dazu in der alten Ausgabe! Eine Lektüre, die jeden Studenten, der sie liest, entmutigt. Aber ich habe dieses Buch überstanden und glaube, dass ich von dieser absurden Sparte der Therapie nichts mehr zu lernen brauche. Außerdem hatte ich die Möglichkeit, in Genf einige Heilungen an mir selbst und an Freunden zu beobachten, wie zum Beispiel eine schwere Angina, die Dr. Duprat heilte, der mir freundlicherweise auch noch eine Liste der Polychreste der Homöopathie gab. Die alles ist mein homöopathisches Rüstzeug.“

„Also“, fragt er mich „welches Mittel würden Sie bei einem akuten Gelenkrheumatismus oder bei Syphilis beispielsweise geben?“ Einfache Fragen, auf die ich, um ihn zu verblüffen, ohne zu zögern antworte: „Aber das ist doch ganz einfach, wenn Bewegung verschlechternd Bryonia und wenn sie verbessernd wirkt Rhus tox., und für die Syphilis gibt man Syphilinium.“ Mit einem etwas ironischen Lächeln teilt er mir mit, dass ihm solche Antworten zeigten, dass ich von der Homöopathie überhaupt nichts verstanden hätte und diesem Fach gegenüber allenfalls eine große Ignoranz ausdrücke, denn in der Homöopathie behandle man nicht die Namen der Krankheiten, die leblosen Etiketten, sondern lebende und fühlende Kranke, was bedeutet, dass man neben der pathologischen Diagnose, dass heißt der Krankheit, auch noch die Diagnose des Kranken selbst machen muss.

Nach dieser Unterhaltung bin ich vollkommen gedemütigt und verwirrt! Ich, der ich glaubte, die Homöopathie zu besitzen! Ich versuche mich zu rechtfertigen und zu argumentieren. Daraufhin nimmt er mich beim Arm und sagt mir sehr freundlich: „Wollen Sie streiten oder diskutieren? My dear brother, das heißt mein lieber Bruder, Sie haben eine große Reise unternommen mit der Idee, ihre Kenntnisse in einer Branche der Medizin zu vervollständigen, in der Sie, wie ich sehe, bisher nur primäre, ungenaue oder gar falsche Kenntnisse haben. Ich bin dazu bereit, Sie als Privatschüler aufzunehmen und Ihnen die ganze nötige Zeit während Ihres Aufenthalts in Amerika zu widmen. Sie kommen jeden Tag der Woche von 9 Uhr bis 12 Uhr hierher.“

Ich muss dazu sagen, dass Dr. Austin kein einziges Wort Französisch sprach! „Kommen Sie morgen um 9 Uhr und wir lernen zusammen anhand der Vorträge Kents über die Philosophie der Homöopathie, indem wir sie kommentieren.“ „Ah, vielen Dank,“ sage ich und ziehe mich ein wenig zurück „ ich würde gerne etwas über Homöopathie lernen, aber ich habe nicht vor, meine Zeit mit der Philosophie zu vergeuden, denn schon auf Französisch habe ich nichts verstanden, als ich das Buch von Bergson über das Lachen gelesen habe. Diese Nörgelei, bei der die Worte in alle möglichen Richtungen verdreht werden und man nur zu vagen Ideen ohne Substanz gelangt, sind Zeitverschwendung für einen rationalen Geist, und das dann noch auf Englisch! Ich bedaure es sehr, aber haben Sie nicht noch andere Werke anzubieten?“ – Mit seiner sanften, aber festen Stimme antwortet er mir daraufhin: „ Ich sehe, wie sehr Sie durch Vorurteile geprägt sind, aber wir werden einen Kompromiss machen; nehmen Sie trotzdem diesen Band über homöopathische Philosophie und lesen sie davon nur das erste Kapitel. Wenn es Ihnen nicht gefällt, trennen sich unsere Wege ohne Gefühl der Verbitterung, andernfalls aber werden wir zusammen arbeiten, aber kommen Sie erst wieder, nachdem Sie es gelesen, gelernt und alle Kritikpunkte, die diese Lektüre bietet, vorbereitet haben.

Ernüchtert und ziemlich enttäuscht verlasse ich ihn mit meinem kleinen Buch… auf Englisch, ich bitte Sie! Und im YMCA, wo ich wohne, erhalte ich die Erlaubnis, im Ratssaal zu arbeiten, wo ein roter Teppich liegt und ein großer Tisch, der von verehrungswürdigen gotischen Sesseln umgeben ist. In diesem Rahmen mache ich mich, mit einem Lexikon in der Hand, an dieses erste Kapitel, welches eine Glosse des ersten Paragraphen des Organon ist: „Die höchste und sogar einzige Berufung eines Arztes ist es, die Gesundheit des Kranken wiederherzustellen, das ist es, was man heilen nennt!“ Was für eine offenkundige Wahrheit! Was konnte man schon über diese zehn Seiten sagen , die Kent dieser Augenscheinlichkeit widmete? Aber ich hatte versprochen, dieses erste Kapitel zu lesen, und in Wahrheit wühlte es mich bis ins Innerste auf. Es dauerte fünf Tage, bis ich es übersetzt hatte. Ich sprach laut vor mich hin, ging auf und ab, mit feuerrotem Gesicht, mitunter entrüstet und verärgert, dann erschüttert von revolutionären Behauptungen, wenn es um Grundkenntnisse, die ich im Verlauf meines Studiums gelernt hatte, ging. Außerdem fertigte ich eine lange Liste an mit über 50 scharfen Kritikpunkten, ein ansehnliches Plädoyer, und freute mich darauf, meinen Doktor mit grundlegenden Fragen und Dogmen, die mir gerade frisch beigebracht worden waren, zu verblüffen. Dieses Buch wagte beispielsweise zu behaupten, dass Bakterien nicht die Ursache von Krankheiten seien… was für eine Absurdität! Geradezu der reinste Wahnsinn!!!

Am sechsten Tag kehre ich, ganz aufgeregt und fieberhaft, zu meinem Doktor zurück, bereit, ihn zu verblüffen, und halte ihm in voller Länge, über eine Stunde lang, meine 50 Missbilligungen vor. Das Erklären des Themas verlieh mir Flügel, ich konstruierte englische Sätze, die mich selbst verblüfften. Dr. Austin, der hin und wieder mit seinem Stuhl schaukelte, hörte mir geduldig und mit anhaltender Aufmerksamkeit zu, ohne ein Wort zu sagen. Schließlich bemerkte er mit der größten Ruhe und in einem phlegmatischen Ton: „Ihre Kritikpunkte sind alle durchaus stichhaltig, sie drücken Ansichten aus, aber Ansichten, die nicht von Ihnen stammen, sondern die Ihnen eingetrichtert wurden, und die einseitig sind. In Ihrem Studium haben Sie nur gelernt, die Kenntnisse Ihrer Professoren einzusaugen und sich einzuprägen, ohne irgendwelche Kritik zu äußern und ohne die Vorstellung, dass es einen anderen Weg gibt, Dinge zu betrachten oder zu bedenken, und dass andere Auffassungen existieren könnten. Das was sie gelernt und erhalten haben, wurde von ihnen wie das Evangelium hingenommen, wie das Alpha und das Omega des Wissens, und sie wären nie auf die Idee gekommen, dass andere Interpretationen der Behauptungen ihrer Professoren oder ihrer Medizinbücher existieren könnten. Und sie haben gerade zum ersten Mal völlig neue Gesichtspunkte und Thesen, die sie erschütterten, was ich sehr gut verstehen kann, entdeckt. Aber wenn die Bakterien wirklich die Ursache von Krankheiten wären, warum haben dann jene, die schwere Epidemien, wie Cholera, Pest oder Grippe, wie damals 1918, auslösten, nicht alle überwältigt? Warum gab es Ausnahmen? Warum werden wir nicht krank,obwohl wir täglich Streptokokken, Kochbakterien und jede Menge anderer Erreger einatmen? Warum konnte der große deutsche Gelehrte, Pettenkofer, bei einer Konferenz über Bakterien, ein Wasserglas, voll mit Typhusbazillen, trinken, ohne die geringsten Folgen davonzutragen, und der große Pasteur sagte „dass die Bakterien nichts und der Nährboden alles ist“? Warum können wir die Beeren der Eibe essen, ohne dass uns etwas geschieht, während sie ein Pferd töten können? Warum ist für die Menschen das Quecksilberzyanid so giftig und tödlich, wo ein Igel es ohne weiteres essen kann? Immunität, das ist ein schönes Wort, welches nur zu gut unsere Ignoranz in diesem Gebiet verdeckt. Sie werden mit ihren scharfen Kritikpunkten in die große Stadtbibliothek gehen, und sie sich noch einmal einzeln vornehmen. Suchen Sie wirklich unparteiisch, ob es nicht eine gegenteilige Meinung, in einer wohlwollenden Hinsicht, zu der, die Sie zu Ihren ersten heftigen Reaktionen angeregt hat, gibt. Sie kommen erst nach erledigter Arbeit wieder, das heißt für jede Frage eine Antwort pro und eine Antwort contra, und dann werden wir sie uns noch einmal in Ruhe eine nach der anderen ansehen.“

Ich war buchstäblich verdattert! Wie könnte ich es wagen, meinen bisherigen Unterricht anzuzweifeln, selber auf den Gedanken zu kommen, andere Erklärungen zu suchen und andere Gesichtspunkte ins Auge zu fassen? Aber mein innerer Aufruhr legt sich, sobald ich seinem Rat folge, und nach fünf Tagen fleißiger Arbeit, tauche ich wieder bei ihm auf, mit nur zehn Fragen, die anderen 40 hatte ich mir selbst zufriedenstellend beantwortet. Seine Argumente, die oft vollkommen gegensätzlich waren zu dem, was ich davor gelernt hatte , überzeugten mich durch ihre Logik und die nützlichen Erläuterungen, mit denen er sie veranschaulichte. Dieses erste Kapitel hatte mich so gefesselt, dass ich ihn inständig darum bat, fortzufahren, und auf diese Weise folge ich sechs Monate lang seinem Unterricht, in welchem wir die famose „Philosophie der Homöopathie“ von Kent lesen. Ich hörte mir die spannenden Erklärungen an, die er erläuterte, und die 270 Seiten oder vielmehr jedes Kapitel, jeder Absatz, jeder Satz, ach, was sage ich, jedes Wort, das er schrieb, wurde diskutiert, unter die Lupe genommen und mit Kommentaren über Kent verständlich gemacht. Indessen widmeten wir unsere Zeit nicht nur der Philosophie, sondern genauso der Materia Medica und dem Repertorium, kurz, allen grundlegenden theoretischen Begriffen, die für einen künftigen Homöopathen unerlässlich sind; und außerdem gab er mir einige meisterhafte unvergessliche Stunden über die Polichreste, das heißt über die umfangreichsten homöopathischen Mittel, die die meisten erwiesenen Indikationen besitzen, wie z.B. Sulphur, Calcarea und Lycopodium.

Ich will noch von den pädagogischen und psychologischen Methoden erzählen, die Dr. Austin benützte , um die pathogene Wirkung von bestimmten homöopathischen Mitteln für immer in mein Gedächtnis einzuprägen. Eines Morgens finde ich ihn, in einem leidenden und mitleidserregenden Anblick, mit einer Decke, in einem Sessel sitzend, auf, und er sagt: „Ich flehe Sie an, ich habe solchen Durst, bringen Sie mir ein Glas Wasser.“ Ich bringe es ihm und er vermerkt: „Nein, das Wasser ist nicht kalt genug!“ Gut, ich kehre also nochmals um, lasse den Hahn etwas rinnen und komme mit dem Glas zurück. Unzufrieden murrt er schon wieder. Dann fügt er hinzu „Au, mir tut es furchtbar weh, hier“, dann „Machen Sie bitte das Fenster zu!“ Er war in einer so launischen Stimmung, dass ich ihm sagte: „Hören Sie, wenn ich Sie störe, dann komme ich morgen wieder!“ Da fing er plötzlich an zu husten, schnitt dabei entsetzliche Grimassen und hielt sich bei jedem Anfall erst die Seiten, dann den Bauch, und schließlich den Kopf. Darauf sage ich: „Kann ich wirklich nichts für Sie tun?“ Ich war wirklich besorgt und wusste nicht, ob ich zu viel oder gar kein Verständnis zeigte! Endlich sagt er wie betäubt, nachdem er mich gute zwanzig Minuten lang in Atem gehalten hatte: „Ich würde gerne nach Hause gehen!“ „Aber Sie sind zuhause“, antworte ich und fühle auf der Stelle seinen Puls, um zu sehen, ob er einen Fieberwahn hat… . Daraufhin wirft er sich plötzlich in den Sessel zurück, bricht in schallendes Gelächter aus, nimmt mich an beiden Händen und sagt: „Sehen Sie nicht, das ich Ihnen das Theater von Bryonia vorspiele? Wenn Sie recht beobachtet haben, werden sie alle Symptome, die ich Ihnen gerade vorgemacht habe, in der homöopathischen Materia Medica wiederfinden. Man muss die Dinge auf eine lebendige Art und Weise lernen und im Gedächtnis behalten. Im Repertorium werden sie folgende Kategorien finden, bei denen immer Bryonia im 2. oder 3. Grad empfohlen wird.“

  1. Extremer Durst – stomach thirst extreme – 529
  2. Verlangen nach kalten Getränken – stomach, disire cold drinks – 484
  3. Launischer Appetit – stomach appetite capricious – 476
  4. mürrisch – mind complaining – 12
  5. launisch – mind capricious – 10
  6. Husten, hält sich die Brust – cough, hands hold chest – 792
  7. Bauchschmerzen durch den Husten – abdomen, pain, cough – 577
  8. Kopfschmerzen durch den Husten – head, pain, cough – 138
  9. benommene Ausdrucksweise – face expression besotted – 374
  10. Wunsch nach Hause zu gehen – mind, home, desire to go – 51

„Ich bitte Sie darum, mir morgen Arsenicum vorzuspielen.“ „Aber ich habe nicht die Zeit dazu, das in 24 Stunden vorzubereiten.“ „Also gut, Sie nehmen sich die Zeit und wenn sie soweit sind, werden wir zusammen spazieren gehen, und Sie spielen mir Arsenicum vor.“ … und später war es dann Lycopodium … usw …

Das war sicherlich keine leichte Aufgabe, weil ich es noch dazu auf Englisch machen musste! Aber ich gebe zu, dass mich das dazu brachte, die Symptomatologie zu lernen; mit der Materia Medica zu arbeiten, und auf sehr persönliche Weise die Physiognomie der Medikamente kennenzulernen, hat mir sehr gut gefallen. Aber mit ihm war alles immer sehr theoretisch. Eines Tages sagte ich zu ihm: „Ich wohne im Y.M.C.A. und habe dort ein paar Kameraden, die verschiedene kleinere Probleme haben. Speziell einer, der seit Jahren furchtbare Schmerzen im Rücken und im Kopf hat.. Ich habe einige Symptome vermerkt, wollen Sie sehen, ob das richtig ist, ich habe Pulsatilla gefunden. Was sollte man ihm geben?“ „Ihre Symptome passen wunderbar zusammen“, sagt er mir „und man muss ihm Pulsatilla geben.“ „Aber in welcher Potenz?“ „In der 10.000ten (XM)!“ Ich, der ich daran gewöhnt war 3C oder höchstenfalls 6C zu verabreichen! Ich schaute ihn mit kugelrunden Augen an, denn ich hatte noch nie jemanden gesehen, der eine Dosis in einer solchen Verdünnung verabreichte! Ich habe also meinem Patienten eine 10.000er gegeben. Na ja, drei Tage später kommt er zu mir zurück, veranstaltet ein Mordsgezeter, sagt mir, dass ich der allerletzte sei, es sei abstoßend, er habe sich völlig normal verhalten, als er plötzlich einen Ausfluss aus der Harnröhre hatte, wobei man ihm nichts vorwerfen dürfe, da er keinerlei Seitensprünge gemacht habe.

Da ich die klassischen Werke der Homöopathie schon sorgfältig gelesen hatte, fragte ich ihn, ob er nicht zufälligerweise schon davor einmal an einem solchen Ausfluss gelitten habe. „Aber sicher doch!“ „Was haben Sie damals gemacht?“ „Na ja, man hat eine Spülung mit Silbernitrat gemacht, die das schnell gestoppt hat, aber seit diesem Zeitpunkt habe ich eigentlich Rücken- und Kopfschmerzen.“ „Und wie fühlt sich Ihr Rücken und Ihr Kopf jetzt an?“ „Moment! Es stimmt, ich spüre nichts mehr – aber jetzt das! Es rinnt wieder da unten! Verstehen Sie, ich muss zurück zu meinem Arzt, um wieder die Injektion durch den Kanal zu machen, was aber so unangenehm ist!“ „Ah! Sie werden auf keinen Fall dorthin zurückgehen“ erwidere ich „Gehen Sie auf die Knie und danken Sie Ihrem Schutzengel, der ihnen diese glückliche Reaktion beschert hat.“ Um ihm das klar zu machen, war ich glücklicherweise gut von Dr. Austin vorbereitet worden, der mir das zuvor alles erklärt hatte. Es gelang mir, ihn von diesem homöopathischen Gesetz zu überzeugen, welches besagt, das Symptome, die in der Vergangenheit unterdrückt wurden, zurückgeheilt werden müssen, und ich muss sagen, dass er mit seinem Pulsatilla entgültig geheilt wurde und zwar gleichzeitig von seiner alten Gonorrhöe, seinen Rückenschmerzen und seinem Kopfweh! q.e.d.

Ich behandelte auch eine Spanierin, die ins Y.M.C.A. zum Bügeln kam. Sie hatte seit einigen Monaten schreckliche Kopfschmerzen, die sich vom Hinterhaupt bis zum Nacken erstreckten, sobald sie morgens im Bett die Augen öffnete, und ihr Fall war typisch für Nux vomica. Ich gebe ihr Nux vomica 10.000(XM). Es war nur eine einzige Dosis, aber sie erzählte mir das Blaue vom Himmel, als ich sie einige Tage später wieder sehe. Denn sobald sie die Dosis an jenem Tag genommen hatte, fing sie an, sich zu übergeben, und zwar mindestens 25 Mal: Man ließ sie weder in die Straßenbahn noch in den „Subway“ (U-Bahn), und sie konnte auch nicht zu Fuß nach Hause laufen, da es zu weit war. Sie setzte sich also an eine Straßenecke, fasste sich an den Kopf und erbrach. Die Leute hatten Mitleid mit ihr, entfernten sich aber rasch wieder, sobald sie sich aufs Neue übergab. Es war furchtbar, und sie nahm es mir übel, es war wirklich bedauerlich! Das zeigte mir, dass die hohen Potenzen wirklich eine außerordentliche Wirkung haben, wenn sie solche Symptome erzeugen können, und sie sind sicherlich kein „von Quacksalbern angebotenes Wunderpulver“, wie es der Professor Stiegele aus Stuttgart behauptete!

Und ich selbst, stellen Sie sich vor, litt seit einigen Tagen an rheumatischen Schmerzen im Knie, so dass ich humpeln musste, sobald ich anfing, zu gehen. Ich erzählte dies Dr. Austin, welcher mir daraufhin einige Fragen stellte, mein Knie betrachtete und mir eine Dosis Bryonia 10.000 gab. Ich traute meinen Augen nicht, eine Zehntausendste und dennoch tat es mir am nächsten Tag nicht mehr weh, obwohl ich wegen dieser Schmerzen drei Tage lang gehumpelt war. Daraufhin befragte er mich mehrere Stunden lang, zwei oder drei Tage in Folge, studierte meinen Fall gründlich und gab mir schließlich eine Dosis Calcarea phosphorica 10.000(XM).

Nach dieser Einnahme glaubte ich, nicht mehr nach Hause gehen zu können; ich wohnte in der 225. Straße und erinnere mich noch gut daran, dass ich mit dem „subway“ gefahren bin. Von der Station aus hatte ich noch 10 Minuten zu laufen, aber ich torkelte wie ein Betrunkener und fühlte mich, als hätte man mich von allen Seiten durchgeprügelt. Ich hatte immer schon Probleme im unteren Bereich des Rückens, aber an diesem Tag verspürte ich geradezu grässliche Schmerzen und dazu brausendes Herzrasen, so dass ich mir das Herz halten musste. Ich war zudem seit einigen Jahren anfällig gegenüber sehr beängstigendem Herzklopfen mit regelmäßigen Extrasystolen. Ich ging also nach Hause, mit der einen Hand mein armes hüpfendes Herz und mit der anderen meinen Rücken haltend. Nach dieser Erfahrung sagte ich mir, wenn das die Homöopathie sei, dann müsse man wirklich ziemlich harte Proben durchmachen, um gesund zu werden! Ich sollte noch dazusagen, dass ich von diesem Tag an nie mehr Rückenschmerzen hatte, und auch die Herzbeschwerden, wegen derer ich vom Militärdienst freigestellt worden war, war ich los. Dies zeigte mir, dass das Basismittel, wenn man es sorgfältig ausgesucht hat, wirklich kein Scherz ist, sondern größten Respekt verdient.

Ich wollte damals meinem Meister eine Freude bereiten und ihm meine Erkenntnis zeigen. Bei meiner Abfahrt hatte mir mein Vater 10.000 Francs überreicht und gesagt: „Da, das ist alles, was ich für deine Reise nach Amerika tun kann, arrangieren musst du dich dort selbst. Du kannst dort drei Tage oder drei Jahre lang bleiben, das wird davon abhängen, wie du dich dort anstellst.“ Um nicht viel auszugeben, verzichtete ich immer auf das Mittagessen; in der Früh kaute ich immer eine halbe Stunde lang das Frühstück, so dass ich mittags keinen Hunger hatte, und dank diesem kleinen System hielt ich es immer bis zum Abend aus; nichts war für mich selbstverständlich, und Theater, Kino oder was auch immer für eine Art von Vergnügung kam für mich nicht in Frage. So fuhr ich jeden Morgen mit dem „subway“ eine halbe Stunde lang von der 225. Straße zur 59. zu Dr. Austin. An diesem Tag bin ich also Rosen kaufen gegangen, aber Rosen waren zu dieser Zeit teuer, ungefähr 5 Francs pro Stück; und wenn man sechs verschenken will, dann kostet das schon ein kleines Sümmchen! Ich erinnere mich noch immer, wie ich mit diesen Rosen, mitten in dieser therapeutischen Verschlechterung, ankomme und sage: „Sehen Sie, lieber Doktor, die Rosen der Verschlechterung; wissen Sie, Ihre großartige Dosis hat mich völlig erledigt, aber letztendlich, glaube ich, wird sie mir gut tun!“ Daraufhin war er sehr rührend, er nahm mich in seine Arme und es wurde eine unvergessliche Unterrichtsstunde. Zwei Jahre lang fahre ich damit fort, dieses Mittel in hohen Potenzen und größeren Abständen einzunehmen, und es erzeugt einen regelrechte Wandel meiner Schwächen und verschiedenen Beschwerden und verwandelt mich buchstäblich von einer immer müden und immunschwachen Persönlichkeit in ein starkes, robustes und resistentes Wesen, wie ich es nie zuvor war.

Neben diesem begeisternden theoretischen Unterricht und den Ergebnissen, die ich in der Praxis beobachtet habe, gibt es noch viele andere Dinge, die mich tief beeindruckt haben! Ich ging seit ungefähr drei Monaten täglich zu ihm, als eines Morgens, gegen neun Uhr, jemand anrief. Austin hatte eine sehr sanfte und immer sehr ruhige Stimme, und ich höre ihn sagen: „Yes, allright, yes, I will come at any time this afternoon or tomorrow“…- Alles klar, ich komme gerne jeder Zeit, heute Nachmittag oder morgen – nein, heute in der Früh habe ich keine Zeit – „No, no I cannot this morning“. Ich frage ihn, um was es sich handle, und er antwortet mir: „Es war John Rockfeller, der anrief, er hat sich erkältet. Er hat Angst, sich eine Bronchitis geholt zu haben und wollte, dass ich sofort vorbeikomme, und ich habe ihm gesagt, dass ich im Moment gerade keine Zeit habe, aber ich käme später, oder ansonsten morgen vorbei.“ –„Aber Doktor, was haben Sie da getan, einen so wichtigen Termin wegen mir abzusagen, das ist doch lächerlich!“ – „Nein, mein Lieber, Sie kommen aus der Schweiz und haben eine lange Reise gemacht; sie sind in meinen Augen wichtiger als Herr Rockfeller. Wenn er zu jemandem anderen gehen will, dann soll er das tun. Er kann sehr wohl bis heute Nachmittag warten. Wenn es ein armer Schlucker gewesen wäre, würde ich auch nicht hingehen. Rockfeller ist ein Mensch wie jeder andere. Ein Homöopath hat seine Prinzipien und Regeln, denen er folgt, und daher kommt es nicht in Frage, nur weil es sich um Herrn Rockfeller handelt, sich ihm zu Füßen zu werfen, wie alle anderen Kollegen, die ihn vor mir behandelt haben. Übrigens, ich werde ihnen etwas sagen, was sie überraschen wird: Nur aus diesem Grund bin ich überhaupt noch sein Arzt, weil alle anderen immer nur an ihr „pocket book“ – an ihren Geldbeutel gedacht haben. Er hat großen Respekt vor mir, weil er genau weiß, dass ich ihn wie jeden anderen behandle.“ Nun, das hat mir sehr gut gefallen und mich stark beeindruckt, wie Sie sich denken können!

Nach diesem spannenden, sechs Monate langen Praktikum in New York schickt er mich nach Philadelphia, um dort ein Praktikum bei Dr. Gladwin, einem anderen treuen Schüler von Kent, zu machen. Dort sollte ich bei den Sprechstunden und Hausbesuchen dabei sein, was mir die einzigartige Möglichkeit eröffnet, von der praktischen Anwendung des kostbaren Unterrichts, den ich davor vor allem spekulativ erhalten hatte, zu profitieren, indem ich assistierte.

Dieser Besuch bei Dr. Gladwin war für mich ein sehr erniedrigender Besuch. Ich hatte schon von Dr. Gladwin durch einige ihrer Schriftstücke gehört, und als ich in der großen Stadt von William Penn ankomme, finde ich ein kleines Sprechzimmer vor, wo gerade genügend Platz für einen Patienten und den Arzt ist. Die Türe öffnet sich, ein Herr verneigt sich, ich dachte es sei Dr. Gladwin. Hinter ihm in einem kleinen Büro sitzt eine Frau mit Brille, die ein bisschen streng aussieht, wie eine Volksschullehrerin, und das war sie, Dr. Gladwin. Ich sag’s ihnen! Ah! Gnade! Eine Frau als Arzt, ich bitte Sie, was hat der liebe Gott noch alles mit mir vorgesehen! Was für eine Enttäuschung, ich, der ich Ärztinnen schrecklich fand, da haben wir’s, was Dr. Austin für mich vorbehalten hatte. Ah! Er hat sich sicherlich davor gehütet, mich zu warnen, da ich sonst überhaupt gar nicht erst dorthin gefahren wäre.

Ich komme also dort an und sage: „Ich bin Dr. Schmidt“ Sie antwortet mir trocken: „Ja, ich habe ihren Brief bekommen“, und in einem befehlenden Ton fügt sie hinzu: „Sit down – setzen Sie sich!“ Wie elektrisiert setze ich mich hin, aber es war ein so kategorischer Befehl, dass ich mich ganz klein mache. Dann fragt sie mich: „Seit wann arbeiten Sie bei Dr. Austin?“ – „Seit sechs Monaten“ – „Na gut, jetzt, wo Sie einen Kranken vor sich haben, befragen Sie ihn, und zeigen Sie mir, was sie gelernt haben!“

Mit Dr. Austin zusammen habe ich nie einen Kranken behandelt. Er hatte mit mir „den Kranken gespielt“, aber ich hatte nie einen echten Patienten vor mir, und nun musste ich hier auf Anhieb einen Herren, den ich nicht kannte auf Englisch und vor dieser „Pfennigfuchserin“ befragen. Ich entfalte also mein gesamtes Talent und fange an, ihm jede Menge Fragen zu stellen und notiere dann auf einem Papier 40 großartige Punkte, die ich ihr befriedigt vorzeige. Darauf sagt sie mir: „All right, lassen Sie uns das doch einmal ansehen.“ Sie gibt dem Herren einen Wink, legt ihm irgendetwas auf die Zunge und verabschiedet ihn dann.

Wir fangen dann an, meine Arbeit zu lesen, und das dauerte, glauben Sie mir, zweieinhalb Stunden. Sie nahm alles auseinander, ein Symptom nach dem anderen, wie eine Artischocke, die man entblättert, und es bleibt mir kein einziges brauchbares übrig. Nichts, hören sie, nichts, gleich null!

„Ich habe gut zugehört, als Sie ihre Fragen gestellt haben“ sagt sie mir „Einmal hat er mit ja geantwortet, dann wieder mit nein, und das hat wirklich überhaupt keinen Wert! Und hier haben sie Druck auf ihn ausgeübt, als Sie ihm die Frage gestellt haben, Sie haben ihn dazu genötigt, zu antworten, folglich ist Ihre Frage vollkommen wertlos!“ Um zu Ende zu kommen, unter meinen 40 Fragen, auf die ich so stolz war, war keine einzige, die zählte! Auch meine ganzen Illusionen verschwanden und wurden klein wie ein Luftballon, dem die Luft ausgeht, und ich fühlte, wie ich immer winziger wurde, in der Tat, ich fühlte mich wie ein kleiner Junge und sagte mir, dass ich wirklich noch einiges zu lernen hatte in der Homöopathie.

Schon in New York hatte ich von Dr. Austin eine Lektion erhalten, die mir gezeigt hatte, dass ich praktisch nichts wusste, und diese zweite Situation machte aus mir wirklich einen armen Versager. Letzten Endes war sie dann noch so geduldig, mir die Symptome zu zeigen, auf die sie Wert gelegt hatte bei der Wahl des Medikaments. Sie begann mich zu prüfen, indem sie mir äußerst unangenehme Fragen stellte, wie zum Beispiel den Unterschied zwischen einer akuten Krankheit und der Verschlimmerung einer chronischen Krankheit, einige kleine Fragen über die Miasmen und über den geeigneten Zeitpunkt, ein Medikament zu wiederholen; über den Unterschied der Indikationen des Medikaments in einem akuten Fall und in einem chronischen und eine ganze Lawine von immer komplizierter werdenden Fragen, wobei sie nur verwirrte konfuse Antworten zu hören bekam.

Danach machten wir zusammen die Runde ihrer Hausbesuche. Ich werde nie jenen Besuch bei einer Kranken vergessen, die gerade einen akuten Anfall von Gallenkolik bekommen hatte und sich buchstäblich in ihrem Bett krümmte. Ihre bemerkenswerte Anamnese und ihre Beobachtungsgabe führten sie zur Anwendung von Natrum sulfuricum C200, das quasi augenblicklich wirkte. Danach gingen wir auf einen großen Bauernhof, wo über 40 Hühner an „Gasping“(Atemnot) litten. Sie hielten den Schnabel weit offen und ihre Zunge, die ganz weiß war, hing heraus; sie sahen sehr verängstigt aus, als würden sie gleich ersticken, doch mit Antimonium tartaricum C200, von dem sie nur einige Kügelchen in einen Behälter mit Wasser ihnen zu trinken gab, verbesserte sich ihr Zustand rasch. Als nächstes waren einige Fische in einem Aquarium dran, die anfingen, ihre Augen zu verdrehen; eine Prise Gelsemium C200 Kügelchen in das Glas hauchte den Fischlein wieder Leben ein, und sie sahen wieder richtig. Schon wieder ein kleines Wunder. Als nächstes sind wir in ein kleines Vogelhaus gegangen, um uns einige entzückende Kanarienvögel, die Asthma hatten und nicht mehr singen konnten anzusehen: Ein bisschen Ipecac C200 und siehe da, das Asthma verschwindet und meine kleinen Kanarienvögel fangen wieder an, die moduliertesten Gesänge von sich zu geben. Ich habe da wirklich Dinge gesehen, die mich stark beeindruckt haben.

So sind wir drei Monate lang zu all ihren Kranken gegangen. Ich konnte die Unmenge von nützlichen Lektionen, die ich gelernt und verinnerlicht hatte, nicht mehr zählen und war fasziniert von der außerordentlichen Wirkung ihrer intelligenten genauso wie effizienten Verschreibungen. Wir sind sogar zusammen baden gegangen! Ich weiß allerdings nicht, wie sie gebaut war, denn ich versank fast völlig, während sie genau wie ein Korken auf der Wasseroberfläche schwamm. Weil sie ganz aus „Spiritualität“ war! Ihr strenges Aussehen und ihre autoritäre Erscheinung waren eine Folge ihrer Schwerhörigkeit, die so stark war, dass man trotz ihres Hörgeräts die Stimme heben musste, und waren nur eine Hülle, hinter der sich ein sensibles, großzügiges und mildes Herz versteckte und noch dazu eine zarte und selbstlose Seele. Sie nannte mich „Sunshine“, weil sie sagte, dass ich ihr Sonnenstrahl sei. Sie war eine sehr strenge Person, aber dafür ungeheuer fähig in ihrem Beruf, und die drei Monate, die wir zusammen verbracht haben, waren für mich außerordentlich ertragreich. Ich habe eine sehr große Anerkennung für diese Frau aus Philadelphia, die mindestens 67 Jahre alt sein musste. Sie hinterließ mir ein kleines Buch: „The people of the Materia Medical World“ (Die Leute aus der Welt der Materia Medica) in welchem man zum Beispiel „Die Legende von Pulsatilla und Sepia“ oder auch „Auf dem stürmischen Ozean mit Tabacum, Cocculus, Sepia, Petroleum, usw…“ oder „Die Familie Phosphorus“ oder auch „Herr Plumbum, der Junggeselle“ fand. In diesem Büchlein sind lauter entzückende Geschichten, die sie geschrieben, für mich auf der Schreibmaschine abgetippt und es dann in einem wunderschönen Pergament eingebunden hat. Ich besitze davon das einzige Exemplar. Sie hatte einen wohltuenden Humor, und aus pädagogischer Sicht war sie sicherlich bemerkenswert.

Bei jeder Gelegenheit wird immer um die Wette gelästert, dass die Amerikaner Geldmenschen sind und dass für sie der Dollar alles ist. Nun gut, ich muss sagen, dass ich in der „Neuen Welt“ genau das Gegenteil angetroffen habe: Selbstlosigkeit, Hilfsbereitschaft ohne die geringste Bezahlung und Selbsthingabe ohne kühle Berechnung, wie ich es in Europa nicht erlebt habe. Dieses Bild ist dank der Großzügigkeit meiner beiden amerikanischen Ärzte entstanden, die mich bis zur Perfektion in Homöopathie unterrichtet und jegliche Entlohnung verweigert haben, so dass ich mit einer Bibliothek von über tausend verschiedenen Werken, mit mehr als 4000 hochpotenzigen homöopathischen Mitteln und vor allem mit vollkommenen theoretischen und praktischen Kenntnissen über die Wissenschaft und Kunst der Homöopathie in die Schweiz zurückkehre. Und dank Dr. Austin habe ich noch dazu die Ehre, die zweite Ausgabe von Kents Repertorium, vom Autor selbst überarbeitet, und seinen Goldring mit einem Diamanten, der in einem Sechsstern gefasst ist, besitzen zu dürfen.

Auf meinem Rückweg von Amerika mache ich Halt in Paris, und nach dem Brauch meines Meisters, Dr. Austin, der mir diesen übertragen hat, werde ich jedes Mal, wenn ich diese Metropole passiere, einen frommen Besuch am Père Lachaise Friedhof abstatten, um dort, wie er, einen Blumenstrauß am Grab unseres Meisters Samuel Hahnemann niederzulegen, um dadurch die Anerkennung von Seiten meiner Kranken zu zeigen und dafür, dass er mich auf intellektuelle, materielle und spirituelle Weise mit der Homöopathie erfüllt hat.

Seit meiner Rückkehr aus der „Neuen Welt“ versuche ich auch, die Homöopathie Hahnemanns durch Schriften und Konferenzen zu verbreiten. Damals, mit 28 Jahren, heirate ich auch Dora Nagel, Apothekerin, die Großnichte von Agassiz, dem Naturalisten, von dem ein bekanntes Museum mit aus Glas nachgebauten Pflanzen in der Harward Universität in Boston existiert. Zwei kleine Mädchen gehen aus dieser Ehe hervor, Gilberte und Yolande, die leider beide sehr jung, innerhalb von sechs Wochen, eine nach der anderen an Enzephalitis sterben, trotz der Eltern, die gewissenhaft für sie sorgen. Das ist eine ziemlich große Prüfung für einen Mediziner, der in Zukunft ähnliche Fälle heilen musste, bei seinen eigenen Kindern jedoch versagte.

Und damals, muss ich sagen, habe ich den moralischen Wert einiger Kollegen schätzen gelernt und habe die Wichtigkeit derer gesehen, die neben der kalten und unpersönlichen Wissenschaft auch noch diesen „hohlen Muskel, der oben, unten, vorne und hinten sitzt“ besaßen, den man das Herz nennt, wie es Daudet ausdrückte, und ich war froh, noch einige gute und sensible Humanisten zu finden. Trotz der sehr entgegengesetzten Ideen, die uns voneinander trennten, hegte ich eine sehr große Anerkennung für Dr. Nebel und meinen Freund Lang, der extra mitten aus der Schweiz angereist ist, mich in seine Arme nahm und mir sagte: „Mein armer Freund, vielleicht gibt es nichts mehr zu machen, sie scheinen verloren, aber weißt du, hab trotzdem Vertrauen.“ Und Nebel sagte mir: „Hören Sie, es gibt noch ein wenig Hoffnung, versuchen Sie ihr jetzt noch Lachesis zu geben, wenn sie bis zwei Uhr morgens durchhält, dann ist sie über den Berg.“ Diese Hoffnung wurde mir ungefähr 24 Stunden lang gewährt, doch obwohl ich wusste, dass alles verloren war, hat mir dieser Hoffnungsfunke riesengroßen Mut gemacht; ich wurde mir klar darüber, wie wertvoll Hoffnung, wie klein sie auch sein mag, die einem von einem Arzt, der noch etwas vorzuschlagen hat, gegeben wird, sein kann; von einem Arzt, der noch ein Medikament weiß, das vielleicht helfen könnte, der noch einen Weg weiß, dem Schicksal zu entrinnen; und das darf man niemals vergessen, denn es ist wirklich eine immense Kraft und eine unglaubliche Stärkung, bei solch einem tragischen Fall, wie ich erlebt habe. Aber wie widerstrebte es mir dagegen, als ich den Professor aus der Kinderklinik sah, der gekommen war, um sich die Kinder anzusehen und nach einer kurzen, oberflächlichen Untersuchung sagte: „Ja, da ist offensichtlich nichts mehr zu retten. Aber warten Sie, ich habe da noch einen Brei, den ich Ihnen anbieten kann…“ Er zog ein ekelerregendes Stück Papier aus seiner Westentasche, es war ein Brei, aber mit Hafermehl, usw… „Sie können versuchen, ihr das da zum Essen zu geben.“ Ich bitte Sie, einem Kind, das mit 40 Fieber in einem Halb-Koma fast am Sterben ist. Ich musste mich zurückhalten, um ihn nicht am Hals aus der Türe hinauszuzerren…

Hier sieht man den Unterschied zwischen einem Arzt, der sich wissenschaftlich nennt, der einen Kranken als rein pathologischen Fall betrachtet und dem, der vor allem mit dem Herzen und eben auch mit der Wissenschaften an ihn herangeht. Da haben wir’s, was ein Homöopath ist: Jemand, der wirklich versucht dieses Etwas, das da leidet, zu verstehen, nicht das Haus, sondern den, der darin wohnt. Natürlich berücksichtigt er die Krankheit; man kann die Krankheit und den Kranken nicht trennen. Aber indem er den Kranken sieht, sieht er auch die Krankheit, während, wenn man nur die Krankheit sieht, man den Kranken überhaupt nicht sieht; man sieht eine Abstraktion, wie in den Büchern, die überall existiert, außer in diesem kleinen lebenden „Etwas“, das seine Krankheit auf eine bestimmte Weise ausdrückt. Aus diesem Grund hat der homöopathische Arzt allen anderen gegenüber einen immensen Vorteil: Er hat Einblick in dieses lebende und kranke menschliche Wesen, den der allopathische Arzt auf diese Weise nicht hat. Auch muss ich Ihnen sagen, meine Herren, ermutigen Sie die Familie stets, suchen sie immer ein Symptom oder ein kleines positives Zeichen, das einen Funken Hoffnung geben könnte, das tut dieser Familie ungemein wohl, auch wenn man weiß, dass alles verloren ist. Und so haben meine Frau und ich selber die zwei Mädchen, die uns anvertraut wurden, der Schöpfung zurückgegeben.

Meine Frau erwies der Homöopathie einsatzfreudig einen großen Dienst, indem sie bei Publikationen über Sepia, Arsenicum, Thuja, Aurum, usw… mitarbeitete – Themen, die im „Propagateur de l’ Homéopathie“ erschienen. Sie gründete ein homöopathisch wissenschaftliches Labor zur Herstellung von hohen Potenzen, von 30ern bis zu Millionsten, die sich als bemerkenswert effizient erwiesen. Die zwei homöopathischen Doktorarbeiten über „Die Gesetze und Prinzipien, die die heutige Therapie von der Homöopathie übernommen hat“ und dann „Das Leben Hahnemanns und seine Entdeckungen“, die ich vorbereitete, wurden beide abgelehnt (Die erste Arbeit wurde nicht angenommen, denn der Dekan der Fakultät antwortete mir nur: „Sie können uns hier nicht irgendetwas vorlegen, stellen Sie nicht solche Ansprüche!“). Es gab drei Professoren, und jeder sagte: Ich bin einverstanden, wenn die beiden anderen einverstanden sind, aber niemand war einverstanden! Daraufhin bin ich verpflichtet, eine neue Arbeit über ein offizielles Thema zu schreiben, denn der Examensdirektor hatte mir wörtlich gesagt: „Die Gräben rund um die Allopathie sind zu gut bewacht.“ Ich nehme den Titel, den mir mein Professor aus der internen Medizin vorschlägt: „Die Atmungsprobleme bei einer lethargischen Gehirnhautentzündung(Encephalitis lethargica)“. Innerhalb weniger Tage bereite ich diese Doktorarbeit vor und verfasse sie, welche mir den Titel des Doktors der Medizin und des Medizinchirurgen der Schweizer Konföderation verleiht.

Als Mediziner, der sich sehr für die Pädagogik von Kent und Hahnemann interessiert, habe ich sehr bald einige bemerkenswerte Schüler, die praktische und theoretische Lehrgänge von mehreren Monaten, bis zu über einem Jahr in meiner Praxis machen, und die mir genauso wie der Homöopathie Ehre bereiten. Zu nennen wäre mein Bruder, Roger Schmidt, der seitdem in San Francisco lebt, der sein Examen nochmals machen musste, um den amerikanischen Medizinertitel zu erhalten, und der die Homöopathie mit großem Erfolg praktiziert. Eine andere war Dr.Elizabeth Wright- Hubbart aus New York, die drei oder vier Sprachen flüssig sprach und die dann Präsidentin des amerikanischen Instituts für Homöopathie wurde, außerdem Dr. Bellokossi aus Denver für Amerika, Dr. Künzli aus St. Gallen für die Schweiz, Dr. Casez aus Annecy und einige andere für Frankreich, usw… , alles Endstationen von echten Leuchttürmen, die das Licht der traditionellen Homöopathie durch ihr Wissen sowie ihre therapeutischen Erfolge ausstrahlen. Ich habe durchgängig Schüler und gründe 1946 eine Hahnemann-Schule für Homöopathie in Lyon, die ich „Le Groupe Hahnemannien de Lyon“ nenne. Sie liegt in Frankreich, 160 Km entfernt von Genf, und die Kurse werden von ungefähr 40 jungen schweizerischen, italienischen und vor allem französischen Medizinern besucht. Ich halte ihnen jeden Monat, zwei Tage lang, Samstagabend und Sonntag, einen theoretischen Vortrag über die Homöopathie, gefolgt von praktischer Arbeit mit dem Repertorium und einer kritischen Betrachtung klassischer Fälle, die homöopathisch behandelt worden waren. Summa summarum, den gesamten Unterricht, den ich so großzügig in Amerika erhalten habe und die Früchte meiner Lektüren aus meiner bemerkenswerten, beträchtlichen homöopathischen Bibliothek, die fast einzigartig auf dieser Welt ist, mit über 2000 Bänden, von denen die meisten aufwendig eingebunden und mit einer Lilie gekennzeichnet sind, dem Symbol der königlichen Krone ! Ist in der Medizin nicht genau die Homöopathie, die niemals vergiftet, sondern den Kranken von all seinem Leid erlöst, befreit und für immer entledigt, der Höhepunkt der Therapeutik?

Ich werde darum gebeten, in den Medizinerkreisen Brüssels einen Vortrag über Homöopathie zu halten, sowie später auch in London und 1963 in Barcelona, wo mir das Privileg erteilt wird, als Mitglied der homöopathischen Akademie von Barcelona aufgenommen zu werden. Meine Patienten sind immer dankbarer für die glänzenden Ergebnisse, die ihnen diese Therapie gebracht hat. Ich behandle einige sehr bekannte politische, künstlerische und wissenschaftliche Persönlichkeiten, von denen ich nur die verstorbenen zitieren kann, wie den Pianisten Paderewski, den Dirigenten Furtwängler, Sir Eric Drummond, die Führer der Sufi- und Bahaibewegung, Herrn Soulie de Morand, usw. … Vor einigen Jahren, 1937, werde ich vier Monate lang nach Indien gerufen, um dort einen Maharadja zu behandeln und Vorträge über Homöopathie in Lahore und Delhi zu halten, wo ich sehr geehrt werde, indem ich ein Faltfoto mit meinem Portrait unter den 24 Pionieren der Homöopathie seit Hahnemann erhalte.

1925 gründe ich zusammen mit ein paar Homöopathen aus Europa und Amerika die internationale homöopathische Liga von Medizinern. Ich bin bei über 35 internationalen Kongressen dabei, und das, obwohl ich inzwischen seit 47 Jahren als Homöopath in meiner Praxis sehr aktiv bin, trotz einer literarisch- wissenschaftlich wichtigen Arbeit über die Materia Medica, der Auseinandersetzung mit einigen Fragen der Philosophie und der Doktrin, der Ausstellung von Krankheitsfällen, den zahlreichen Übersetzungen und vor allem die Veröffentlichung der sechsten Auflage des Organon auf Französisch, nach dem altdeutschen Text von Hahnemann, die 1952 erscheint und der ich mich 5 Jahre lang widme. Auch übersetze ich die famose „Philosophie“ von Kent, aus dem Englischen mit zahlreichen Kommentaren, die mir Dr. Austin bei meinem Aufenthalt in Amerika zur Verfügung gestellt hatte, die ich 1958 unter dem Namen „Die Wissenschaft und Kunst der Homöopathie“ veröffentliche.

Nachdem ich zum Präsidenten der Liga medicorum homeopathicae internationalis ernannt wurde, leite ich 1931 den internationalen Kongress in Genf, 1932 in Paris, wo mir auf Vorschlag der Pariser Mediziner der Titel „Président d’ honneur“ verliehen wird, und schließlich 1933 in Madrid.

Der Kongress in Genf war besonders gelungen, aufgrund einer intensiven Vorbereitung im ganzen vorhergehenden Jahr. Ein ausführlicher Briefwechsel mit einem monatlichen Appell erlaubt es, die Arbeiten weit genug im Voraus zusammenzustellen, um sie alle lesen zu können, auf eine öffentliche Kritik hinzuweisen und eine komplette Studie der vorhandenen Arbeiten vorzubereiten.

Dieser Kongress wurde im übrigen durch die zahlreiche Anwesenheit internationaler Persönlichkeiten geehrt, die aus allen Ländern Europas, aus den Vereinigten Staaten, mit meinem Meister, Dr. Austin, aus New York, aus Brasilien, und sogar aus Indien kamen, mit dem berühmten Dr. Majumdar, dem Autor von Werken über Blinddarmentzündung und Cholera, die homöopathisch behandelt worden waren.

Aber wir haben vor allem die Ehre, den Leibarzt der königlichen Familie von England, Dr. John Weir, unter uns zu haben.

Ein wichtiger 450 Seiten langer Band erschien anlässlich des Kongresses, der die Diskussionen in extenso, mit allen Kritikpunkten und den betreffenden Kommentaren enthielt, was dieses Buch so interessant machte. Die einzige Sorge für die Veröffentlichung war, dass alle sie mit großem Geschrei forderten (wie bei jedem Kongress, aber niemand beschwerte sich damals über den Preis) und ich 150 Unterschriften und viele andere mündliche Zusagen erhielt. Aus der Tasche des Vorsitzenden musste diese Ausgabe, die 10.000 Schweizer Franken gekostet hatte, bezahlt werden. In Paris verzichteten plötzlich 50 Mediziner und ließen mich mit den 500 gedruckten Ausgaben sitzen. Diese Lektion war nützlich, denn sie zeigte mir, dass Ehre teuer ist.

Die Stadt Genf hatte uns für den Eingang zwei Polizisten in Galauniform zur Verfügung gestellt; dort befand sich auch ein roter Teppich wie für die offiziellen Empfänge, und die Flagge von Genf wehte über dem Gebäude. Zum ersten Mal, zum Anlass eines wissenschaftlichen Kongresses wurde es uns erlaubt ein Bankett im Palais Eynard zu veranstalten, direkt neben den Universitätsgärten, wo dieses Schauspiel, rund um einen Brunnen, auf einer frisch gemähten Rasenfläche stattfand. Jodler und Tänzerinnen, die aus Lauterbrunnen gekommen waren, ein Luzerner Fahnenschwinger, sowie Schwinger aus dem Berner Oberland zeigten ihre Talente. Das alles begleitet von einem ländlichen Bauernorchester, in der Tracht ihres Kantons, bereitete uns ein wunderschönes schweizerisches Fest, das alle unter passendem Sternenhimmel vom Balkon des Palais Eynard aus bewunderten.

Zum Anlass des Festes erhielt ich überraschenderweise einen silbernen Teller, wo die Unterschrift aller teilnehmenden Ärzte eingraviert war, und eine Einladung vom Homöopathenverband von Großbritannien, zusammen mit einem rührenden Brief mit Danksagungen, mit meiner Frau zu einem großen Empfang im folgenden Jahr in London zu kommen.

Im Frühling 1932 brechen wir nach London auf. Bei unserer Ankunft erwartet uns eine Großraumlimousine, um uns in eines der besten Hotels Londons am Rande eines großen Parks zu bringen. Und die Überraschung war noch größer, als wir in dem Appartement, das für uns reserviert war, neben dem großen Schlafzimmer noch einen Salon erblickten, der mit Blumen verschiedenartigster Farben und Düfte geschmückt war. Das war wirklich ein märchenhaftes Blumenmeer, wie man es sonst nur bei einer großen Hochzeit sieht.

Zwei Tage lang wurde uns ein Auto zur Verfügung gestellt, um das Labyrinth von London zu erkunden. Dann, für den nächsten Tag waren Plätze für uns für das Stück „Miracle“, das zu dieser Zeit großen Erfolg feierte, reserviert. Die Hauptdarstellerin war eine englische Aristokratin, die die heilige Jungfrau Maria verkörperte. Das Stück fand in einer Kirche statt, wo man, gegen eine Säule gelehnt, die Statue der Jungfrau, die das Jesuskind in ihren Armen hielt, sah. Zu ihren Füßen kam eine in Tränen aufgelöste Gläubige in einem schwarzweißen Kostüm, die in ihren Armen ein Kind hielt, dass sie gerade zur Welt gebracht hatte, und flehte die Madonna um Gnade an. Plötzlich sah man, wie Leben in die Jungfrau kam und sie von ihrem Sockel herabstieg, um der Unglücklichen zu vergeben, deren Betrübnis so aufrichtig war, und sie gab ihr dann das Jesuskind im Austausch zu ihrem Neugeborenen. Es ist ein erschütternder Augenblick, als in einer beeindruckenden Stille die heilige Jungfrau das Kind zärtlich in ihren Armen hält und langsam wieder auf den Sockel steigt. Ein sehr ergreifendes Stück, das wunderbar gespielt wurde.

Am letzten Tag wurden wir zu einem Bankett mit 40 Gästen, die sich aus einflussreichen Mitgliedern der homöopathischen Fakultät des Royal Hospitals von London und ihren Partnerinnen in großer Toilette zusammensetzten, wofür, bitte glauben Sie mir, ein Menü mit unserem Namen darauf gedruckt worden war; nach allen Gesichtspunkten war dies ein Galaabendessen. Beim Dessert, nach einer charmanten und humorvollen Ansprache des Präsidenten der homöopathischen Fakultät, dürfen wir einem exzellenten Bariton zuhören, der die „Paillasse“ und einige Opernarien singt, abwechselnd begleitet von einem Pianisten und einem lustigen und hervorragenden Moderator, der uns Gedichte, Anekdoten und geistreiche Bemerkungen mit viel Humor deklamierte. Und das alles zu unserer Ehre. Wir hätten wirklich nie damit gerechnet, dass der Organisationsaufwand unseres Kongresses eine solche Anerkennung erlangen könnte, und wir werden diesen königlichen Empfang seitens unserer britischen Kollegen sicherlich nie vergessen.

Diese internationale Präsidentschaft, die erste, die drei Jahre lang verlängert wurde, war mir eine große Ehre und bereitete mir viel Freude, angesichts der Beziehungen mit meinen hervorragenden homöopathischen Kollegen aus verschiedensten Ländern und stellte mich aus wissenschaftlicher Sicht viele Male zufrieden, brachte aber auch finanzielle Opfer und große Sorgen mit sich, ganz zu schweigen von der beträchtlichen zusätzlichen Arbeit, die in der perfekten Organisation des Verbandes steckt.

Ich konnte von dieser Gelegenheit profitieren, indem ich bei jedem Kongress den Wert des Unterrichts, den ich in Amerika erhalten hatte, zur Geltung brachte, die Leute ermutigte und auf diese Weise eine intensive Propaganda betrieb, um die Wichtigkeit der traditionellen Homöopathie gegenüber Mischmethoden der Homöopathie zu zeigen. Diese, welche als moderne Homöopathie bezeichnet wurde, war voll von Kompromissen und versuchte, durch eine Verallgemeinerung der Indikationen zu allopathisieren, anstatt dem kostbaren Dogma der Individualisierung, das der Grundpfeiler unserer Lehre bleibt, treu zu bleiben.

Im Jahre 1933 hinterließ eine Kranke aus der hohen britischen Gesellschaft, die der Homöopathie, von der sie und ihre Familie seit langem profitierten, ihre Anerkennung zeigen wollte, der internationalen Liga in ihrem Testament 50.000 Pfund Sterling, um die Entwicklung und Propaganda der Homöopathie in der Welt zu fördern. Der äußerst strenge und traditionelle englische Notar forderte nähere Angaben über die offizielle Eintragung der homöopathischen Liga in den internationalen Verbänden, ihren Sitz, ihren Status, ihre finanzielle Lage, ihre Organisation, eine Mitgliederliste? Ach! Die Liga war nicht dazu im Stande, ihm ein einziges offizielles Dokument zu liefern und was den Status anbelangt, waren nur vier kopierte Seiten vorhanden mit dem Gründungsdatum, der Liste der Gründungsmitglieder und einigen ungenauen Absätzen über ihre Ziele und ihr Zustandekommen. Diese Papiere wurden als vollkommen ungenügend eingestuft, da sie in keinerlei Hinsicht der Gesetzlichkeit entsprachen, und die Spende wurde abgelehnt!!! Auch wenn ich, als Person, nichts unternahm, beschloss ich, beim nächsten Kongress, der in Arnhem in Holland stattfinden sollte, alle Mitglieder einzuberufen und angesichts des Mangels an Verantwortlichen in dieser Organisation auf meine Kosten einen Rechtsanwalt aus Genf damit zu beauftragen, die vorschriftsmäßigen Satzungen anzulegen, um einen permanenten Sitz der Liga festzulegen, nach allen Regeln des internationalen Rechts. Sie können sich nicht vorstellen, was für Hindernisse, Eifersüchte und Komplikationen mir in den Weg gelegt wurden, um dieses Ziel zu erreichen! Aber dank des unerschütterlichen und bestimmten Willens dieses hochkompetenten Anwalts, trotz der unzähligen Schwierigkeiten, die uns vor allem von den Franzosen bereitet wurden, wurde die Satzung ausgearbeitet und angenommen, und die Liga Homoeopathica Internationalis Medicorum wurde schließlich gesetzmäßig gegründet, mit ihrem Sitz in Genf. Das war ein hart erarbeiteter persönlicher Erfolg, der mir, dank der fortschreitenden Realisierung unseres Motivs, eine sehr große Genugtuung bereitete.

Neben der Homöopathie haben mich vor allem zwei andere Themen, angesichts der Hilfe, die sie der Homöopathie bieten können, schon immer in höchstem Maße interessiert. Das ist einerseits die Ophtalmo-Diagnostik(Irisdignostik), die es erlaubt, die seelischen und psychischen Probleme, die der Patient verdrängt oder vergessen hat, aufzudecken, und auf der anderen Seite die chinesische Akupunktur. Vor allem diese letzte Methode, die 5000 Jahre alt ist, ist eng mit der Homöopathie verwandt, da sie eine Behandlung der Zweiglein oder Wurzeln anerkennt, wie in der Homöopathie eine parzellare Behandlung von nur einigen Symptomen, oder eine allgemeine, grundsätzliche Behandlung, die das ganze Individuum versteht. Des weiteren war ich immer schon von der Farbfotografie begeistert, vor allem von Nahaufnahmen von Pflanzen, was es mir ermöglichte, in diversen Gesellschaften Vorträge über die Pflanzen des Botanischen Gartens zu halten, außerdem von den vier Jahreszeiten, dem Matterhorn im Winter, Spaziergang durch die Schweiz, Reisen nach Indien, alten grauen Häusern, Zermatt, Exkursionen zum Titlis, von der Weltausstellung 1939 in New York, usw …

Seit 1921 bin ich in Genf ansässig, wo ich die traditionelle, oder auch klassische Homöopathie praktiziere. Dank der wertvollen Zusammenarbeit mit meiner Frau, die Apothekerin ist, richten wir ein Labor zur Herstellung von homöopathischen Medikamenten ein: Zerstoßen, Verschüttelungen, Verdünnungen, Durchtränkungen und hohe Potenzen nach Hahnemann und Korsakow mit originalen, ultramodernen Maschinen, die nach den Regeln von Hahnemanns homöopathischer Pharmakopraxis konstruiert wurden, und wir schaffen einen beträchtlichen Vorrat von homöopathischen Mitteln, deren Wirkung sich als bemerkenswert erweist. Ich werde als homöopathischer Arzt akzeptiert und bin seit 1927 in der Schweiz als solcher der einzige in einem Rotary Club. Gegen Ende des ersten Weltkriegs, 1914-1918, melde ich mich in Frankreich über ein Jahr lang freiwillig als junger Arzt und arbeite in der Stadt Lyon, in drei Krankenhäusern, in einem Hotel – Gott, im Dienst von Professor Berard, in einem Militärkrankenhaus, dann auf der protestantischen Krankenstation. In Lyon, werde ich mit einer Medaille des Roten Kreuzes geehrt; dann in Besancon, im zivilen Hospiz, werde ich zusätzlich zur Chirurgie, speziell für den Typhusdienst, die Geschlechtskrankheiten und die Visite der Prostituierten bestimmt; und schließlich im Stadtkrankenhaus von Nimes, wo ich Allopathie und Chirurgie praktiziere und mich insbesondere um Augenheilkunde und Narkosen kümmere.

Den ganzen Winter lang von 1941-42 opfern meine Frau und ich zusammen unsere Abende dem Dienst beim Roten Kreuz in der Vermittlungsstelle für Kriegsgefangene, um nach Adressen von Gefangenen zu suchen und ihnen Kontakt zu ihren Familien zu verschaffen.

Mir wird das Privileg erteilt, zusammen mit Dr. Benjamin aus London als offizielle Vertreter der internationalen Liga, zum Welt-Homöopathie-Kongress in Rio de Janeiro im Jahre 1954 zu fahren und dort Reden zu halten. Im Jahre 1955, zum 200. Geburtstag von Hahnemann werde ich zusammen mit dem Arzt der englischen Königin und dem Arzt des Papsts, vom amerikanischen Institut für Homöopathie durch eine Einladung nach Washington geehrt, um dort Vorträge über den Begründer der Homöopathie und seine wissenschaftlichen, historischen, geographischen, literarischen, und künstlerischen Entdeckungen zu halten, die Hahnmann in der ganzen Welt machte, und um das hahnemannische Erbe in Erinnerung zu rufen. Außerdem trage ich die Übersetzung des ersten lateinischen Vortrags des jungen Hahnemann mit 20 Jahren über „Die wundervolle Konstruktion der menschlichen Hand“ vor. Auch verlese ich eine für das Jubiläum wichtige Rede über das bemerkenswerte Monument Hahnemanns mitten im Zentrum Washingtons. Diese ehrenwerte Gesellschaft verleiht mir eine spezielle Urkunde für die Wertschätzung meiner persönlichen Beiträge zur Entwicklung der Homöopathie. Dies war wirklich eine triumphale und unvergessliche Reise.

Zum Anlass dieses 200 jährigen Jubiläums halte ich in Bern, in der Schweizer Gesellschaft der Homöopathen eine Rede über die Homöopathische Methodologie. Dann erstelle ich die bisher vollständigste Ikonographie aus Schwarzweiß- und Farbreproduktionen von fast allen Kupferstichen, Portraits, Gemälden, Medaillen, Medaillons, Statuen, Monumenten mit Abbildungen von Samuel Hahnemann, welche beim internationalen Kongress in Stuttgart im Jahre 1957 ausgestellt wird. Und ich bin sehr empfänglich für die Glückwünsche, die ich von Dr. Tischner bekomme, einem kleinen Mann mit weißem Kinnbart, Historiker und Autor eines großen Bandes über die Geschichte der Homöopathie, der diese selbst nicht einmal alle kannte, sowie für die schmeichelnde Anerkennung des deutschen Schriftstellers Herbert Fritsche, der ein bemerkenswertes Buch über das Leben Hahnemanns geschrieben hat. 1959 werde ich vom American Institute of Homoeopathy und von der International Hahnemannian Association dazu aufgefordert, beim Homöopathiekongress in San Francisco ein homöopathisches Seminar über die Nosoden zu leiten, und bei meiner Rückkehr halte ich für die Mediziner aus Philadelphia ein Seminar über die Untersuchung eines Kranken.

Mit großem Eifer fahre ich damit fort, die wertvollen Lehren Hahnemanns durch Schriften und Reden zu verbreiten, und zusammen mit meinem Schüler, Dr. Künzli, fertige ich eine Neuübersetzung der Originalausgabe der „Chronischen Krankheiten“ von Hahnemann an mit einem sehr wichtigen Index. Aus diesem einzigartigen und bemerkenswerten Werk, das aber unübersichtlich, dichtgedrängt und in einem etwas mittelalterlichen Stil geschrieben ist, machen wir eine noch nicht da gewesene Präsentation mit Kapitelanfängen, die die Texte von Hahnemann in einem neuen Licht zeigen, nämlich Kapitel, die klar getrennt und detailliert sind, eingeteilt in die latente, in die ausgebrochene und in die fortgeschrittene Psora und in ihre Behandlung.

Im September 1960 organisiere ich ein Forum in Adelboden in den Schweizer Alpen, in einem gebirgigen Ambiente, auf 1500 Metern, mit 30 französischen Kollegen. Während dieser acht Tage machen wir in der Früh Exkursionen zum Öschinensee zum Hahnenmoospass, zum Blausee, usw… , nachmittags hören wir Vorträge über Homöopathie und abends halten wir theoretische und praktische Sitzungen ab, über die Kunst der detaillierten Anamnese und Untersuchung eines Kranken aus homöopathischer Sichtweise. Ich machte ganz neue Bemerkungen über die Materia Medica und Beifügungen und Anmerkungen von Kent selbst über mehrere Mittel, die im zehnbändigen „Guiding Symptoms“ von Hering enthalten sind. Kürzlich kam darauf eine Antwort in Tignes, auf 2200 Meter Höhe, in der Nähe von Val d’Isère, wo direkt neben Skiabfahrten, in der Früh und am Nachmittag, mit einem Führer eine Ausstellung über die „Aphorismen des Hippokrates“ von von Bönninghausen gestaltet wurde, und um es nicht zu vergessen, die wichtigsten Fragen bei der Anamnese eines chronischen Falls dargelegt wurden und schließlich noch kritische Erörterungen von einigen Krankheitsfällen.

Im Jahre 1963, zum Anlass des Kongresses der internationalen homöopathischen Liga in Deutschland, wo sich zur gleichen Zeit der deutsche Homöopathenverband versammelte, präsentiere ich in Bad Godesberg, der Kongressstadt in der Nähe von Bonn, wo kurz zuvor General de Gaulle vorbeigekommen war und man noch die Blumendekoration sah, eine wichtige Arbeit über den Kentianismus und die Kentianer, auf Deutsch. Dieses Thema wurde vor allem von den Deutschen kritisiert, die es im übrigen völlig ignorierten, dass ich zahlreiche Kritikpunkte und eine leidenschaftliche Debatte geplant hatte. Ach die deutschen Homöopathen, die sich schon seit langem von gewissen hahnemann’schen Traditionen befreit haben! Wenn sie nicht ihre Mittel durcheinander mischen, oder den Pluralismus der Franzosen anwenden, dann beschränken sie sich durchwegs auf die Verschreibung von sehr niedrigen Verdünnungen: 1 bis 6 im Normalfall und sie kritisieren und machen sich über die hohen Potenzen, die vor allem von Kentianern empfohlen werden, lustig. Eine C30er Potenz wird von ihnen schon als sehr hoch betrachtet! Wenn man ihnen von einer C200er oder gar von einer C10.000er(XM) erzählt, schauen sie einen schief an, wie jemanden, der nicht ganz normal ist, der träumt oder sich etwas vormacht. Aber das Außergewöhnliche ist, dass sie stets kritisieren, es aber nie wagen, ihre Vorurteile einem bona fide Versuch zu unterwerfen, und sie wiederholen gegenüber den Vertretern von hohen Verdünnungen die selben Argumente, wie jene, die die Allopathen den Homöopathen, die niedrige Verdünnungen verschreiben, vorhalten! Auch war ich fassungslos darüber, nicht nur keine einzige Kritik nach der Lesung meines Vortrags zu Ohren zu bekommen, sondern im Gegenteil auf der Stelle von meinen Kollegen aus dem Oppositionslager gelobt zu werden, falls man es so nennen kann, und am Ende des Kongresses die Entscheidung des Deutschen Homöopathenverbandes zu hören, mir den Preis für die beste präsentierte Arbeit eines Ausländers auf diesem Kongress über die Lehre der Homöopathie durch eine Bronzemedaille mit dem Profil Hahnemanns zu verleihen.

Am Abend hören wir ein wundervolles Konzert des Kölner Symphonieorchesters, das aus 80 Musikern besteht. Am nächsten Morgen klopft man an meine Türe und überreicht mir zwei Platten des Konzerts, das ich am Vorabend gehört hatte, als Souvenir und Zeichen der Wertschätzung… ist das nicht rührend?

Ich veröffentliche ein kleines Schriftstück über die Berufskrankheiten und ihre homöopathischen Mittel und einen Prospekt über die Mondphasen, mit den homöopathischen Medikamenten, die je nach dem Stand des Monds mehr oder weniger wirkungsvoll sind.

Dieser Kongress war sehr gut organisiert, und wir hatten die Möglichkeit, zahlreiche Ideen unter deutschen, französischen, belgischen, holländischen, italienischen, spanischen, argentinischen, mexikanischen, hinduistischen, englischen und schweizerischen Homöopathen auf einem Boot bei einer charmanten Exkursion auf dem Rhein auszutauschen.

Sechs Monate später hielt ich in London vor der Königlichen Gesellschaft der Homöopathen die selbe Rede über das Leben Kents und den Kentianismus auf Englisch, worauf ich sehr anerkennende Kritiken von den bedeutendsten Mitgliedern der Gesellschaft zu hören bekam. Am Abend wurde zu meiner Ehre ein Essen organisiert, und es wurden Reden gehalten, die mich tief berührten. Darauf stieg ich in ein Flugzeug nach Brüssel, wo ich den selben Vortrag vor großem Publikum auf Französisch hielt, und dann am nächsten Tag organisierte ich ein kleines Seminar zum Studium des Repertoriums, berichtete von Mitteln über die Wechseljahre und diskutierte einige Krankheitsfälle mit zwanzig belgischen Kollegen, die darauf versessen waren, sich in Homöopathie weiterzubilden.

Bei einer erneuten Reise nach Indien, im Jahre 1963, präsidiert von Dr. Diwan Harish Chand, der einst mein Schüler war, halte ich zwei Vorträge, den einen in seiner Praxis vor 20 Medizinern und dann beim Verband der Homöopathen vor hundert praktizierenden Ärzten, über „die Ausübung der Homöopathie bei Patienten“ auf Englisch, und darauf in Bombay, vor 20 Professoren und über 500 Studenten, das selbe Thema, stundenlang, veranschaulicht durch zahlreiche lebendige Beispiele, über spektakuläre Genesungen, und das vor einem Auditorium, das extrem aufmerksam, enthusiastisch und ganz begierig auf neue homöopathische Kenntnisse war.

Daraufhin veröffentliche ich einen Vortrag, den ich in Bern über die homöopathische Methodologie gehalten habe; noch einen über die homöopathische Prophylaxe, nach einem Vortrag, den ich in England zum Anlass des Kongresses der Liga gehalten habe, sowie über die Schätze des Organon.

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Ansonsten bin ich der Klassischen Homöopathie treu geblieben, jener des Gründers und erst auf meinen zahlreichen Reisen und Exkursionen haben ich bemerkt, dass jene Ärzte, die am berühmtesten, kompetentesten und von der Öffentlichkeit, sowie von ihren Kollegen, bei den zahlreichen Kongressen, an denen ich teilgenommen habe, am meisten geachtet sind, immer jene Homöopathen sind, die die Lehre von Hahnemann respektieren und genauer genommen jene, die die Chance hatten, direkt oder indirekt Schüler von Kent gewesen zu sein.

Zuletzt richte ich einmal die Woche, mittwochs, ein kleines Unterrichtszentrum in Genf ein, eine Art Forum für Ärzte, die an Homöopathie interessiert sind, neben privaten Praktika für einige arbeitende Homöopathen, die sich in der Lehre weiterbilden wollen; mein Ziel ist es, wie Hahnemann zu handeln, der einmal sagte, dass er einen Arm nach vorne streckte, um seinen Weg zum Ideal zu realisieren, und den anderen Arm nach hinten, um den nachfolgenden Generationen zu helfen, sich in dieser einmaligen Methode, der einzigen, die auf einem Gesetz und auf Prinzipien für die Verabreichung von Medikamenten an Kranke basiert, zu verbessern.

„Autobiographie et Conversion à l’Homoeopathie du Docteur Pierre Schmidt“, Groupem. Hahnem. Lyon, 2 (1964/1965), 343-370.

Die deutsche Veröffentlichung an dieser Stelle erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Dr. med. Jacques Baur (1920-2003), Lyon.

Dr. Pierre Schmidt