Laudatio

Laudatio

von Dario Spinedi

Vortrag, gehalten am 29.5.1992 auf der Jahrestagung des Deutschen Zentralvereins homöopathischer Ärzte in Bad Krozingen

Dr. Jost Künzli von Fimmelsberg ist am Sonntag, dem 5. April 1992, gestorben.

Es ist mir eine große Ehre, von dem Menschen zu reden, den ich so sehr geliebt habe. Vor circa 14 Jahren lernte ich Dr. Künzli bei der Zürcher Vorlesung kennen, und diese Begegnung prägte mein Leben.

Damals arbeitete ich in der pädiatrischen Abteilung eines Zürcher Spitals und bat den dort tätigen Oberarzt, daß er mir die Möglichkeit gebe, die Fälle, bei denen sie Mühe mit der Schulmedizin hatten, homöopathisch zu behandeln. Aus Neugier stimmte er zu. Notabene: ich hatte damals sehr wenige Kenntnisse in der Homöopathie.

Aber er war da, Dr. Künzli, der meine Anamnesen mit Wohlwollen und Geduld anhörte und dann entsprechende Ratschläge bezüglich der Mittelwahl erteilte. Resultat: Kein einziger der behandelten Fälle verließ das Spital ungeheilt, natürlich zum großen Erstaunen des dort tätigen Professors, der nichts von der homöopathischen Kur wußte. Darunter waren Fälle wie:

  • Steven-Johnson-Syndrom,
  • Purpura haemorrhagica idiopathica.

(Es lief übrigens damals eine gesamtschweizerische Studie über Kinder mit Purpura idiopathica unter der Behandlung mit Immunglobulinen und Cortison, und erstaunlicherweise waren die einzigen Fälle in der ganzen Schweiz, die geheilt wurden, jene homöopathisch behandelten.)

Es war erstaunlich für mich, daß Dr. Künzli mir mit meinen wenigen Informationen solche Mittel empfahl, die fast mit mathematischer Sicherheit zum Erfolg führten.

Meine endgültige Konversion zur Homöopathie fand aber statt, als meine Frau vor 12 Jahren, anläßlich eines Kaiserschnittes, eine Sepsis mit 42 Grad Fieber entwickelte. Im dortigen Spital schlug man vor: Cortisonbehandlung und Dreierkombination Antibiotika.

Verzweifelt rief ich Dr. Künzli an und bat um Rat. Seine knappe Antwort: „Nehmen Sie Ihre Frau nach Hause, setzen sie alle Medikamente ab und warten sie auf die Symptome. Dann berichten Sie mir.“ Ich stand nun da vor dem vereinigten Ärztekonsilium und dem Professor, wo mich alle wie einen Mörder anschauten und verurteilten. Man mußte das übliche Formular ausfüllen, daß die ganze Verantwortung für dieses Vorhaben auf mich falle, falls der Frau etwas passieren sollte – und für sie war klar, daß das Schlimmste eintreten würde; man hätte mir dann die ärztliche Tätigkeit verbieten können.

Mein Vertrauen in Dr. Künzli war aber inzwischen so sehr angewachsen, daß ich ohne Zögern unterschrieb. Mit Hilfe eines Nachbarn trugen wir die hochfiebernde Frau, die an starkem Schüttelfrost litt, inklusive der angeschlossenen Schläuche und Flaschen, nach Hause. Das neugeborene Kind sollte man laut Ratschlag von Dr. Künzli trotz allem zum Stillen anlegen.

Was nun? Ich sollte auf Symptome warten. Aber welche? Der Himmel kam mir entgegen: Ich beobachtete im Laufe der Zeit, daß meine Frau jedesmal zu husten begann, wenn ich das Zimmer betrat. Als ich dies bemerkte, rief ich sofort Dr. Künzli an, der mir telefonisch riet, ihr Phosphor C 30 zu geben (erst später entdeckte ich im Repertorium die Rubrik: „Hustet, wenn jemand das Zimmer betritt“ – mit Phosphor als einzigem Mittel).

Moral der Geschichte: Am nächsten Tag war meine Frau fieberfrei. Nach zwei Tagen entfernte ich die Drainageschläuche aus der Wunde und am dritten Tag die Klammern. Die Überraschung im Spital war groß, als meine Frau am dritten Tag persönlich anrief und fragte, wann sie kommen solle, um die Flaschen zurückzubringen. Eine andere Frau, die zusammen mit meiner Gattin im Spital gelegen und nach Kaiserschnitt ebenfalls eine Sepsis bekommen hatte, rief vier Wochen später bei uns zuhause an, weinend und verzweifelt, weil sie trotz Cortison und Antibiotika immer noch schwerkrank sei.

Da war nun bei mir aus einem halben Saulus ein ganzer Paulus geworden. Die Bewunderung für diesen Mann, der mir mit Fakten und nicht mit Worten die Wirksamkeit der Homöopathie gezeigt hatte, war grenzenlos.

Und dabei war er so bescheiden, so unauffällig, so knapp mit Worten. Die ersten Male, als ich in seine Vorlesung kam, überlegte ich mir ernsthaft, ob ich weiterhin zu ihm gehen sollte; denn er sagte so wenig. Dann aber hatte ich, dafür danke ich Gott, noch genug gemeinsame Jahre mit ihm, um zu erfahren, daß es Menschen gibt, die mit wenigen Worten alles sagen.

Die Eigenschaften, die das Wirken von Dr. Künzli prägten und denen ich immer begegnete, waren:

  • Bescheidenheit: er hatte eine angeborene Abneigung zur Selbstdarstellung und zum Personenkult.
  • kritischer Geist: nichts übernahm, noch gab er weiter, was er nicht mehrmals geprüft hatte.
  • Vorsicht: das erste Gebot, dem Patienten nicht zu schaden.
  • Geduld: nie habe ich bei ihm in vielen Jahren, trotz meiner vielen Fragen und Hilferufe, Ungeduld bemerkt. Auch sein Therapiekonzept war von Geduld geprägt. Nicht hektisches, schnelles Wechseln der Mittel, sondern ruhig auswirken lassen und beobachten.
  • Realismus: er war Realist und praxisbezogen. In vielen Kursen gegenwärtig werden die „aufregenden“ Dinge, die „small remedies“ etc. gebracht. Genauso habe ich das in der Schulmedizin erlebt: Je seltener die Krankheit war, die der Kandidat erkannte, desto höher die Punktzahl. Dr. Künzli machte es gerade umgekehrt: Er wollte Praktiker ausbilden und konzentrierte sich deshalb in seiner Lehre auf das Häufige und das Normale, damit man nach zwei Jahren Kurs anfangen konnte zu praktizieren.
  • Selbstlosigkeit: seine Kurse und Vorlesungen waren die billigsten auf der ganzen Welt.
  • Eine große Güte war der Nährboden für die obigen Eigenschaften.

Auf sein Wirken soll nun knapp eingegangen werden. Dieses Wirken steht vor uns wie ein Getreidefeld im August, voll goldener Ähren, bereit für die Ernte. Es ist nun an uns, die Körner sorgfältig zu pflücken und zu feinem Brot zu verarbeiten.

Dr. Künzli hat die klassische Homöopathie durch unerhörte Arbeitsanstrengung auf ein nie dagewesenes Niveau gebracht. Er hat Hahnemann als Ausgangspunkt seiner Tätigkeit genommen. Das ,Organon der Heilkunst‘ war ihm sein ganzes Leben lang Grundlage. Er hat den Inhalt kritisch überprüft, Tag für Tag in seiner Praxis. So äußerte er sich dazu vor einer Versammlung des Schweizerischen Vereins homöopathischer Ärzte im Jahre 1990 [1]:

„Die Theorie der Homöopathie, das ist das Organon, nicht wahr. Das ist die erste Theorie der Homöopathie gewesen, vor ungefähr 200 Jahren. Das Organon hat ja sechs Auflagen erlebt; die letzte Auflage ist posthum erschienen. Hahnemann hatte sie selbst noch fertig geschrieben; aber sie ist zu seinen Lebezeiten nicht mehr zum Druck gelangt. Diese sechste Auflage ist nun die Summe seines Lebens. Deshalb kann man heute nicht mehr z.B. mit der vierten Auflage kommen und sagen: ‚Ah, hier hat Hahnemann sinkende Pharmakopollaxie angewendet!‘ – also zuerst höhere Potenzen, dann niedrige und dann noch niedrigere. Das kann man nicht mehr! Dies hat Hahnemann eine Zeitlang gemacht; aber er hat es später wieder verlassen. Er hat das ganze Leben an der Methode gefeilt, deshalb geht einfach nichts über die sechste Auflage. Darum ist sie diejenige, auf die wir uns in Zürich stützen.“

Man kann sagen, daß er eine gewisse Hahnemann-Renaissance eingeleitet hat, wie er selbst dies einmal brieflich niederlegte.

Er erkannte auch die Grenzen des „Organon“ – es ist ja klar, daß auch ein außerordentlicher Mensch wie Hahnemann nicht alles in seinem Leben entdecken konnte. Einmal sagte er uns: „Man soll die alten Autoren nicht zu Orakeln werden lassen. Die Homöopathie ist etwas Lebendiges, das weiterentwickelt werden soll!“ Der fließende Übergang zu Kent war gegeben.

Durch seinen Lehrer Pierre Schmidt kam er zur Kenntnis der immensen Arbeit Kents, zu dessen „philosophy of homoeopathy“ und dessen Repertorium. HAHNEMANN – KENT – SCHMIDT: Das Werk dieser drei Meister wurde aufgenommen und einer kritischen Überprüfung unterzogen. „Kritisch“ heißt bei Dr. Künzli – es sei nochmals erwähnt: das Gelesene in der Praxis anwenden. Was sich mehrfach bewährt, wird bestätigt, was sich nicht bewährt, zur Seite getan.

Dr. Künzli sagte dazu [1]:

„Ich basiere ganz genau auf dem Aufbau des Organon‘und ganz genau auch auf der Kentschen ‚philosophy‘; denn Kent hat ja seine Vorlesungen auch ganz auf dem ‚Organon‘ aufgebaut. Er hatte vor sich auf dem Pult das Organon aufgeschlagen, hat daraus einen Paragraphen vorgelesen und dann die Exegese dieses Paragraphen gegeben. Die ‚philosophy‘ beruht also ganz genau auf dem Organon. Darum kann man eben vieles, was in der Kentschen ‚philosophy‘ enthalten ist, auch heute noch nehmen. Sie enthält Kapitel, die wirklich ewig ihre Gültigkeit behalten. Auch wenn Sie sie in tausend Jahren lesen, werden sie noch genauso gültig sein wie heute. Diese Kapitel haben wir in Zürich beibehalten.“

Es ist somit im Laufe von vier Jahrzehnten ein Destillat aus der großen homöopathischen Literatur entstanden, bestehend aus praktisch Bewährtem. Dadurch ist er zu einem Leuchtturm der europäischen und der Welthomöopathie geworden.

Wer hat schon die Szene vergessen beim Ligakongreß 1988 in Athen, als Altmeister Ortega eine Passage aus dem Organon bestätigt haben wollte und auf Dr. Künzli zuging, um Unterstützung zu suchen. Wie groß war dann seine Erleichterung, als dieser dem südamerikanischen Meister zustimmte! Dr. Ortega hatte nicht lange überlegt, zu wem er gehen sollte: Es war klar,

Dr. Künzli war die höchste Autorität.

… oder als ein schwerkranker indischer Homöopath Dr. Künzli unter den vierhundert dort anwesenden Ärzten rufen ließ, damit er ihm Hilfe bringe.

… oder die reichliche Korrespondenz aus aller Welt; er hatte auf Fragen vieler Kollegen, medizinischer, pharmakologischer oder menschlicher Art zu antworten.

Bei den wichtigen Werken war er mit Rezensionen dabei. Auf zweideutige Artikel antwortete er dem Autor persönlich mit klärenden Anweisungen. Die Reinheit der Lehre war ihm zur Lebensaufgabe geworden. Vor allem in der heutigen Zeit, wo viele junge homöopathische Ärzte herumirren auf der Suche nach dem Roten Faden, war er der Garant, Hüter und Lehrer des reinen Wissens der homöopathischen Heilkunst geworden. Warum hat man viele Stunden Zug- oder Autofahrt in Kauf genommen, um in seine Vorlesungen und später zur Supervision zu fahren? Weil man gespürt hat, daß die Flamme des Wissens dort am stärksten leuchtet.

Das lange Studieren und Forschen Künzlis bestätigt im Wesentlichen die 6. Auflage des „Organon“ im vollen Umfange sowie folgende Kapitel der „Theorie der Homöopathie“ Kents:

  1. Die Kentsche Hochpotenzskala
  2. Das Krankenexamen

Spezielles Gewicht legte Dr. Künzli auf die Fragetechnik. Dazu äußerte er sich folgendermaßen [1]:

„Bei der Fallaufnahme gibt es verschiedene sehr wichtige Regeln zu beachten. Beim Befragen des Patienten soll man fünf Arten von Fragen strikte meiden: Man soll

  • keine direkte Fragen stellen,
  • keine Suggestivfragen,
  • keine Optionsfragen oder
  • solche Fragen, die mit ‚ja‘ oder ‚nein‘ beantwortet werden können,
  • auch nicht Fragen, die der Patient nicht versteht, z.B. irgendeinen fachtechnischen Ausdruck.

Das sind Dinge, die man sehr beachten muß und die man üben muß. Wenn man so diese Seminare hört, wie da direkt gefragt wird – das ist ekelhaft! Auf diese Weise können Sie ja alles aus dem Patienten herausfragen und in ihn hineinsuggerieren. Das muß man also ganz vorsichtig machen, man muß die Symptome vorsichtig aus dem Patienten herauslocken. Die Fallaufnahme ist also wirklich eine ganz große Sache.“

  1. Der Wert der Symptome
  2. Die homöopathische Aggravation
  3. Die Prognose aus der Reaktion auf die erste Gabe

Dazu wiederum Dr. Künzli [1]:

„Das ist nun ein sehr, sehr schönes Kapitel, vielleicht das schönste in der ganzen Kentschen ‚philosophy‘. Das sind die zwölf Reaktionen, die man beobachten kann. Das ist heute noch etwas weiterentwickelt worden. Aber diese zwölf Reaktionen sind der Grundstock, an denen läßt sich nichts herumdoktern.“

  1. Die zweite Verschreibung

Dr. Künzli dazu [1]:

„Die zweite Verschreibung ist in der Kentschen ‚philosophy‘ nicht ganz so gut geraten. Kent hat es, glaube ich, selbst irgendwo zugegeben. Darum habe ich eine etwas klarere Fassung für Zürich ausgearbeitet.“

Diese Kapitel machten das Kernstück seiner Zürcher Vorlesungen aus. Dennoch war er auch bei Kent nicht mit allem einverstanden:

  1. Die ersten Kapitel der „philosophy“ über die mehr philosophischen Aspekte erwähnte er in seinen Vorlesungen nie, da er vor allem praktische Gesichtspunkte für eine korrekte Therapie besprechen wollte. Dr. Künzli war sehr nüchtern. Er zählt zu den „wissenschaftlichen“ Homöopathen. Das sind solche, die sich im Sinne Hahnemanns ausschließlich an Beobachtungen und Tatsachen halten und kämpfen, damit die Homöopathie in den Kreis der „ernsten Wissenschaften“ aufgenommen wird. Dies kann nur geschehen, wenn man eine klare, saubere Therapie betreibt, frei von allem Aberglauben und Spekulationen.
  2. Nicht einverstanden war er auch mit der übertriebenen Bedeutung, welche den Geistes- und Gemütssymptomen in der „philosophy of homoeopathy“ beigemessen wird.Dr. Künzli stellt ein neues Hierarchisierungsschema auf, wobei er sich auf § 153, auf die letzten Schriften Kents in den „Minor Writings“ und auf seine lange Erfahrung stützt. Dabei stehen an
    1. die auffallend sonderlichen Zeichen und Symptome, gefolgt von
    2. den gut beobachteten Geistes- und Gemütssymptomen und
    3. den Allgemeinsymptomen. Danach kommen
    4. die Ursache, wenn eine klare Ätiologie vorhanden ist, und schließlich
    5. die Lokalleiden.Und wenn es unter den Lokalleiden etwas Auffallendes gibt, gehören auch sie nach oben, zur ersten Kategorie.

Er hat sich oft darüber beklagt, wie heute die allgemeine Tendenz ist, sich in ein psychologisches Dickicht zu verlieren und dabei das Wesentliche des Falles zu übersehen. Dazu äußerte er sich folgendermaßen [2]:

„Bezüglich der Wertigkeit der Geistes- und Gemütssymptome ist eine Irrmeinung verbreitet. Viele halten die Gemütssymptome für die wichtigsten, dabei bezeichnet Hahnemann ausdrücklich die auffallenden Symptome als die wichtigsten. Die Geistes- und Gemütssymptome sind keineswegs die wichtigsten Symptome, sondern sie sind manchmal so etwas wie das Zünglein an der Waage. Hören Sie, wie Hahnemann sich ausdrückt. Im ‚Organon‘ spricht er zuerst über die Gemüts- und Geisteskrankheiten und sagt dann im Paragraph 211:

‚Dies geht so weit, daß bei homöopathischer Wahl eines Heilmittels, der Gemütszustand des Kranken oft am meisten den Ausschlag gibt, als Zeichen von bestimmter Eigenheit, welches dem genau beobachtenden Arzte unter allen am wenigsten verborgen bleiben kann.‘

Das gibt oft den Ausschlag! Bei einem Fall sind Sie im Zweifel und denken z.B., daß könnte entweder Sulfur oder Nux vomica sein. Aber der Geistes- und Gemütszustand ist bei beiden Mitteln sehr verschieden; dann gibt eben der Gemütszustand den Ausschlag, entweder für Sulfur oder für Nux vomica. Das gibt den letzten Anstoß! Als letztes schauen Sie den Patienten an: Wie schätzen Sie seinen Gemütszustand ein? Ist er ein Melancholiker, ist er phlegmatisch usw.? Aufgrund dessen entscheiden sie sich vielleicht für ein Mittel und lassen ein anderes fallen, das diesem Gemütszustand nicht entspricht.

Die Gemütsverfassung gehört also absolut nicht an die höchste Stelle. Das müssen sie sich unbedingt merken! Wenn Sie nämlich den Gemütszustand als Wichtigstes nehmen, besteht die Gefahr, daß Sie ganz gewöhnliche Geistes- und Gemütssymptome auflisten und mit denen repertorisieren. Dieser Fehler wird häufig begangen: Es werden einfach viele Geistessymptome entweder am Computer oder von Hand zusammengestellt; dann wird nach diesen Symptomen ein Mittel bestimmt, ohne auf die anderen Symptomen zu achten. Das geht ganz daneben, auf diese Art und Weise werden Sie kein Simillimum finden! So geht es nicht. Die Geistes- und Gemütssymptome stehen unbedingt erst an zweiter Stelle.“

Während vieler Jahre hat sich Dr. Künzli um eine klare Theorie und Praxis in der Homöopathie bemüht, mit jahrelangen Kursen in St. Gallen, dann in Frankfurt, dann in Spiekeroog. Außerdem an vielen Orten, von denen wir gar nicht wissen. Einige eher zufällige Beispiele: Der D-Kurs in Bad Brückenau, der Sykosis-Vortrag 1982 im Krankenhaus für Naturheilweisen in München-Harlaching, Patientenvorstellung etwa 1980 in Weidenkam. Sein letzter Kurs fand im April 1991 in Österreich statt. Mit Publikationen in der „Allgemeinen homöopathischen Zeitung“ ab 1954 und von Anbeginn an sowohl in der „Zeitschrift für Klassische Homöopathie“ ab 1958 als auch im „Deutschen Journal für Homöopathie“ ab 1982. Vor allem aber durch seine Zürcher Vorlesung, die er von 1977 bis 1991 regelmäßig wöchentlich hielt.

1985, anläßlich seines siebzigsten Geburtstages, definierte er, was eine homöopathische Schule ausmache:

  1. wenn es eine gewisse Anzahl Schüler gebe, die es genauso machen, beziehungsweise danach bestrebt sind, sich dem Ideal des Meisters zu nähern.
  2. daß der Kontakt mit dem Lehrer gegeben sein muß und
  3. daß die Schüler untereinander den Kontakt halten müssen mit gegenseitiger Anregung und Hilfe.

Die Schlußfolgerung daraus war, daß Dr. Künzli ab 1986 parallel zur Vorlesung jede Woche ein zweites Mal nach Zürich kam, um die Supervision zu halten, und dies bis 1991. Im Rahmen dieser Supervision trugen Kollegen aus der Schweiz, aus Deutschland und Österreich schwierige Fälle vor, die dann mit seiner Hilfe gelöst wurden. Diese Supervision läuft nun als sein Vermächtnis weiter. Durch die Vorlesung und vor allem durch die Supervision konnte man tiefere Einblicke in seine Arbeitsweise gewinnen. Dabei kamen das ungeheure Wissen, das scharfe Denken und die Kenntnis des menschlichen Herzens dieses großen Meisters zum Vorschein. In dieser Supervision ist im Verständnis der klassischen Homöopathie ein Höhepunkt erreicht worden. Leider fehlt uns Dr. Künzli aber viel zu früh; man ist auf halbem Wege stehengeblieben, denn er hatte noch so vieles mitzuteilen.

Das Repertorium war ihm ein wichtiges Instrument, und er hat durch seine unzähligen Kurse das Repertorisieren in Europa verbreitet. Durch wiederholte praktische Beobachtungen hatte er erkannt, daß die Symptome der Hahnemannschen Arzneimittelprüfungen eine noch kaum erkannte enorme Bedeutung für die klinische Praxis haben. Um sie für den homöopathischen Praktiker verfügbar zu machen, hat er in fast vierzigjähriger Arbeit Symptom für Symptom aus diesen Prüfungen in das Kentsche Repertorium eingetragen, welches bis dato nur klinisch verifizierte Symptome enthielt. Aus meiner eigenen Praxis kann ich bestätigen, daß gerade die Nachträge dieser Hahnemannschen Symptome äußerst wertvoll sind und sich bei mir schon oft praktisch bewährt haben.

Kaum war ein Jahr seit dem Erscheinen des „Repertorium Generale“ vergangen, schon stand etwas Neues auf dem Plan: die Integration des Repertoriums von Boger-Bönninghausen in den Kent. Eine heikle Arbeit, wenn man bedenkt, wie verschieden die zwei Repertorien aufgebaut sind. Dennoch waren im Bönninghausen-Repertorium viele Schätze verborgen, die man unbedingt verfügbar machen mußte. So äußerte sich Dr. Künzli 1990 zu diesem Vorhaben [1]:

„Wir sind jetzt dabei, das Repertorium von Bönninghausen-Boger in den Kent einzutragen. Das Repertorium von Bönninghausen-Boger enthält eben viele Mittel, und zwar im zweiten und dritten Grad, welche im Kent noch nicht enthalten sind. Im Bönninghausen-Boger gibt es schöne Symptome und schöne Mittel, die noch nicht im Kent stehen. Bönninghausen-Boger eignet sich speziell gut für unsere europäischen Verhältnisse, habe ich bemerkt. In einer Arbeitsgruppe von 40 Kolleginnen und Kollegen arbeiten wir nun alles in den Kent ein. Jeder hat ein, zwei Kapitel und arbeitet es ein, dann wird es wieder ausgedruckt und korrigiert. Das soll also ein Super-Repertorium geben! Aber das braucht viele Jahre. Und anschließend, wenn dies fertig ist, haben wir vor, die ,Corrections and Additions´ von Boger, die ,Corrections and Additions´ von Siva Rama, den Boericke und den Phatak auch noch mitaufzunehmen. Aber ich kann Ihnen etwas verraten: Ich habe gesehen, wenn wir einmal den Bönninghausen-Boger im Kent haben, sind alle anderen eigentlich auch schon darin enthalten. Denn fast alles im Boericke, fast alles im Phatak stammt aus dem Bönninghausen-Boger! Das wird also nicht mehr so viel Arbeit geben. Es war sicher die beste Idee, daß wir gerade mit dem Schwierigsten begonnen haben. Trotzdem wird diese Arbeit noch viele Jahre dauern. Denken Sie also nicht: ‚Jo, ich warte jetzt mit dem Kauf meines Repertoriums, es kommt ja etwas Besseres.‘ Das dauert noch viele, viele Jahre, bis es soweit ist!“

Vierzig Kollegen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz treffen 1990 in St. Gallen ein, und unter seiner Leitung wird Kapitel für Kapitel besprochen, welche Rubriken aus dem Boger an welche Stelle des Kent gehören. Nur ein Mensch mit der Erfahrung Dr. Künzlis konnte solch ein schwieriges Unternehmen zu einem guten Ende führen. Er arbeitete zeitweise zehn Stunden mit uns. Diese Arbeit läuft jetzt weiter. Sein Ziel war ein Super-Repertorium im Sinne des „Synthetischen“ für alle Kapitel. Es besteht viel Hoffnung, daß dieser Wunsch im Laufe der Jahre in Erfüllung gehen wird [3].

Die Realisierung eines geheimen Wunsches von Dr. Künzli, eine homöopathische Poliklinik und Klinik, konnte er nicht erleben.

Im letzten Jahr seiner Erkrankung war ich ihm besonders nahe und hatte auch Gelegenheit, mit ihm über die Entwicklung der Homöopathie in Europa in den letzten Jahren zu reden. Die Rede kam auch auf die Vithoulkas-Schule und er äußerte sich über die Punkte, die er bei ihm und seinen Schülern kritisierte. Die wesentlichen davon möchte ich wiedergeben:

  1. Die vielen Suggestivfragen in der Anamnese, sowohl bei ihm als auch bei seinen Schülern.
  2. Die Erweiterung des Kent-Schemas von Vithoulkas bezüglich Prognose sei eine unnötige Verkomplizierung; das Kentsche Schema sei immer noch das beste.
  3. Die Abstützung dieser Schule auf die Energiekurve, das heißt, wenn Energie und Wohlbefinden (laut Dr. Künzli meist Suggestiveffekte) anhalten, dann wartet und wartet man, ob der pathologische Befund verschwindet oder nicht; man richtet sich da nicht nach objektiven Befunden. Man solle jedoch alle möglichen Parameter heranziehen wie in der Schulmedizin, um den Verlauf zu beurteilen.
  4. Man wartet da viel zu lange mit der Repetition, gerade bei objektiven Befunden.
  5. Q-Potenzen werden gar nicht verwendet.
  6. Mit den Essenzen werden die homöopathischen Mittel nur von einer Facette betrachtet; sie haben aber unendlich viele Facetten.
  7. Es wird zuviel herumpsychologisiert.

Dies, die Kritik Dr. Künzlis an der Vithoulkas-Schule, zehn Tage vor seinem Tode, soll uns helfen, daß wir die Richtschnur, die er gezogen hat, nicht verlieren.

Trotz seiner Erkrankung hat er praktisch bis zum Ende zirka zwei Stunden täglich in der Bibliothek von Pierre Schmidt gearbeitet, die gemäß seinem Wunsch nach St. Gallen gekommen war. Er hat schon zum größten Teil von den dort vorhandenen Büchern eine Kartei hergestellt, war somit bis an sein Lebensende tätig.

Als Zusammenfassung möchte ich einen Brief von ihm vorlesen, die Antwort an einen deutschen Kollegen, der ihn aufforderte, sein Lebenswerk darzustellen [4]:

„ … Schreiben Sie, daß ich

  1. das Repertorisieren im deutschen Sprachraum eingeführt habe. Das kannte niemand. Das Repertorisieren hat dann andere Dinge nach sich gezogen: bessere Anamnesetechnik, Wertung der Symptome, genauere, bessere Dosierungsvorschriften;
  2. den Anamnese-Fragebogen nach Kent eingeführt habe. Auch so etwas war vorher unbekannt. Nachher kamen dann auch andere mit ihren persönlichen Fragebogen. Da wurde dann auch wieder übertrieben; die Fragebogentechnik sollte nie schematisch gehandhabt werden;
  3. als erster Kurse über Theorie der Homöopathie gehalten habe. Die Kurse bisheriger Art bestanden immer nur fast ausschließlich aus Materia Medica und Kasuistik, da und dort mal ein philosophischer Vortrag oder ein Versuch der Angleichung der Homöopathie an eine gerade herrschende Modeströmung; und
  4. glaube ich, habe ich doch eine gewisse Hahnemann-Renaissance eingeleitet. So abschätzige Sprüche wie „Hahneman hat das noch nicht gewußt“ oder „Hier irrte er sich“ oder „Er hat gar keine genauen Angaben dazu gegeben“ etc. hört man heute doch seltener. Als ich jung war, waren solche Sprüche gang und gäbe. Heute nimmt man Hahnemans Beobachtungen und Forschungsergebnisse wieder ernst, und das mit vollem Recht.

Das alles sind auch heute noch meine Haupttätigkeitsgebiete …“

Dem wäre vielleicht hinzuzufügen:

  1. Zusammen mit seinem Lehrer Pierre Schmidt hat Dr. Künzli den Kentianismus nach Europa getragen und hier auf dem Kontinent verbreitet. Ich denke, man kann zu Recht sagen: Durch das Wirken dieser beiden Ärzte wurde die Homöopathie in Europa völlig umgekrempelt. Durch Dr. Künzlis vier große, mit minutiöser Genauigkeit ausgeführte Übersetzungen: der „Theorie der Homöopathie“ Kents zusammen mit Pierre Schmidt zunächst ins Französische und anschließend ins Deutsche, sowie der 6. Auflage des Organon, zuerst ebenfalls mit Pierre Schmidt ins Französische und vor rund zehn Jahren ins Englische (zusammen mit Alain Naudé und Peter Pendleton), hat er dafür gesorgt, daß die beiden Grundlagenwerke der Theorie der Homöopathie erstmalig zuverlässig übersetzt in allen drei Sprachen – englisch, französisch und deutsch – als präzise Handlungsanleitung für die homöopathische Praxis zur Verfügung stehen.
  2. Wohl kaum ein Arzt vor ihm in der Geschichte der Homöopathie hat neben den Symptomen, welche ein Patient im Krankheitsfall subjektiv empfindet, auf die objektiven Zeichen, die er ebenfalls bietet, in solchem Maße geachtet wie Dr. Künzli. Der Homöopath solle ein solch sorgfältiger Beobachter seiner Patienten sein, wie es ein homöopathischer Tierarzt bei den Tieren sein müsse, hat er immer betont. Er hat viele wichtige Zeichen neu gefunden bzw. erstmals in ihrer Bedeutung erkannt und aufnotiert, welche Mittel sich bei dem betreffenden Zeichen klinisch bewährt haben. Durch sorgfältige Einzelfallbeobachtungen hat er eine stattliche Anzahl dieser objektiven Zeichen am Patienten in den Rang von auffallenden, sonderlichen, eigenheitlichen Zeichen entsprechend § 153 Organon erheben können. Zum Beispiel:
    • Arcus senilis beim jungen Menschen,
    • Landkartenzunge,
    • auffällige Lokalisationen von Warzen,
    • konstitutionelle Merkmale bei Haar- und Augenfarbe.Dies sind nur einige bekanntere aus einer langen, langen Liste der von ihm für die Mittelwahl als wichtig erkannten objektiven Zeichen.
  3. Er hat eine Renaissance von Hahnemanns Theorie der chronischen Krankheiten eingeleitet. So hat er
    • das Bild der Sykosis nachgezeichnet [5] und
    • eine moderne, äußerst sorgfältig an Hahnemann orientierte Interpretation der Psoratheorie vorgelegt.
    • Immer und immer wieder hat er darauf hingewiesen, daß Hahnemanns Begriff „Miasma“ nichts anderes bedeutet als schlicht „Ansteckung durch einen Infektionserreger“ – völlig im schulmedizinischen Sinne. Für Dr. Künzli ist die Psora mit großer Wahrscheinlichkeit eine chronische Infektion durch ein ubiquitäres Virus aus der Reihe der Retroviren oder der Herpes- oder ähnlicher Viren.
    • Er hat herausgefunden, daß Hahnemann als Primäraffekt der Psora nicht nur die berühmte Krätze, sondern ebenso den heutzutage viel verbreiterteren Milchschorf betrachtet. Als Beleg pflegte er den 1. Band der „chronischen Krankheiten“, Seite 42, zu zitieren: „… die Psora, wovon der Krätz-Ausschlag und ihre anderen Formen, Grindkopf, Milchkruste und Flechte usw., nur Ankündigungszeichen der inneren, ungeheuren Krankheit des ganzen Organismus, nur dieselbe vikariierend beschwichtigende äußere Lokalsymptome sind …“
    • Zu der von ihm vorgenommenen Erweiterung des Sykosebegriffes führte Dr. Künzli aus [5]:
      „Ich stütze mich dabei vor allem auf die Werke von Kent und Allen. John Henry Allen war Dermatologie-Professor am College in Chicago zusammen mit James Tylor Kent. John Henry Allen hat ein dickes Werk geschrieben: ‚Psora, Pseudo-Psora und Sykosis‘, da hat es wunderbare Beispiele darin, die ganze Theorie der Sykosis ist da voll entwickelt. Bei Hahnemann finden wir ja noch nicht viel, Hahnemann wollte das auch schon entwickeln, aber er ist vorher gestorben. Es ist in seinen Schriften irgendwo überliefert, daß er gesagt hat: ,Ich möchte von der Sykosis auch die genaue Symptomatologie herausarbeiten wie für die Psora!‘ Aber das ist dann nicht mehr möglich gewesen.“
  4. Bei der Übersetzung der 6. Auflage des Organon im Jahr 1947/48 hat er nach seiner Aussage die Q-Potenzen entdeckt. Bis heute ist er auf der ganzen Welt einer der wenigen homöopathischen Lehrer geblieben, der die Zubereitung und Verabreichung derQ-Potenzen nach Organon, 6. Auflage, gelehrt hat, beschrieben z. B. in seinem Aufsatz „Die Quinquagintamillesimalpotenzen“ in der „Zeitschrift für klassische Homöopathie“, Jahrgang 1960 [6].
  5. Die Spezialität Dr. Künzlis, und vielleicht seine größte Errungenschaft für die Homöopathie, sind die Tausende von Kommentaren, die er im Laufe der vielen Jahre zu einzelnen Rubriken des Kent´schen Repertoriums gegeben hat, wie viel oder wie wenig die betreffende Rubrik als Stütze zur Mittelwahl tauge oder nicht, wie vollständig oder unvollständig sie sei. Auf diese Art und Weise hat er die Technik der Repertorisation enorm verfeinert und auf eine außerordentlich hohe Ebene gehoben. Dadurch ist ihm gleichzeitig gelungen, zahlreiche Zeichen und Symptome als auffällige, sonderliche, eigenheitliche Zeichen und Symptome im Sinne von § 153 Organon zu klassifizieren – eine Klassifikation, welche zumindest für die Mehrzahl der Krankheitsfälle Gültigkeit hat.

Mit seinen vielen Hinweisen zur Technik der Fallaufnahme und der Repertorisation hat Dr. Künzli dazu beigetragen, die Treffsicherheit bei der Mittelwahl zu erhöhen, so daß die homöopathische Behandlung chronischer Erkrankungen öfter in praxi ihr Ideal erreicht: Dem Patienten nicht nacheinander wechselnde Similia nach Art einer Zickzack-Kur zu verabreichen, sondern das eine wirklich heilende Simillimum über lange Zeiträume hinweg.

Die Ernte ist ungeheuer groß. Werden wir fähig sein, sie einzubringen? Dr. Künzli schaut uns jetzt aus der geistigen Welt mit einem Lächeln der Freude und Dankbarkeit für jedes Korn, das wir mit Liebe pflücken werden, zu.

Anmerkungen und Quellen

  1. Jost Künzli von Fimelsberg: Rede vor der Versammlung des Schweizerischen Vereins homöopathischer Ärztinnen und Ärzte am 22.11.90 in Bern, überarbeitete Tonbandabschrift
  2. Jost Künzli von Fimelsberg: Homöopathie-Vorlesung an der Universität Zürich, überarbeitete Tonbandabschrift
  3. Diese Nachträge sind neben Nachträgen aus anderen Quellen erschienen in:Roger van Zandvoort: The Complete Repertory, Leidschendam, 1996.
  4. zitiert in C. Just: Schulen der Homöopathie – Künzli. DJH 10 (1991), 188(im vorliegenden Werk, S. …)
  5. Jost Künzli von Fimelsberg: Die Sykosis. DJH 1 (1982), 61-65, 146-153, 258-262
  6. Jost Künzli von Fimelsberg: Die Quintagintamillesimalpotenzen. KH 4 (1960), 47-56