Christoph Thomas

Jost Künzli von Fimmelsberg – ein Klassiker der modernen Homöopathie

von Christoph Thomas

„Wir kommen hier das vierzehnte Mal nach Spiekeroog, und man ist versucht, ein bißchen Rückblick zu halten. Was hat Spiekeroog eigentlich gebracht? (…) Vieles, was wir hier begonnen haben, befindet sich nun erst auf halbem Wege, vieles steckt erst noch im Keim. Jetzt braucht es nochmals 14, 15 Jahre, bis daraus etwas Rechtes werden würde. Das ist aber nun Ihre Aufgabe, daß man vielleicht in 15 weiteren Jahren sagen kann: ,Es ist etwas geworden’ oder aber: ,Dieses Spiekeroog ist nur eine schöne Erinnerung geblieben’. Das hängt nun von Ihnen ab, ich trete nämlich nun zurück.“

Jost Künzli’s Eingangsworte auf der letzten seiner jährlichen Seminarwochen zur Ausbildung homöopathischer Ärzte auf der Nordseeinsel Spiekeroog, 1986 [1]

Drei homöopathische Ärzte sind es, denen in erster Linie die Wiedergeburt der klassischen Homöopathie in Europa im 20. Jahrhundert zu danken ist: dem Schotten Sir John Weir (1879–1971), Pierre Schmidt aus Genf (1894–1987) und schließlich dessen Schüler und engstem Mitarbeiter, dem St. Galler Arzt Jost Künzli von Fimmelsberg (10.10.1915–05.04.1992). Warum Wiedergeburt?

Bereits zu seinen Lebzeiten sind Hahnemanns Denkweise und seine Erkenntnisse nur von wenigen seiner Zeitgenossen unter den homöopatischen Ärzten tiefgehend und vollumfänglich verstanden worden. So schreibt Hahnemann im Vorwort seiner „Chronischen Krankheiten“ [2]:

„Indem ich der Welt diese großen Funde mittheile, bedaure ich, zweifeln zu müssen, ob meine Zeitgenossen die Folgerichtigkeit dieser meiner Lehren einsehen, sie sorgfältig nachahmen und den unendlichen für die leidende Menschheit daraus zu ziehenden Gewinn (…) erlangen werden – oder ob sie, durch das Unerhörte mancher dieser Eröffnungen zurückgeschreckt, sie lieber ungeprüft und unnachgeahmt, also ungenutzt lassen werden.“

In der Tat: z.B. verabschiedete die Mitgliederversammlung des „Deutschen Zentralvereins homöopathischer Ärzte“ im Jahre 1836 zur Abgrenzung gegenüber den Auffassungen Hahnemanns einstimmig (!) die „Achzehn Thesen“ von Paul Wolf (1795-1857), in deren Vorwort es heißt [3]:

„Die große Mehrzahl der homöopathischen Ärzte hat von jeher schmerzlich bedauert, daß der ursprünglichen Darstellung der homöopathischen Lehre Ansichten, Behauptungen und Normen eingewebt worden sind, welche zu dem Glauben Anlaß geben konnten, der Stifter der Homöopathik bezwecke ein Heilverfahren mit so unwissenschaftlichen Ingredienzen …“

So weit war Hahnemann seiner Zeit voraus, so gründliche Beobachtungen hatte er bei seinen Patienten angestellt, daß ihm nur wenige zeitgenössische homöopathische Ärzte wirklich zu folgen vermochten. Viele versuchten lieber eine vorschnelle Synthese mit damaligen Auffassungen der Schulmedizin; nur eine Minderheit hat sich voll und ganz auf seine phänomenologische Methode und deren Resultate eingelassen – die Methode, welche er z.B. in § 6 „Organon“ beschreibt [4]:

„Der vorurtheilslose Beobachter – die Nichtigkeit übersinnlicher Ergrübelungen kennend, die sich in der Erfahrung nicht nachweisen lassen – nimmt, auch wenn er der scharfsinnigste ist, an jeder einzelnen Krankheit nichts, als äußerlich durch die Sinne erkennbare Veränderungen im Befinden des Leibes und der Seele, Krankheitszeichen, Zufälle, Symptome wahr, das ist, Abweichungen vom gesunden, ehemaligen Zustande des jetzt Kranken, die dieser selbst fühlt, die die Umstehenden an ihm wahrnehmen, und die der Arzt an ihm beobachtet. Alle diese wahrnehmbaren Zeichen repräsentieren die Krankheit in ihrem ganzen Umfange, das ist, sie bilden zusammen die wahre und einzig denkbare Gestalt der Krankheit.“

Mit dem Tode der treuen Hahnemannschüler wie Georg Wilhelm Groß (1794–1847), Johann Ernst Stapf (1788–1860), Clemens von Boenninghausen (1785–1864) u.a. und mit dem Aderlaß, welchen die Auswanderung solch hervorragender homöopathischer Ärzte nach den USA wie Wilhelm Wesselhoeft (1794–1858), Constantin Hering (1800–1880), Adolph von der Lippe (1812–1888) und vieler anderer für die Homöopathie in Europa bedeutete, war es auf viele Jahrzehnte um die klassische Hahnemannsche Richtung in Deutschland schlecht bestellt. So beklagt sich z.B. in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Arnold Lorbacher (1818–1899), Leiter der homöopathischen Poliklinik in Leipzig und Schriftleiter der „Allgemeinen homöopathischen Zeitschrift“ (AHZ) wie der „Populären Zeitschrift für Homöopathie“, wiederholt über den Mangel an Regsamkeit unter den homöopathischen Ärzten [5]:

„Er würde“, so schreibt er, „in einen trostlosen Pessimismus verfallen, wenn nicht die Bestrebungen und Leistungen der homöopathischen Ärzte in den Vereinigten Staaten ihn aufrichteten.“

Gegenüber der wissenschaftlichen Höhe und Klarheit und gegenüber der therapeutischen Effizienz, welche Hahnemann und einige seiner Schüler der ersten Generation auf die Beine gestellt hatten, ist in Deutschland und Europa auf lange Zeit, in vielen Ländern für fast ein Jahrhundert, ein kolossaler Niedergang der Homöopathie unübersehbar: Anbiederung an jeweils herrschende Modeströmungen der Schulmedizin sowie Kritik und immer mehr Abstriche gegenüber den Erfahrungen und Erkenntnissen Hahnemanns waren in der europäischen Homöopathie bis Anfang, in manchen Ländern bis Mitte des 20. Jahrhunderts tonangebend.

Erst der Einfluß des amerikanischen homöopathischen Arztes James Tylor Kent (1849–1916), dessen unermüdliche revolutionierende Tätigkeit es vermocht hat, die klassische Homöopathie entscheidend zu stärken, indem er sie um außerordentlich wichtige neue Erkenntnisse bereicherte, hat auch in Europa seinen Widerhall gefunden. Es war dieser Einfluß Kents, welcher dazu führte, daß die klassische Homöopathie hierzulande heute wieder in nennenswertem Umfang ausgeübt wird. Sir John Weir hat die Homöopathie noch vor dem ersten Weltkrieg bei Robert Gibson-Miller (1862–1919), bei John Henry Allen (1854–1924) und bei Kent studiert. Pierre Schmidt ging auf Anraten John Weirs zum Studium zu Kents engsten Schülern in die USA, zu Alonzo Eugene Austin (1868–1948) und Frederica Eugenie Gladwin (1856–1931) und zählte seinerseits viele der namhaftesten homöopathischen Ärzte des 20. Jahrhunderts aus aller Welt zu seinen Schülern. So ist auch Jost Künzli von Fimmelsberg 1946 ein Jahr lang Schüler in der Praxis Pierre Schmidts gewesen.

Was diese Wiedergeburt der klassischen Homöopathie praktisch bedeutet, hat der homöopathische Arzt Heinrich Gerd-Witte (1919-–2001) aus Münster in Westfalen anhand seiner persönlichen Erfahrung anschaulich geschildert [6]. Er selbst hatte zu Beginn der 1950er Jahre die Homöopathie der sog. „klinischen“ Richtung zuerst am Robert-Bosch-Krankenhaus in Stuttgart, wo damals noch die Homöopathie praktiziert wurde, und dann in jahrelanger Zusammenarbeit mit Henri Voisin (1896–1975) in Südfrankreich studiert. „Allein“, so Heinrich Gerd-Witte, „damals habe ich nie ein Wunder erlebt“ – sprich: mit dieser Art Homöopathie gab es nie einen durchschlagenden Heilungserfolg. Dann habe er in den sechziger Jahren an den ersten Kursen von Künzli in Frankfurt am Main teilgenommen. Dr. Künzli sei sehr schweigsam und wortkarg gewesen, er habe seine schriftlichen Lehrfälle ausgeteilt, welche die Kollegen lösen sollten. Wenn man mit einem Lösungsvorschlag zu ihm gekommen sei, habe er meist bedächtig den Kopf geschüttelt und nur ein „Nö“ zur Antwort gegeben: Das als Lösung vorgeschlagene Arzneimittel stimme nicht! Aber: von dem Augenblick an, da er begonnen habe, an diesen Kursen Künzlis teilzunehmen, sei in seiner Praxis plötzlich erstmals das eine oder andere „Wunder“ passiert – sprich: trotz vieler Jahre eifrigen Studiums habe er erst mit dieser neuen Art Homöopathie wirkliche Heilungen erlebt!

Das, was Dr. Gerd-Witte schildert, ist präzise der tatsächliche Unterschied zwischen der Richtung der sog. „klinischen“ und derjenigen der „klassischen“ Homöopathie. Nur mit der klassischen Homöopathie können bei denjenigen Menschen, die auf diese Heilmethode ansprechen, Heilungen gelingen, welche die Möglichkeiten der Schulmedizin weit in den Schatten stellen. Auf dem Umweg über die Vereinigten Staaten ist das Erbe Hahnemanns schließlich nach Europa, in die Heimat der Homöopathie, zurückgekehrt!

Es wird berichtet, daß Künzli, bevor er sich nach seiner schulmedizinischen Ausbildung als internistischer Assistenz- und Oberarzt am Inselspital in Bern entschloß, die Homöopathie bei Pierre Schmidt in Genf zu studieren, seinen künftigen Lehrer aufgefordert habe, ihm zu zeigen, was diese Heilmethode leisten könne. Pierre Schmidt ließ ihn die Behandlung dreier chronisch schwerkranker Patienten mitverfolgen. Als es allen dreien im Laufe der homöopathischen Behandlung bedeutend besser ging, war Dr. Künzli überzeugt: Diese Art Medizin taugt etwas, ich will sie lernen! Diesen kritischen Geist, diese ausgeprägte Nüchternheit und diesen Realismus, diesen Anspruch, daß klare praktisch-medizinische Tatsachen entscheiden und nicht wohltönende Worte oder subjektive theoretische Ideen, hat Künzli sein Leben lang praktiziert und seinen Schülern vorexerziert. So hat er etwas geschaffen, was, scheint mir, in dieser Art, in dieser Konsequenz und auf diesem Niveau neu ist in der Geschichte der Homöopathie: eine kritische Bestandsaufnahme, eine Prüfung und Sichtung des gesamten therapeutischen Inventars, welches die Homöopathie seit Hahnemann geschaffen hat.

Wer beginnt, sich in die Homöopathie einzuarbeiten, dürfte, wenn er ein wissenschaftlich, rational und kritisch denkender Mensch ist, eher abgestoßen werden durch die erdrückende Fülle unterschiedlicher therapeutischer Vorstellungen, durch die Fülle widersprüchlicher Ansichten, Ratschläge und Richtungen, mit denen er konfrontiert wird. Wenn man die vieltausend unterschiedlichen therapeutischen Erfahrungen und Hinweise zusammenträgt, die in der 200-jährigen Geschichte der Homöopathie gemacht und veröffentlicht worden sind, so ergibt sich ein Bild enormer Widersprüche und großer Verwirrung.

Es war die genuine Leistung Jost Künzlis, all das, was es in der homöopathischen Therapie gibt und was an den unterschiedlichsten Ratschlägen und Erfahrungsberichten herumgeistert:

  • zu prüfen, zu sichten und in der eigenen Praxis zu erproben,
  • die Spreu vom Weizen zu trennen, d.h. das Brauchbare vom Nutzlosen oder gar Schädlichen zu sondern und
  • nur dasjenige in seinen Schriften und in seinem persönlichen Unterricht weiterzugeben,

was sich immer wieder praktisch bewährt hat.

Auf diese Weise ist Dr. Künzli selbst zu einem „Klassiker“ geworden; seine Aussagen tragen so sehr den Stempel der Ausgewogenheit und der Allgemeingültigkeit, wie es nach 200-jähriger Erfahrung in der Homöopathie nur menschenmöglich ist. Daher ist der Inhalt seiner Lehre, welche sich so eng als möglich an Hahnemanns „Organon“, an seine Theorie der chronischen Krankheiten sowie an wesentliche Passagen aus Kents „Theorie der Homöopathie“ anschließt, so etwas wie ein „Organon der Homöopathie unserer Zeit“ geworden: nämlich der „rote Faden“ und die allgemeingültige Richtschnur zur Ausübung einer praktikablen und tatsächlich erfolgreichen Homöopathie, soweit dies eben nach dem Kenntnisstand unserer Zeit möglich ist.

Das ist, meine ich, seine Hauptleistung: Die Grundlagen der Homöopathie für unsere Zeit neu fundiert und neu umrissen zu haben. Der homöopathische Arzt solle jeden Schritt in der homöopathischen Behandlung genau entsprechend der wissenschaftlichen Methodik Hahnemanns und Kents angehen und nichts dem Zufall, nichts dem ungenauen Ungefähr eines „Gefühls“ überlassen, sondern handwerklich saubere Arbeit leisten – das war sein Credo, das war der Kernpunkt seiner Lehre. Deshalb standen

  • die sorgfältige Aufnahme der Zeichen und Symptome des Patienten,
  • die sorgfältige Auswahl und Gewichtung derjenigen Symptome, welche über die Wahl des homöopathischen Heilmittels entscheiden, sowie
  • der sorgfältige Gebrauch des Kent’schen Repertoriums

ganz im Zentrum seiner Ausbildung homöopathischer Ärzte. Wie oft hieß es, wenn man ihn etwas fragte: „Da wollen wir mal nachschauen!“ Mit dem Kollegen, der die Frage gestellt hatte, nahm er das Kentsche Repertorium zur Hand, suchte die passende Rubrik auf und ging Mittel für Mittel durch, welche die betreffende Rubrik aufwies. Das war seine Erziehung zur handwerklichen Sorgfalt. Kein ungefähres Meinen und Wähnen, sondern sich stets anhand der Quellen vergewissern und jede Entscheidung mit sauberen Gründen belegen. Sein Credo war dasselbe wie dasjenige Hahnemanns [7]: Weg vom bloßen Meinen, weg von allem Spekulieren, weg von allem Theoretisieren, weg von allem spekulativen Psychologisieren hin zu den objektiven Tatsachen und Fakten, um

„… kranke Menschen gesund zu machen, was man heilen nennt. Nicht aber (womit so viele Ärzte bisher Kräfte und Zeit ruhmsüchtig verschwendeten) das Zusammenspinnen leerer Einfälle und Hypothesen zu sogenannten Systemen, oder die, ihnen stets verborgen gebliebne, nächste Ursache derselben usw. (…) es wird hohe Zeit, daß, was sich Arzt nennt, (…) anfange zu handeln, das ist, wirklich zu helfen und zu heilen.“

Nicht die ausgefallenen und seltenen Dinge sollten seine Schüler in ersten Linie lernen, sondern das grundlegende Handwerkszeug, welches ein homöopathischer Arzt für seine Praxis benötigt – dieses allerdings auf dem höchstmöglichen Niveau. Daß Jost Künzli darüber hinaus unendlich viel von diesem weitergehenden Wissen besaß und selbst in sehr verwickelten Fällen über eine enorme therapeutische Sicherheit verfügte, haben seine engen Schüler immer wieder erleben dürfen.

Eine von Künzlis wichtigsten Leistungen stellt m.E. die erfahrungswissenschaftliche Erforschung der Charakteristika dar: Im Zentrum seiner Forschungen stand die Vervollkommnung der Methodik der Mittelfindung vor allem mithilfe der „auffallenden, sonderlichen, eigenheitlichen Zeichen und Symptome“ nach Paragraph 153 Organon. Die Bestimmung der homöopathischen Arznei eines Patienten, so hat er in seiner Zürcher Vorlesung gelehrt, verlaufe ganz ähnlich und ließe sich deshalb vergleichen mit der Pflanzenbestimmung in der Botanik – in beiden Fällen seien eben die Charakteristika entscheidend, um zuverlässig bestimmen zu können, um welche Pflanze bzw. um welche homöopathische Arznei es sich im gegebenen Fall handle (II). Die Methodik der homöopathischen Arzneimittelbestimmung mithilfe der Charakteristika hat Künzli ausgearbeitet und verfeinert wie wohl kein homöopathischer Arzt vor ihm:

  • Was genau sind Charakteristika? Welche Arten von Charakteristika gibt es?
  • Wie ist ihr hierarchisches Verhältnis zueinander, also das hierarchische Verhältnis innerhalb der auffallenden, sonderlichen, eigenheitlichen Zeichen und Symptome selbst?
  • Wie läßt sich die Findung der passenden homöopathischen Arznei mit ihrer Hilfe genauer, sicherer und präziser gestalten?

Um diese Fragen hat er sein Leben lang gerungen, hat unablässig daran gefeilt und so die Lehre der Charakteristika auf ein bislang unerreichtes Niveau gehoben (III).

Worüber Dr. Künzli kaum gesprochen hat und wofür mir erst im Laufe eines mehrjährigen engen Kontakts mit ihm langsam die Augen geöffnet wurden, war die Erkenntnis, welche enorme, ganz im Stillen durchgeführte wissenschaftliche Forschungsarbeit seiner fachlichen Kompetenz zugrunde lag. Wie Hahnemann bis an sein Lebensende unermüdlich geforscht hat, um die Methode der Homöopathie immer weiter zu verbessern, so tat dies ähnlich auch Künzli. Z.B. steckt hinter seinen Nachträgen im Repertorium und hinter den sog. „schwarzen Punkten“ im Repertorium, auch „Künzli-Punkten“ genannt, nicht nur großer Fleiß, sondern vor allem eine ungeheure Summe an klinisch-therapeutischen Erfahrungen, aufs Sorgfältigste wissenschaftlich ausgewertet. Das, was Dr. Künzli in seinem Unterricht und in seinen Supervisionen weitergab, war wirklich die Summe seiner Arbeit, die Frucht eines jahrzehntelangen Ringens unter der Fragestellung: Wie läßt sich die homöopathische Therapie weiter optimieren, wie läßt sie sich noch treffsicherer und wirksamer machen? Weil es sich um wissenschaftlich erarbeitete, vor ihrer Bekanntgabe vielfach auf „Herz und Nieren“ überprüfte Erfahrungen handelt, deshalb werden seine Ratschläge, deshalb wird seine Lehre Bestand haben.

Zur Zeit Hahnemanns gab es unter den Homöopathen eine Richtung, die sich „die Freien“ nannte. Das waren die Homöopathen, die sich wie im jugendlichem Trotz vom „Diktator Hahnemann“ keine „Vorschriften machen lassen“ wollten. Wie um den Eigensinn der heranwachsenden Jugend noch eigens zu betonen, nannten sie sich später „die Jungen“ – im Gegensatz zu den ihrer Meinung nach verknöcherten „Alten“, womit sie z.B. von Boenninghausen meinten. Der historische Zwiespalt zwischen der Richtung der „Reinen“, nämlich der Hahnemannianer, und dieser Gegenrichtung der „Freien“ und „Jungen“ zieht sich in wechselnder Form durch die gesamte Geschichte der Homöopathie und ist lehrreich auch für die Gegenwart. Der jahrzehntelange Niedergang der Homöopathie in Deutschland infolge der Vorherrschaft der „Freien“ und der „Jungen“ zeigt: Freiheit zu Beliebigkeit und Willkür ist in der Homöopathie fehl am Platz. Die Ursache dafür liegt in der naturgesetzlichen Grundlage der Homöopathie; die Natur läßt nicht mit sich spielen, sondern unterliegt einer Ordnung und bestimmten Gesetzmäßigkeiten. Wie ein Elektromotor nur funktioniert, wenn die Gesetze der Physik und die Erfahrungen der Technik beachtet werden, so kann auch eine homöopathische Behandlung nur funktionieren, wenn die ihr zugrunde liegenden Gesetze sowie die Erfahrungen der homöopathischen Meister beachtet und eingehalten werden (IV). Gegenüber Ansichten und Strömungen, die einen Sonderweg für sich beanspruchten, betonte Künzli [11]: „Es gibt nur die eine Homöopathie und nicht verschiedene.“

Es hat sich immer wieder erwiesen: Alle Annäherungsversuche an die Schulmedizin und jeder Kompromiß in der Sache ihr gegenüber – diese Bestrebungen vertraten in Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die sog. „klinische Homöopathie“ und die „naturwissenschaftlich-kritische Richtung“ beschädigen die Wissenschaftlichkeit der Homöopathie, verletzen ihre Eigengesetzlichkeit und ihren strikt phänomenologischen Ansatz durch Dogmen, welche ihr wesensfremd sind, und engen ihre therapeutische Effizienz stark ein. Wer mit Hilfe der Homöopathie Kranke heilen will, kann dies nur, indem er die Gesetzmäßigkeiten achtet und die Methodik befolgt, welche dieser Heilmethode zugrunde liegen. Homöopathie praktizieren bedeutet, sich mit Demut in die Ordnung der Natur und des Lebendigen zu fügen, bedeutet, sich dem einzufügen, was dem Leben dient, und dies bedingt gleichzeitig Achtung vor den Erfahrungen unserer Meister. Die Qualität der homöopathischen Behandlung liegt darin begründet, wie tief und wie umfänglich der Arzt die therapeutischen Erfahrungen der homöopathischen Meister verstanden und in sein tagtägliches praktisches Handeln integriert hat. In diesem Sinne hat Hahnemanns „kategorischer Imperativ der Homöopathie“: „Macht´s nach, aber macht´s genau nach!“ eine tiefe Bedeutung und gilt nach dem Ausgeführten genauso bezüglich Künzlis Lehren und Erfahrungen.

Erst im Nachhinein erkenne ich, daß für meinen Entschluß als damals noch blutiger Anfänger in der Homöopathie, bei Jost Künzli und seinem Schüler Dario Spinedi in die Lehre zu gehen, ausschlaggebender als fachliche Gründe das persönliche Vertrauen war, welches ich von der ersten Begegnung an in Künzli hatte. Über welche fachliche Kompetenz er verfügte, kann man erst nach und nach ermessen mit zunehmenden Jahren an Erfahrung in der eigenen Praxis, wenn man sich staunend fragt: Wie ist es möglich, daß ein einzelner Mensch solch einen Umfang an ärztlichem Wissen besitzt? Seine ärztliche Sorgfalt und Ruhe, seine persönliche Bescheidenheit und große Güte hatten mich vom ersten Moment an in seinen Bann gezogen. Man spürte sofort: Diesem Menschen liegt jede Eitelkeit fern, ihm geht es nur darum, für die Sache zu wirken. Dort, wo es galt, Kranken zu helfen, nahm er sich immer Zeit für uns Ärzte. Ich habe ihn oft gefragt: „Darf ich meine Fragen stellen, falle ich Ihnen nicht zur Last?“ Darauf Dr. Künzli jedesmal: „Es ist schon recht, fragen Sie nur!“ Bei Diskussionen dagegen, die in eine unfruchtbare oder spekulative Richtung abglitten, klinkte er sich regelmäßig aus – mit der genialen Aussage: „Davon verstehe ich nichts.“ Das war seine große Kunst, auch bei Meinungsverschiedenheiten sein Gegenüber nicht zu beschämen.

Künzli war, wie alle Berichte bezeugen, ein begnadeter Lehrer. Wenn ich versuchen wollte, das Geheimnis seiner Pädagogik in Worte zu fassen, würde ich sagen, er beherrschte in einzigartiger Weise die Kunst, mit seiner Lehre nicht auf die intellektuelle Ebene des Zuhörers abzuzielen, sondern auf dessen geistig-seelische Aufnahmebereitschaft, auf seine persönliche Erfahrung und auf den Prozeß seiner inneren Reifung:

  • die Weisheit nicht mit einem Füllhorn in die anonyme Menge gießen, sondern dem Schüler bzw. Patienten persönlich nach und nach dasjenige eröffnen, worum er bereits selbst ringt bzw. was ihn in dem betreffenden Moment einen Schritt vorwärts bringt;
  • das, was vom Gegenüber kommt, aufgreifen, sich einfühlen, auf seine innere Bewegung einschwingen und ihn dort „abholen“, wo er gerade steht;
  • nichts überhasten, sondern mit der allmählich wachsenden Erfahrung des Betreffenden Schritt für Schritt voranschreiten;
  • einem Nicht-Verstehen, also dem, was die Psychotherapeuten als „Widerstand“ bezeichnen, nicht mit intellektuellen Argumenten, sondern mit Takt, Güte und Humor, nötigenfalls mit Schweigen begegnen – vielleicht mögen diese Worte etwas von dem einfangen, was ich bei Künzli erlebt habe.
  • „Manchmal muß man einfach auf seinem Mund sitzen“, mit diesem drastischen Bild verriet er mir einst ein Geheimnis seiner Pädagogik: Nichts zur Unzeit ausplaudern, sondern erst dann, wenn es angesagt ist.

Künzlis ehemalige Patientin Holde Fritsch bezeichnet sein didaktisches Vorgehen treffend als „indirekte Form der Pädagogik“ [12]. – Der Bericht der homöopathischen Ärztin Monique Altenbach [13] enthält ein schönes Beispiel dafür, wie er es verstand, sich auf die „Wellenlänge“ seines Gesprächspartners einzustellen und von dessen Gedanken und Empfindungen ausgehend mit ihm gemeinsam einen Schritt nach vorn zu tun. Wenn sie lachen mußte, lachte Künzli mit – nicht ohne hinzufügen, in der Homöopathie sei wirklich manches anders als gewohnt, aber es verhalte sich eben nun einmal so. – Als der Ehemann einer Patientin skeptisch äußerte, die winzigen Globuli, die bei seiner zierlichen Frau wirkten, würde bei ihm mit seiner massigen Statur kaum etwas ausrichten, entgegnete ihm Künzli [14]: „Wissen Sie, in Indien behandeln wir die Arbeitselefanten auch mit Homöopathie, und es funktioniert auch bei denen.“ – Der homöopathische Arzt Dr. Martin Stübler hatte Künzli 1981 zu einem Ärzteseminar auf Schloß Weidenkam nach Bayern eingeladen. Wie sich der österreichische Homöopath Dr. Leopold Drexler erinnert [15], versuchte ein Spaßvogel, sich über Künzlis Dosierung von nur einem einzigen Globulus lustig zu machen und fragte, wie er es denn anstellen würde, wenn er einem Patienten nur einen halben Globulus verabreichen wolle. Künzli ließ sich nicht in Verlegenheit bringen, sondern erwiderte schlagfertig: „Das ist ganz einfach. Ich gebe einen Globulus in ein Glas Wasser und lasse davon die Hälfte trinken“ – worauf die Lacher auf seiner Seite waren.

Viele Menschen, die Dr. Künzli begegnet sind, waren berührt von seiner Haltung der Großzügigkeit und Toleranz. „Dieses freiheitliche Klima, frei von jedem Zwang und Druck, herrschte in den Vorlesungen Dr. Künzlis“, berichtet Dr. Spinedi und fährt kurz darauf fort [16]: „Künzli hat uns kein einziges Mal das Gefühl vermittelt, daß wir nichts wissen und daß er der Große sei. Er sagte uns immer, wenn wir einen kleinen Erfolg hatten: ,Sie machen es aber schön!’“ Als Arzt ließ er, wie die Berichte bezeugen, seinen Patienten ein großes Maß an Freiheit und war mit Verboten sehr zurückhaltend. Dies war ihm möglich, weil er die Homöopathie mit großer Genauigkeit praktizierte und im Laufe seiner Erfahrung eine enorme therapeutische Meisterschaft und Sicherheit erlangt hatte. Wenn die verabreichten homöopathischen Mittel und ihre Dosierung genau passend sind, sind äußere Störfaktoren, solange sie nur gelegentlich auftreten, meist weniger bedeutsam. Aber eben, die passenden Mittel wollen erst einmal gefunden sein! Dies wohl im Sinn, hat Künzli seine Schüler angehalten, sich seine liberale Haltung dem Patienten gegenüber nicht unbedingt – noch nicht – zum Vorbild zu nehmen: „Vielleicht erlaube ich meinen Patienten zu viel, vielleicht sollten Sie da lieber etwas mehr verlangen als ich“, habe ich ihn in der Zürcher Vorlesung sagen hören.

Künzlis unbedingte Achtung der Person des Patienten bestimmte auch seine Haltung in fachlichen Fragen. Eine homöopathische Ärztefortbildung mit Hilfe von Videos, welche bisweilen intime Details von Patienten der Öffentlichkeit preisgeben, wäre für ihn undenkbar gewesen: in seinen Augen eine Ablenkung vom Wesentlichen, das es in der Homöopathie zu erlernen gilt: Dies ist nämlich nicht der Gesamteindruck eines Menschen, welcher, wenn sich der Homöopath an ihm orientiert, leicht in die Irre führen kann, sondern sind die für die Mittelwahl relevanten, die „wahlanzeigenden“ Zeichen und Symptome. Da diese fast bei jedem Patienten in einer individuell-einmaligen Kombinatorik auftreten, läßt sich eben kaum je von einem Fall als ganzem auf den nächsten schließen. Gibt man dagegen, so Künzlis Erfahrung, einem Schüler der Homöopathie einen Papierfall zum Lösen, so muß er sich Symptom für Symptom damit auseinandersetzen und wie in der eigenen Praxis um die Lösung ringen; dadurch ist der Lerneffekt viel größer als beim Anschauen eines Videos. Und wie schön sind viele von Künzlis Papierfällen geschrieben! Vordergründig stets nüchtern und sachlich, schwingt versteckt, aber so oft spürbar, die Freude an der Persönlichkeit und Einzigartigkeit des Patienten und die Freude an der Vielgestaltigkeit des Lebens mit.

Am meisten an Künzli verblüffte mich sein Pragmatismus und seine Erdverbundenheit. So erzog er auch seine Schüler zu Nüchternheit, Realismus, medizinisch-klinischem Denken und zur Fähigkeit der Selbstkritik:

  • „Wir sind in erster Linie Ärzte und erst in zweiter Linie Homöopathen; an unsere Behandlung müssen wir dieselben Kriterien und Maßstäbe anlegen, wie es andere Ärzte tun. Es genügt nicht, wenn sich ein Patient subjektiv besser fühlt: Ein zu hoher Blutdruck muß herunterkommen, pathologische Laborwerte müssen sich normalisieren, ein Therapieerfolg muß objektiv meßbar und nachweisbar sein“, hat er immer wieder gelehrt [11].
  • „Das ist ja auch bloß wie Zuckerwasser“, konnte Künzli sagen [11], wenn wir von einer niedrigen Potenz oder von einer einmaligen Mittelgabe Wunder was für eine Wirkung erwarteten. Bei jeder Beurteilung der Wirkung einer homöopathischen Arznei sollten wir auch an die Möglichkeit einer Placebo-Wirkung denken. Wenn z.B. eine homöopathische Arznei, die wir für chronische Beschwerden eines Patienten verordnet hätten, nach der ersten Verabreichung eine deutliche Besserung seines Befindens bewirkt hätte, würde dies die getroffene Verordnung noch nicht bestätigen, sondern könne genauso auch Folge eines Placebo-Effektes sein. Die Placebo-Wirkung ließe jedoch bei wiederholter Verabreichung nach, nicht aber die Wirkung einer passenden Arznei. Erst dann und nur dann, wenn auch jede weitere verabreichte Dosis dieser Arznei die chronischen Beschwerden immer wieder lindere, erst dann – so Künzli – sei der Beweis für ihren guten Effekt erbracht.
  • Außer Hahnemann und Jean Pierre Gallavardin (1825-1898) kenne ich keinen Arzt in der Geschichte der Homöopathie, welcher der Beobachtung des Patienten, d.h. alles dessen, was sich einem Patienten überhaupt ansehen läßt, solch eine entscheidende Rolle beigemessen hätte wie Künzli: Habitus, körperlicher Status, alle objektiv sichtbaren Zeichen, der äußere Eindruck, sicht- und erfahrbare Stimmungen und seelische Reaktionen des Patienten, die der Arzt erlebt – all das sei von höchster Wichtigkeit für den homöopathischen Arzt und meist viel höher zu werten als die Meinungen, die der Patient über sich selbst habe. „Als homöopathischer Arzt müssen Sie es halten wie ein Tierarzt: schauen und beobachten, was Sie sehen! Die objektiv beobachtbaren Dinge sind das Wichtigste in der Homöopathie“, hat er stets betont [11].
  • „Was die homöopathische Praxis am meisten vervollkommnet, ist nicht, über die Homöopathie Reden zu halten, zu schreiben oder zu theoretisieren, sondern tagtäglich seine Patienten zu behandeln.“ gibt Dr. Schore Künzlis Ansicht wieder [17].

Künzlis Wesen hatte viele Facetten, die erstaunen ließen. Etwas, was mich berührt hat, war: Wenn er über verstorbene homöopathische Meister sprach, z.B. über Hahnemann, Groß, von Boenninghausen, Kent, und ihre unterschiedlichen Ansichten im Detail gegeneinander abwog, gaben mir seine Darlegungen manchmal das Gefühl: Er wandelt unter diesen wie unter seinesgleichen, spricht von ihnen wie von engen Freunden, mit denen er gerade eben noch geplaudert hat, kennt ihre Größen, Eigenheiten und kleineren Schwächen genau und steht in einem ständigen Dialog mit ihnen über alle offenen Fragen in der Homöopathie.

Ein anderes Erlebnis, das mich in Staunen versetzte: Seine Vorstellung für Entwicklungen und Zeitabläufe hatte eine durch Erfahrung und Weisheit geprägte historische Dimension, die mir ganz fremd war. Als ich ihm begeistert von den Untersuchungen des französischen Forschers Beneviste erzählte, welche mir gerade zu Ohren gekommen waren – so, als ob nun ein Durchbruch in der Anerkennung der Homöopathie unmittelbar bevorstände -, erwiderte er ganz trocken: „In 400 Jahren werden wir weitersehen; dann sollte sich das Blatt schon einmal zugunsten der Homöopathie wenden.“ Wer Dr. Künzli näher kannte, wird verstehen, daß er keineswegs nur in pädagogischer Absicht so mit mir sprach, sondern die reale Entwicklung tatsächlich etwa so einschätzte.

Seine Verbundenheit mit der Geschichte der Homöopathie ließ ihn vom Niedergang der Homöopathie in den USA nach Kent’s Tod in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg wie von etwas sprechen, das ihm persönlich widerfahren sei. Mehr als einmal pflegte er sinngemäß zu sagen: „Wenn wir nicht aufpassen, wird uns dieses Schicksal ein zweites Mal ereilen, wie schon damals wird uns die „Halbhomöopathie“ wieder mit in den Abgrund reißen!“ Aus dieser Sicht gewinnt Künzlis Frage von Spiekeroog – in die Zukunft projiziert – eine eminent praktische, ja existentielle Bedeutung: „Ist etwas daraus geworden oder ist nur eine schöne Erinnerung daran zurückgeblieben?“ Wird die „Halbhomöopathie“ die klassische Homöopathie erneut mit in den Untergang reißen? Oder gelingt es den „Hahnemannianern“, einen nach außen klar und deutlich sichtbaren Trennungsstrich gegenüber jener Richtung zu ziehen und sich gegen die Stürme, die ihnen bevorstehen, besser zu wappnen? Um das Ihrige dazu beizutragen, daß die Homöopathie blüht und nicht in ihre nächste historische Niederlage schlittert, hat Künzli den homöopathischen Ärzten aufgetragen [11]:

  • reine Hahnemannsche Homöopathie zu betreiben und nicht auf Abwege zu geraten;
  • für ausreichend Nachwuchs an sehr gut ausgebildeten homöopathischen Ärztinnen und Ärzten zu sorgen;
  • sauber dokumentierte Behandlungsergebnisse zu publizieren, möglichst auch in größerer Anzahl (Statistiken), und dabei auf die praktischen Resultate für die Patienten zu schauen, statt sich dem zu unterwerfen, was nach der jeweils herrschenden schulmedizinischen Ansicht gerade wissenschaftlicher Standard ist;
  • darauf hinzuarbeiten, daß das Publikum die reine Homöopathie nicht mit der „Halbhomöopathie“ in einen Topf wirft.
  • Bei aller Wertschätzung vieler Leistungen der Schulmedizin sich die volle Unabhängigkeit und Eigenständigkeit im homöopathischen Denken und Handeln, in der Ausbildung des ärztlichen Nachwuchses sowie in der wissenschaftlichen Tätigkeit bewahren [18]:„Stellen wir uns auf unsere eigenen Füße, machen wir unsere eigenen Ausbildungskurse, geben wir unsere eigenen Diplome, haben wir unsere eigenen Institute, bauen wir uns Eigenes auf! Richten wir uns nach dem Wort des Paracelsus: ,Nicht ich Euch nach, sondern Ihr mir nach!’ Wir bringen nämlich wirklich eine ganz neue Art der Medizin, die mit den Maßstäben der bisherigen, auch mit denen der heutigen, nicht gemessen werden kann. Ich habe gesprochen.“

Wollte ich Künzlis Leistungen zusammenfassen, würde ich sagen:

  1. Die klassische Homöopathie hat ihm eine Fülle neuer Erkenntnisse zu verdanken. Das Kentsche Repertorium hat durch seine zahlreichen Nachträge und therapeutischen Hinweise [19] sehr an praktischem Wert und die Technik der homöopathischen Arzneimittelfindung hat durch seine vielen Beobachtungen und Hinweise bedeutend an Zuverlässigkeit und Sicherheit gewonnen [11].
  2. Einzigartig innerhalb der ganzen Homöopathiegeschichte sind Künzlis Weiterentwicklung der Hahnemannschen Auffassung der Sykosis [20] und – ebenso genial, aber selbst in Fachkreisen kaum bekannt – seine ganz eigenständige Interpretation der Hahnemannschen Psoratheorie [11].
  3. Künzli hat eine Neubearbeitung von Kents Vorlesungen zur „Theorie der Homöopathie“ vorgelegt. Darin hat er diejenigen Teile, die Kents persönliche weltanschaulich bzw. religiös geprägte Vorstellungen enthalten, ausgeschieden und hat stattdessen auf diejenigen Teile dieses Werkes fokussiert, welche einen echten wissenschaftlichen und praktischen Fortschritt für die gesamte Homöopathie bedeuten [11].
  4. Er hat die Herstellung und Handhabung der Q-Potenzen genau nach den Angaben der 6. Auflage von Hahnemanns Organon erforscht und praktiziert und aus dieser Erfahrung heraus präzise Vorschriften zu ihrer Herstellung und Anwendung erarbeitet [21, 22].
  5. Er hat eine Methodik für das zweckmäßige Vorgehen bei der Behandlung chronischer Erkrankungen erarbeitet [11, 16] und dabei insbesondere auf die Berücksichtigung und sorgfältige Einhaltung der Mindestwirkungszeiten der jeweiligen Potenzstufen großen Wert gelegt [11, 23].
  6. All diese Elemente münden darin, daß Künzli aufbauend auf dem Werk von Pierre Schmidt und in enger Anlehnung an Hahnemann und Kent der Methodik der klassischen Homöopathie ein klares, solides Fundament verschafft hat, auf dem sie sicher und zuverlässig praktiziert werden kann. Dies ist seine größte Leistung gewesen, und darin ist seine Lehre wirklich bahnbrechend.

Im Laufe meiner eigenen Praxistätigkeit habe ich erfahren, daß die Grenzen der therapeutischen Wirksamkeit der klassischen Homöopathie enger gesteckt sind, als ich über lange Zeit hinweg angenommen hatte; denn dieses Heilsystem schlägt nicht bei jedem Menschen an [24]. Dort aber, wo es anschlägt, wirkt es oft hervorragend und dort waren mir Künzlis Ratschläge stets essentiell.

Zum Gedenken an unseren geliebten Lehrer haben rund dreißig homöopathische Ärztinnen und Ärzte einen bunten Blumenstrauß aus ihrer tagtäglichen Arbeit zusammengestellt – Ärztinnen und Ärzte aus der Schweiz, Österreich, Deutschland und den USA. Im ersten Teil sind dies Fälle von Krankenbehandlungen, welche einen anschaulichen Blick in die „Werkstatt“ des klassisch-homöopathisch tätigen Arztes geben und zeigen sollen: Daß und wie die Homöopathie funktioniert und in welcher Art und Weise wir das, was wir von Dr. Künzli gelernt haben, in unserer ärztlichen Praxis Tag für Tag anwenden. Sie sollen darlegen: Das homöopathische Handwerk ist kein obskures Geheimnis, sondern es stellt eine lernbare und praktikable Methode dar, wie andere ärztliche Disziplinen auch. „Ich bin sehr glücklich, daß Sie sich der Mühe unterziehen, dieses Werk zum Gedächtnis an Jost Künzli herauszugeben, der mir immer ein guter Freund war und den ich nach dem Ableben Pierre Schmidts für den treuesten klassischen Homöopathen unserer Zeit halte“, schrieb mir der homöopathische Arzt René Casez [25].

In einem weiteren Teil haben einige längere Arbeiten von eher wissenschaftlichem Charakter Platz gefunden – allerdings keiner abstrakten Wissenschaft, sondern einer, welche sich mit Resultaten aus der praktisch-therapeutischen Arbeit befaßt und ihr wiederum dienen soll.

Die vorliegende Webseite verdankt ihr Entstehen der gemeinsamen Anstrengung vieler hilfreicher Kolleginnen und Kollegen. Die Idee zu der jetzigen Sammlung entstand kurz nach Künzlis Tod in einem Gespräch mit meiner verstorbenen Freundin Ute Stammberger aus Coburg. Bei der Auswahl der Kasuistiken und in fachlichen Fragen waren mir Dario Spinedi, bei der Auswahl der Erinnerungen und in stilistischen Fragen die emeritierte Germanistin Laureen Nussbaum, Portland/ Oregon, sehr behilflich. Persönliche Umstände und Zweifel am ursprünglichen Konzept – vor allem angesichts zahlreicher Fehlschläge in meiner eigenen Praxis – ließen mich lange zögern, die vorliegende Sammlung, die in Teilen bereits Ende 1995 fast druckreif vorlag, herauszugeben. Es ist das Verdienst des homöopathischen Arztes Lars Broder Stange, die vergangenen zwanzig Jahre lang nicht locker gelassen, immer wieder Gespräche mit mir geführt und schließlich die Initiative federführend in die Hand genommen zu haben. Die Veröffentlichung als Webseite war seine Idee, welche wir jetzt in einer Arbeitsgruppe zusammen mit den homöopathischen Kollegen Drs. Horst Hauptmann, Inge Sandler, Miklós Takács und dem Heilpraktiker Joseph-Karl Graspeuntner in die Tat umgesetzt haben.

Nach dem Tode Künzlis habe ich ein Archiv angelegt zur Sammlung von Arbeiten, Briefen, Mitschriften, Ton- und Bilddokumenten über sein Leben und Werk. Jedes, auch kleine Dokument – auch als Kopie – und jeder Bericht über ihn ist weiterhin willkommen. Die hier veröffentlichte Bibliographie der Werke Künzlis stellt den gegenwärtigen Forschungsstand dar; jeder Hinweis auf weitere Veröffentlichungen sowie auf eventuelle unveröffentlichte Arbeiten von ihm wäre hilfreich und wichtig.

„Solch ein Mensch kommt die nächsten 100 Jahre nicht wieder.“ In diese Worte, gesprochen von Joseph Haydn beim Tode Mozarts, kleidete Dario Spinedi seine Erschütterung und seine Achtung am Totenbett Künzlis. Wir sind dem Schicksal für das Geschenk dankbar, Jost Künzli begegnet und seine Schüler geworden zu sein. Möge die Saat, die er gesät hat, Früchte tragen und möge auch diese Sammlung von Aufsätzen einen kleinen Beitrag dazu leisten.

Zwei Künzli-Zitate möchte ich ans Ende dieser Einführung setzen – eines stammt aus seinem Vorwort zum ersten Buch Rajan Sankarans [26]:

„… der wahre klassische Weg, wie ihn Hahnemann uns übergeben hat […, hat] für Routine, Faulheit und vorgefertigte Meinungen keinen Raum. Nötig sind offene Sinne, Schärfe des Intellekts, eine sehr genaue Beobachtungsgabe – und ein sehr gutes Gedächtnis. Solange die Homöopathie in dieser Weise ausgeübt wird, ist ihr eine goldene Zukunft gesichert.“

Mit einem Wort aus der Eingangsrede Künzlis auf seinem letzten Spiekerooger Seminar 1986 hatte ich begonnen, mit einem aus seiner dortigen Schlußrede [27] möchte ich schließen:

„Es liegt an Ihnen allen, ob die Homöopathie zu der Größe gelangt, die ihr wirklich gebührt, oder ob sie durch „homöopathische“ Pfuscher wieder in Vergessenheit gerät und untergeht. Momentan brennt das Interesse an ihr wie eine leuchtende Fackel. Sorgen Sie durch Ihre gute Arbeit dafür, daß immer mehr Fackeln entzündet werden, dann sind wir auf dem richtigen Weg.“

Dr. Christoph Thomas
Konstanz im Juli 2015

Anmerkungen

  1. Die vorliegende Einführung in die Sammlung von Aufsätzen aus der Künzli-Schule wurde im Sommer 1999 verfaßt und im Sommer 2015 nochmals überarbeitet und ergänzt.
  2. Zwischen der Pflanzenbestimmung und der Bestimmung homöopathischer Arzneien gibt es natürlich auch Unterschiede: Während Charakteristika bei Pflanzen weitgehend konstant vorhanden sind, hat Dr. Künzli gelehrt [10]: „Auffallende, eigenheitliche, sonderliche Zeichen und Symptome nach Paragraph 153 Organon“ – also Charakteristika – „gibt es nicht in jedem Krankheitsfall, auch gut beobachtete Geistes- und Gemütssymptome gibt es nicht in jedem Krankheitsfall, aber Allgemeinsymptome sind bei jedem Fall vorhanden.“
  3. Künzlis Lehre der Charakteristika fand einen schöpferischen Niederschlag in der hervorragenden Arzneimittellehre von Horst Barthel [8].
  4. Caroll Dunham [9] und 120 Jahre später Gerhard Risch [10] haben dies schön herausgearbeitet.

Quellen und Literaturhinweise

  1. nach dem Transkript einer Tonaufzeichnung vom Spiekerooger Seminar 1986
  2. Samuel Hahnemann: Die chronischen Krankheiten. 2 Seiten vor Seite 1
  3. Paul Wolf: Achtzehn Thesen für Freunde und Feinde der Homöopathik. Vorwort. Zit. nach Renate Wittern: Frühzeit der Homöopathie. Ausgewählte Aufsätze aus dem „Archiv für die homöopathische Heilkunst“. Stuttgart, 1984, S. 49
  4. Samuel Hahnemann: Organon der Heilkunst, 6. Auflage, § 6
  5. zit. nach Rudolf Tischner: „Geschichte der Homöopathie“, Leipzig, 1939, S. 631 (IV. Teil)
  6. Heinrich Gerd-Witte: Einleitungsvortrag auf seiner Seminarwoche im Rahmen des 1. Dreimonatskurses in Augsburg am 28.10.1985. Siehe auch seinen Beitrag unter den Erinnerungen
  7. Samuel Hahnemann: Organon der Heilkunst, 6. Auflage, § 1
  8. Horst Barthel: Charakteristika homöopathischer Arzneimittel, Berg, 1984, 2. erweiterte Auflage, 1993; Horst Barthel: Charakteristika homöopathischer Arzneimitte, Band II, Berg, 1990; Horst Barthel: Repertorium der Charakteristika, Berg, 1990, 2. erweiterte Auflage, Berg, 1993
  9. Caroll Dunham: Homoeopathy, The Science of Therapeutics. New York, 1863. Reprint New Dehli, 1984
  10. Gerhard Risch: Homöopathik, die Heilmethode Hahnemanns. München, 1985
  11. Jost Künzli: verschiedene mündliche Äußerungen im Rahmen der Vorlesung und der Supervision an der Universität Zürich, 1986-1991
  12. Holde Fritsch: Beitrag unter den Erinnerungen
  13. Monique Altenbach-Twerenbold: Beitrag unter den Erinnerungen
  14. Leopold Drexler nach einem Brief an das Künzli-Archiv
  15. mündliche Mitteilung des Ehemannes dieser Patientin an den Verfasser
  16. Dario Spinedi: Die moderne Behandlung der chronischen Krankheiten
  17. Robert M. Schore, zit. nach: Julian Winston: The Faces of Homoeopathy. Tawa/Neuseeland, 1999, Seite 393
  18. siehe Künzli [20], Seite 264
  19. Erstveröffentlichungen in: Horst Barthel, Will Klunker: Synthetisches Repertorium, Heidelberg, 1973 und Jost Künzli von Fimmelsberg: Kent’s Repertorium Generale, Barthel & Barthel Publishing, Berg am Starnberger See, 1987
  20. Jost Künzli von Fimmelsberg: Die Sykosis. Vortrag, gehalten am Krankenhaus für Naturheilweisen in München-Harlaching am 29.1.1981. DJH 1 (1982), 60-65, 146–153 und 258–264
  21. Jost Künzli von Fimmelsberg: Die Quintagintamillesimalpotenzen. KH 4 (1960), 47–56
  22. Jost Künzli von Fimmelsberg: Die Q-Potenzen – ihre Entdeckung, ihre Herstellung, ihre Anwendung. Verein der homöopathischen Ärzte Nordrhein-Westfalen e.V., Skript der Jahreshauptversammlung am 27.01.1990 in Bochum, Seite 35-43
  23. Künzli, J.: Letter to the editor. British Homoeopathic Journal 48 (1959), 84
  24. siehe meinen betreffenden Beitrag zur Diskussion im Rahmen der vorliegenden Sammlung
  25. aus einem Brief von Dr. René Casez, Annency/Südfrankreich, an den Autor (im Original französisch)
  26. Jost Künzli: aus dem Vorwort zu Rajan Sankaran: Das geistige Prinzip der Homöopathie (The Spirit of Homoeopathy), Bombay, 1991
  27. zit. nach: Janert, R.: Bericht von der 17. Spiekerooger Woche. DJH 5 (1986), 300-301