Dario Spinedi

Die moderne Behandlung der chronischen Krankheiten (ZKH4-1999)

von Dario Spinedi

In den siebziger Jahren war ich auf der Suche nach einer medizinischen Methode, die nach klaren Prinzipien arbeitet und die den Menschen als Ganzes und nicht nur pathologiezentriert betrachten würde. Eines Tages erfuhr ich von meiner Frau, daß ein gewisser Dr. Künzli an der Universität Zürich Kurse über Homöopathie halte. Damals verstand ich von Homöopathie sehr wenig, aber zum Glück wollte der Himmel, daß ich diesem Hinweis folgte. Die Vorlesungen über Homöopathie fanden jeden Donnerstag um 18-20,30 Uhr statt, so daß nicht nur Studenten, sondern auch Ärzte sie besuchen konnten.

Der Unterricht Dr. Künzlis

Als ich das Vorlesungszimmer betrat, sah ich einen großen, vornehmen, stillen Mann, der so um die sechzig sein konnte und beschäftigt war, Blätter auszuteilen. Er war wohl Dr. Künzli. Im Saal saßen bloß vier oder fünf Zuhörer. Was mich frappierte, war die Tatsache, daß als Anmeldung eine Begrüßung bei Dr. Künzli genügte und man sich einfach dazusetzen konnte. Dieses freiheitliche Klima, frei von jedem Zwang und Druck, bestand in den Vorlesungen von Dr. Künzli bis zu seinem Tode. Künzlis Vorlesung bestand aus einer Stunde Theorie und aus einer Stunde praktischer Arbeit an Fällen. Die Theorie wurde nach dem Buch „Theorie der Homöopathie“ von James Tylor Kent in der Übersetzung von Künzli [1] gegeben. Es wurde jeweils ein kleiner Abschnitt vorgelesen und dann von Dr. Künzli frei aus der Fülle seines Wissens mit sehr vielen praktischen Hinweisen kommentiert. Richtige Goldkörner, wie ich später verstand.

Die Kasuistiken, die uns Dr. Künzli zum Lösen aufgab, bestanden meistens aus fünf bis sechs maschinengeschriebenen Seiten und waren nichts anderes als Erstanamnesen von Fällen aus seiner Praxis mit einem Behandlungsverlauf von mindestens zehn Jahren. Er brachte uns nämlich nur solche Fälle, die schon mindestens 10-15 Jahre lang mit einem einzigen Mittel gut liefen. Man muß bedenken, daß er, als er seine Vorlesungen in Zürich begann, schon über dreißig Jahre an praktischer Erfahrung in der klassischen Homöopathie auf sehr hohem Niveau verfügte. Er hatte die Homöopathie von Anfang an bei Pierre Schmidt gelernt, der ja das ganze Erbe von Kent nach Europa herüber getragen hatte.

Wir sollten diese Anamnesen studieren und mit einem Repertorium die angezeigten Mittel finden. Als ich mein erstes Repertorium gekauft hatte – es war der deutsche „Keller-Künzli-Kent“ in drei Bänden [2] – und es auf der Heimfahrt im Zug voller Erwartung und Freude öffnete, war ich sehr enttäuscht, als ich feststellte, daß dies nichts anderes war als ein Wörterbuch. Ich fragte mich, wie man denn kranken Menschen mit so etwas helfen könne. Aber unter der erfahrenen und gütigen Leitung von Dr. Künzli wurde das Repertorium im Laufe der Zeit zu einer Art Kompaß, ohne welchen es in den meisten chronischen Fällen unmöglich gewesen wäre, das richtige Mittel zu finden. Künzli war übrigens einer der ersten Ärzte, die das Repertorisieren im deutschen Sprachraum eingeführt haben. Mit den Teilnehmern seiner Kurse hat er es konsequent praktisch geübt.

Er ließ uns mehrere Stunden über einen Fall brüten, bis einige von uns die Lösung gefunden hatten, und dies geschah meistens mehr durch Raten als durch Kenntnis. Dann besprachen wir den Fall gemeinsam, indem wir ihn Absatz für Absatz gemeinsam lasen und Dr. Künzli jeweils seine Kommentare dazu gab. Wir lernten, daß die Symptome eine Wertigkeit haben, daß es wichtige Symptome gibt und weniger wichtige. Er führte uns die Hierarchisierung der Symptome vor Augen, wobei

  • zuoberst immer die auffallenden Symptome entsprechend Paragraph 153 „Organon“ [3] kamen,
  • danach die gut beobachteten Geistes- und Gemütssymptome,
  • an dritter Stelle die Allgemeinsymptome und so fort.

Die Analyse war sehr praktisch orientiert und frei von jeglicher Spekulation und von jeglichem Philosophieren. Es wurden einfach die Symptome nach ihrer Wertigkeit analysiert. Es wurde z.B. das Symptom analysiert: „Bohnen blähen“. Wir meinten, es sei normal, daß Bohnen blähen. Er kommentierte aber: „Schon, schon, aber nehmen Sie dieses Symptom ruhig. Verschlimmerungen durch Nahrungsmittel sind Allgemeinsymptome und kommen somit an dritter Stelle in der Hierarchisierungsskala.“ Oder wir mußten lernen, daß eine „Landkartenzunge“ ein auffallendes Symptom sei und zuoberst in der Hierarchie komme. Wir konnten alle diese Dinge nicht ganz nachvollziehen, aber wir wußten, daß hinter den Aussagen Dr. Künzlis eine über dreißigjährige Erfahrung stand.

Dazu kam dann die Bewährungsprobe: Man ging nach Hause und fing vorsichtig an, die ersten Anamnesen bei Freunden und Bekannten zu machen; es gab eine Wertung der Symptome so, wie man es gelernt hatte, man verabreichte die Mittel und staunte über die erlebten Erfolge. Wie groß war unsere Überraschung, als wir sahen, daß man das Gelernte sofort in die Praxis umsetzen konnte und es sogar prima funktionierte. Es war alles so einfach, was er uns sagte und doch so wirksam. Erst später begriff ich, daß nur ein großer Meister mit viel Erfahrung und einem großen Überblick eine schwierige Materie für Anfänger einfach machen kann.

Die sechste Auflage von Hahnemanns „Organon“

Dr. Künzli hat nie versucht, Hahnemann zu interpretieren, sondern er nahm Hahnemann wortwörtlich, zumindest, was im „Organon“, sechste Auflage [3], steht. So äußerte er sich über dieses Werk [4]:

„Die Theorie der Homöopathie, das ist das Organon, nicht wahr. Das ist die erste Theorie der Homöopathie gewesen, vor ungefähr 200 Jahren. Das Organon hat ja sechs Auflagen erlebt; die letzte Auflage ist posthum erschienen. Hahnemann hatte sie selbst noch fertig geschrieben; aber sie ist zu seinen Lebezeiten nicht mehr zum Druck gelangt. Diese sechste Auflage ist nun die Summe seines Lebens. Deshalb kann man heute nicht mehr z.B. mit der vierten Auflage kommen und sagen: ‚Ah, hier hat Hahnemann sinkende Pharmakopollaxie* angewendet!‘ – also zuerst höhere Potenzen, dann niedrige und dann noch niedrigere. Das kann man nicht mehr! Dies hat Hahnemann eine Zeitlang gemacht; aber er hat es später wieder verlassen. Er hat das ganze Leben an der Methode gefeilt, deshalb geht einfach nichts über die sechste Auflage. Darum ist sie diejenige, auf die wir uns in Zürich stützen.“

Künzli schenkte uns das Destillat seines Wissens aus einer vierzigjährigen Praxis. Er tat dies mit einer solchen Demut, daß man im ersten Moment gar nicht verstand, welche Perlen, Diamanten und Kostbarkeiten man da in die Hand erhielt. Man konnte ihn als Schüler nur lieben, dazu eine kleine Anekdote.

Ich arbeitete damals in der Neurologie und war konfrontiert mit vielen Patienten mit amyotropher Lateralsklerose. Zur damaligen Zeit dozierte zusammen mit Dr. Künzli ein anderer homöopathischer Arzt Arzneimittellehre an der Universität Zürich. Ich wendete mich an diesen und bat ihn, ob er wirksame Mittel gegen die amyotropher Lateralsklerose kenne. Seine Antwort: „Sie haben nichts von Homöopathie verstanden, man kuriert nicht die Krankheiten, sondern die Kranken. Studieren Sie das Organon!“ Ich war ganz beschämt. Nach einigen Monaten ging ich, weil mir diese Kranken wirklich leid taten, zu Dr. Künzli und wagte, nochmals dieselbe Frage zu stellen. Seine Antwort war: „Ich notiere mir das.“ Bei der nächsten Vorlesung kam er mit einer kleinen Liste von Mitteln, die sich bei dieser Krankheit bewährt hätten. „Ich habe das in der Literatur gefunden“, sagte er.

In fünfzehn Jahren großer Nähe zu Dr. Künzli hat er uns kein einziges Mal das Gefühl vermittelt, daß wir nichts wissen und daß er der Große sei. Er sagte uns immer, wenn wir einen kleinen Erfolg hatten: „Sie machen es aber wunderbar.“ Damit möchte ich zum Ausdruck bringen, daß nur die Liebe fähig ist, Beständiges und Ewiges zu schaffen. Nur in diesem Geist kann die Homöopathie wachsen.

Die Bedeutung der Kentschen Methode

Die ganz nüchterne Tatsache war, daß ich mich nach zwei bis drei Jahren seines Unterrichts an ganz schwierige Fälle heranwagen konnte. Wie war es möglich, daß man in so kurzer Zeit lernen konnte, chronisch Kranke erfolgreich zu behandeln? Die Methode, die ich von Dr. Künzli gelernt habe, habe ich dann in meiner Praxis während zwanzig Jahren angewandt, zu meiner großen Zufriedenheit und zur Zufriedenheit vieler Patienten. Meine innigste Frage war: Gibt es eine bessere Methode als die von Dr. Künzli praktizierte? So schrieb ich ihm einmal diese Frage, und seine Antwort war für mich sehr überraschend, wenn man seine Bescheidenheit kannte; er sagte einfach: „Nein“!

Was war denn die von Künzli – und wie ich später erfuhr, von allen wirklich großen Homöopathen der Welt – angewandte Methode? Lassen wir Dr. Künzli selbst zu Wort kommen in einem Interview, das er Alain Naudé 1974 in San Francisco gab [5]:

„Sie haben während des Kongresses in Washington und San Franzisco gesehen, wieviel Konfusion dort herrschte. Es war schrecklich zu hören, was da alles im Namen der Homöopathie erzählt wurde. Wenn man ein Zentrum oder Institut gründen wollte, müßte man eine ganz klare Methode haben, und ich sehe nur eine solche: das ist Kents Methode.

Man muß die Prinzipien, die uns Kent gegeben hat, ganz genau lernen. Es besteht zuviel Unklarheit darüber, was unter Homöopathie zu verstehen ist. Hahnemann ist perfekt logisch, klar, kohärent gewesen. Es gibt dort keinen Platz für Interpretationen oder eigene Meinungen. Alles, was Kent später so schön formulierte, ist in den Schriften Hahnemanns schon alles enthalten. Das eine fließt harmonisch in das andere. Wenn man Homöopathie akzeptiert, akzeptiert man automatisch, was Hahnemann uns gelehrt hat und sobald man soweit ist, gibt es keine Diskussion mehr, ob man Kent akzeptiert oder nicht. Wenn einer denkt, er könne nach Belieben dieses oder jenes verwerfen nur aus Sympathie oder Antipathie heraus, beweist er damit, daß er das Wesentliche in der Homöopathie nicht verstanden hat. Wenn einer Kent meistert, was reine Homöopathie ist, mag er auch andere Dinge versuchen, wenn er will. Wenn aber einer diese Methode meistert, wird er sehen, daß er kein Bedürfnis hat, etwas anderes zu probieren! Er wird, bin ich überzeugt, bei dieser reinen Homöopathie bleiben.

Leute, die Kent nicht akzeptieren und nicht nach seiner Methode praktizieren, haben, da bin ich sicher, seine Methode nicht begriffen. Und sie haben sie nicht begriffen, weil sie sich nicht die Zeit genommen haben, sie genau zu studieren. Wenn sie sie studieren würden, müßten sie sie verstehen. Sie kritisieren Kent, ohne zu wissen, was sie sagen. Ich glaube kaum, daß diese Leute jemals ein Buch von Kent geöffnet haben. Wenn jemand mit dem Wort „Kentianer“ anfängt, diese reine Homöopathie zu kritisieren, weiß ich sofort, daß er Kent nicht kennt. Und so kritisieren sie auch Hahnemann, weil sie das ‚Organon‘ nie gelesen haben.“

Im selben Interview [5] fährt Künzli fort:

„Dr. Pierre Schmidt und ich, wir haben das ‚Organon‘ ins Französische übersetzt, und er hat auch Kents ,Lectures on Homoepathic Philosophy´ übersetzt. Und diese neue französische Ausgabe [6] ist wunderbar, sie ist wirklich viel besser als das englische Original von Kent! Es ist darin absolut nichts geändert worden, die Übersetzung aber macht das Werk klarer, die Sätze fließen besser. (…) Pierre Schmidt hat viele sehr gute Kommentare zur ‚Theorie der Homöopathie‘ Kents hinzugefügt. Dieses Buch ist unentbehrlich zum Studium der Homöopathie. Pierre Schmidts Übersetzung ist so gelungen, daß ich sie als Grundlage für die Übersetzung ins Deutsche übernahm [1] . (…)

Wissen Sie, einer könnte eine Schule der Homöopathie eröffnen allein mit folgenden Werken:

  • dem ‚Organon‘,
  • der ‚Theorie der Homöopathie‘ von Kent,
  • dem Repertorium von Kent,
  • der Materia Medica Kents und
  • den ‚Chronischen Krankheiten‘ Hahnemanns.

Diese Bücher allein sind das ‚Herz‘ der Homöopathie.“

Das Schicksal hatte Künzli das große Glück und zugleich die immense Verantwortung beschert, einer der treuesten Schüler Pierre Schmidts zu werden. Er übernahm das ganze Erbe von Hahnemann, Kent und Pierre Schmidt zur Überprüfung in seiner langen Praxis. Anläßlich des Todes von Pierre Schmidt schrieb er, wie er die Homöopathie bei seinem Lehrer gelernt hat [7]:

„Einesteils hatte ich Kapitel für Kapitel der Kentschen Vorlesungen zum Vortrag vorzubereiten, Beginn mit Kapitel I. Einige Abende in der Woche konnte ich dann um 20.00, 20.30 zu ihm kommen und ihm das Kapitel vortragen. Interessiert hat mich die Materie ungeheuer, schon vom ersten Kapitel ‚Der Kranke‘ an. Das war nun echte Homöopathie durch und durch. Ich erkannte, wie alles, was ich bisher gelernt und gesehen hatte, recht oberflächlich gewesen und recht weit von dem entfernt war, was Hahnemann so eindringlich empfohlen hatte. Hier wurde ganz auf Hahnemann abgestellt, hier wurde Hahnemann als der erkannt und anerkannt, der der Medizin neue Horizonte eröffnet hatte. Kein Zweifel und Zögern mehr, sondern volle Annahme seiner Lehre bis in alle Details. Und damit natürlich ein ganz anderes Herantreten an den Kranken, mit ganz anderen Erfolgen. Hahnemanns und Kents stenge Forderungen haben mir ungeheuer imponiert. Ich bin ja Sohn eines homöopathischen Arztes und Enkel eines homöopathischen Arztes. Aber hier war Homöopathie ganz anders, als das, was ich erlebt hatte. Viel zwingender, viel sicherer und umfassender. Ich war richtig begeistert. (…)

Die klaren, eindeutigen Gesetze und Richtlinien Kents, die ganz auf Hahnemann aufgebaut sind, haben mir in der Praxis viel geholfen. Ich bin dem Schicksal dankbar, daß es mich auf diese Fährte geführt hat. Wie viele suchen und pröbeln ihr ganzes Leben lang, um am Lebensende vielleicht endlich zu klareren Erkenntnissen zu kommen – oder auch nicht. Wie dankbar kann man sein, wenn man gleich von Anfang an festen Grund unter den Füßen hat. Denn nur so können wahre Fortschritte erfolgen, während andere ihr Leben lang im Nebel wandeln. (…)

Auf diese Weise bin ich in meiner Praxis dann noch deutlich näher zu Hahnemann gekommen. Kent war zum Studium Hahnemanns auf z.T. recht schlechte englische Übersetzungen angewiesen. Hahnemanns reicher Schreibstil dürfte für ihn sicher nicht so leicht durch und durch klar gewesen sein. So läßt sich verstehen, daß Kent in einigen Punkten nicht vertritt, was Hahnemanns Ansicht war.“

Was es für ein Glück darstellt, den richtigen Weg zu finden, zeigt folgender Brief eines Lesers dieses Aufsatzes an Künzli [8]:

„Lieber Dr. Künzli,

Was für ein wunderschönes Gefühl hinterließ in mir dies, was Sie in Ihrem Artikel geschrieben haben! Wie wahr – wie wahr! Die spezielle Bemerkung, die Sie auf Seite 255 machten, hat mich so hart getroffen, daß ich in Tränen – trotz meiner 72 Jahre – ausgebrochen bin, in richtige Tränen! Ja, in der Tat gehöre ich zu denen, von welchen Sie schrieben: ‚So viele suchen ihr ganzes Leben hindurch und gewinnen eine Klarsicht der Dinge erst in hohem Alter, wenn überhaupt.‘

Sie sind in der Tat sehr glücklich gewesen, von Anfang an auf dem richtigen Pfad geführt worden zu sein – es war Ihr Schicksal, Ihr Karma, wie die Buddhisten sagen würden -, und Ihre Dankbarkeit in der Erkenntnis dieser Tatsache hat mich sehr beeindruckt. Ich wäre Ihnen sehr gerne begegnet. Ich kann leider zur Zeit nicht reisen, wenn es mir aber möglich sein wird, werde ich Sie sicher besuchen und es als ein großes Privileg ansehen, eine Person Ihres Kalibers gekannt zu haben.“

Dr. Künzlis praktische Anleitung seiner Schüler

Mit dem Wissen aus der „Theorie der Homöopathie“ von Kent, dank der Anleitung von Dr. Künzli bei der Lösung der Papierfälle und mit dem Repertorium begann ich somit vor zwanzig Jahren meine Praxis. Aber obwohl ich und andere Kollegen nun bald sechs Jahre lang in die Vorlesung von Dr. Künzli gegangen waren, hatten wir bei der praktischen Arbeit täglich Fragen, die wir nicht beantworten konnten. Einmal ging es um die Tatsache, ob ein Symptom wertvoll sei oder nicht. Ein anderes Mal ging es um die Potenzhöhe, die in einem bestimmten Fall zur Anwendung kommen soll. Ein drittes Mal, ob die Zeit zur Wiederholung gekommen sei oder nicht. Es verging kein Tag, ohne daß ich mindestens einmal mit Dr. Künzli telefoniert hätte, um eine Frage zu stellen. Immer gab er geduldig Antwort auf meine Fragen und half mir unendliche Male bei ganz schweren Fällen. Ich staunte immer wieder über das unendliche Wissen dieses wunderbaren Mannes.

Als er unsere Not bemerkt hatte, kam er ab 1986 parallel zur Vorlesung ein zweites Mal jede Woche nach Zürich, um die Supervision zu halten und dies bis kurz vor seinem Tode. Im Rahmen dieser Supervision trugen Kollegen aus der Schweiz, aus Österreich und aus Deutschland schwierige Fälle vor, die dann mit der Hilfe von Dr. Künzli gelöst wurden. Es ist im Rahmen dieser Supervisionen im Verständnis der klassischen Homöopathie ein Höhepunkt erreicht worden.

Im Bewußtseins des großen Privilegs, das ich genossen hatte, versuchte ich möglichst früh, sobald ich die Grundsätze der Homöopathie bei Dr. Künzli gelernt hatte, nach einer etwa neunjährigen Ausbildung selbst eine Supervision anzubieten, die nun seit 1986 ununterbrochen stattfindet, zuerst in Zürich und später im Tessin. Im Rahmen dieser Supervision bringen Kollegen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz schwierige Fälle mit. Man studiert zuerst den bisherigen Verlauf auf dem Papier, sieht dann den Patienten zu einer Life-Anamnese, analysiert die Symptome, bestimmt das Mittel und gibt Empfehlungen zur Dosierung. Es ist meine große Hoffnung, daß diese Kolleginnen und Kollegen mit der Zeit selbst so erfahren werden, daß sie wiederum selbst bei sich vor Ort Supervisionen leiten können, damit das unendlich wertvolle Wissen, daß uns von unseren Meistern geschenkt wurde, zum Wohle der Kranken weitergetragen wird. Ich bin über die diesbezügliche Entwicklung sehr zufrieden, und die Kollegen berichten immer wieder über erfreuliche Verläufe.

1985, anläßlich seines 70. Geburtstages, definierte Dr. Künzli, was eine homöopathische Schule ausmache:

  • daß es eine gewisse Anzahl Schüler gebe, die es genauso machen, beziehungsweise danach bestrebt sind, sich dem Ideal des Meisters zu nähern,
  • daß der Kontakt mit dem Lehrer gegeben sein muß und
  • daß die Schüler untereinander den Kontakt halten mit gegenseitiger Anregung und Hilfe.

Je mehr die Jahren vergingen, je mehr ich Dr. Künzli kannte, umso mehr empfand ich tief in meiner Seele, daß die Homöopathie, die er verkörperte das wahre Erbe des großen Hahnemanns in seiner reinsten und vollkommensten Form war. Als ich 1982 die zweite Auflage des „Synthetischen Repertoriums“ in meiner Hand hielt, dieses wunderschöne Werk von Horst Barthel und Will Klunker, und auf der ersten Seite die Widmung las [9]:

„Dem Meister und Lehrer der Homöopathie Hahnemanns, Dr. med Jost Künzli von Fimelsberg, St. Gallen“

fand ich eine weitere Bestätigung für mein Empfinden, falls dies überhaupt noch nötig gewesen wäre.

1987 stand auf dem Tisch das „Repertorium Generale“ [10]. Dr. Künzli hat dieses Werk mehrere Male korrigiert, und ich weiß, wie damals sein Augenlicht unter dieser Arbeit gelitten hat. Man kann sich nicht vorstellen, mit welcher Freude ich dieses Buch in der Hand hielt, wo man schwarz auf weiß sehen konnte, welche Symptome für den Meister wichtig waren. Wieviele Telefonate und Fragen, um zu wissen, ob diese oder jene Rubrik bewährt ist, waren nun beantwortet. Nun stand ein Buch da, wo dieses Wissen allgemein verfügbar wurde in Form von „schwarzen Punkten“, mit denen er die bewährten Mitteln und Rubriken kennzeichnete. Ein weiterer großer Schritt vorwärts in der Verbesserung der homöopathischen Praxis!

Zur „Theorie der Homöopathie“ von James Tylor Kent

Das lange Studieren und Forschen Künzlis bestätigte im wesentlichen das „Organon“, sechste Auflage, in seinem vollen Umfange sowie folgendes aus der „Theorie der Homöopathie“ von Kent:

  • die Kentsche Hochpotenzskala.

Pierre Schmidt führt dazu aus [11]:

„Die Potenzstufen, die Kent nach vielen Jahren der Erprobung hauptsächlich verwendete sind folgende (alles Centesimalpotenzen): 30, 200, M, XM, CM, DM, MM (nach der Methode Korsakof hergestellt). Hahnemann hat folgene Stufenleiter aufgestellt: 1., 3., 6., 12., 18., 24., 30. Seine persönliche Apotheke enthält vor allem die Potenzstufen 3, dann 6 und 30. Er hatte herausgefunden, daß der Abstand z.B. zwischen der 12. und der 30., wenn die 12. nicht mehr wirkte, genügte, um wieder Wirkung zu zeigen, genauso wie der Sprung von der 3. auf die 6., wenn die 3. nicht mehr wirkte. Kent hat die oben angegebenen Abstände als die besten herausgefunden, d.h. wenn man z.B. die 1000. Potenz gegeben hat, bis sie nicht mehr wirkte, dann war es die 10.000, die wieder deutliche Wirkung entfaltete, niedrigere Potenzen weniger. Die 10.000 Potenz setzte dann das Werk fort, das die 1000 angefangen hatte, aber nicht vollenden konnte. Die 10.000 weitet nun den Effekt in die Breite und Tiefe aus. Kent hat stets steigende Potenzstufen verwendet = aszendierende Pharmakopollaxie*, d.h. zuerst mittlere Höhe, dann höhere, genau wie Hahnemann im ‚Organon‘ empfiehlt (Paragraphen 248, 280, 281, 282a) und immer eine Einzeldosis und nur ein Mittel aufs Mal, damit jede Gabe ihre Wirkung voll und ganz, ohne Interferenz anderer Einflüsse, entfalten kann. Also Einzelgabe und diese auswirken lassen. Dann verabreichte er gewöhnlich dieselbe Gabe später noch ein weiteres Mal, insgesamt also zweimal, sehr selten auch dreimal oder mehrere Male. Dann ging er zur nächsthöheren Stufe über. War einmal die ganze Skala durchlaufen und der Kranke noch nicht geheilt, dann begann er wieder unten bei der C 30, 200 oder M und stieg danach erneut aufwärts. In chronischen Fällen begann er gern mit der M oder XM, in akuten mit der 200.“

Vor einer Versammlung des Schweizerischen Vereins homöopathischer Ärzte im Jahre 1990 sagte Künzli [4]:

„Ich basiere ganz genau auf dem Aufbau des ‚Organon‘ und ganz genau auch auf der Kentschen ‚philosophy‘; denn Kent hat ja seine Vorlesungen auch ganz auf dem ‚Organon‘ aufgebaut. Er hatte vor sich auf dem Pult das ‚Organon‘ aufgeschlagen, hat daraus einen Paragraphen vorgelesen und dann die Exegese dieses Paragraphen gegeben. Die ‚philosophy‘ beruht also ganz genau auf dem ‚Organon‘. Darum kann man eben vieles, was in der Kentschen ‚philosophy‘ enthalten ist, auch heute noch nehmen. Sie enthält Kapitel, die wirklich ewig ihre Gültigkeit behalten. Auch wenn Sie sie in tausend Jahren lesen, werden sie noch genauso gültig sein wie heute. Diese Kapitel haben wir in Zürich beibehalten.“

Es handelt sich dabei um die folgenden Kapitel:

  1. die Untersuchung des Kranken,
  2. der Wert der Symptome,
  3. die homöopathische Verschlimmerung,
  4. Prognose aus der Reaktion auf die erste Gabe,
  5. die zweite Verschreibung.

Diese Kapitel machten das Kernstück seiner Züricher Vorlesungen aus.

Zum Kapitel „Die Untersuchung des Kranken“: Spezielles Gewicht legte Dr. Künzli auf die Fragetechnik. Dazu äußerte er sich folgendermaßen [4]:

  • „Bei der Fallaufnahme gibt es verschiedene sehr wichtige Regeln zu beachten. Beim Befragen des Patienten soll man fünf Arten von Fragen strikte meiden: Man soll
    • keine direkte Fragen stellen,
    • keine Suggestivfragen,
    • keine Optionsfragen oder
    • Fragen, die mit „ja“ oder „nein“ beantwortet werden können,
    • auch keine Fragen, die der Patient nicht versteht, z.B. irgendeinen fachtechnischen Ausdruck.

Das sind Dinge, die man sehr beachten muß und die man üben muß. Wenn man so diese Seminare hört, wie da direkt gefragt wird – das ist ekelhaft! Auf diese Weise können Sie ja alles aus dem Patienten herausfragen und in ihn hineinsuggerieren. Das muß man also ganz vorsichtig machen, man muß die Symptome vorsichtig aus dem Patienten herauslocken. Die Fallaufnahme ist also wirklich eine ganz große Sache.“

Zum Kapitel „Prognose aus der Reaktion auf die erste Gabe“ wiederum Künzli [4]:

„Das ist nun ein sehr, sehr schönes Kapitel, vielleicht das schönste in der ganzen Kentschen ‚philosophy‘. Das sind die zwölf Reaktionen, die man beobachten kann. Das ist heute noch etwas weiterentwickelt worden. Aber diese zwölf Reaktionen sind der Grundstock, an denen läßt sich nichts herumdoktern.“

Zur hierarchischen Stellung der Geistes- und Gemütssymptome

Dennoch war Künzli auch bei Kent nicht mit allem einverstanden. Die ersten Kapitel der „philosophy“ über die mehr philosophischen Aspekte erwähnte er in seinen Vorlesungen nie, da er vor allem praktische Gesichtspunkte für eine korrekte Therapie besprechen wollte. Er war sehr nüchtern und hat sich immer, wie Hahnemann, ausschließlich an Tatsachen und Beobachtungen gehalten. Nicht einverstanden war er auch mit der übertriebenen Bedeutung, die den Geistes- und Gemütssymptomen in der „philosophy“ beigemessen wird. So kommentiert er ([12, 13] Kents „Minor Writings“ [14]:

„Und schließlich geht aus dem Werk ganz klar hervor, daß Kent den auffallenden, sonderlichen, eigenheitlichen Zeichen und Symptomen den allerersten Platz in der Rangordnung der Symptome zuweist, nicht den Geistes- und Gemütssymptomen, und darin genau Hahnemann folgt. Das ist von enormer praktischer Bedeutung. Wird das mißachtet, erleidet die Homöopathie wieder einmal Schiffbruch, wie schon geschehen. Es ist eine Fehlinterpretation Kents, wenn man die Gemütssymptome an die Spitze stellt. Die Wurzel dazu liegt in der ‚philosophy‘, wo der berühmte Satz steht: ‚The mind is the key to the man.‘“ „Wie schon bei Hahnemann (Organon § 153) nachzulesen ist und wie Kent es eindeutig auch wieder angibt, sind die auffallenden, sonderlichen, eigenheitlichen (charakteristischen) Zeichen und Symptome Spitzenreiter in der Hierarchie der Symptome. Erst an zweiter Stelle kommen dann die Geistes- und Gemütssymptome. Es ist ein Irrtum, wenn man diese ganz nach vorne stellt. Dieser Irrtum stammt z.T. aus einer Fehlinterpretation Kents, die heute, nachdem die ‚Minor Writings‘ erschienen sind, nun korrigiert werden kann. In diesen nimmt Kent ganz eindeutig Stellung (….?).

− Quellenverweis an der Originalstelle kontrollieren! −

In diesem Licht betrachtet erscheint nun auf einmal klar, daß auch in der ‚philosophy‘ diese Hierarchieordnung bewahrt ist: Das Kapitel XXXI ‚Charakteristika´ geht eindeutig voraus, dann erst folgen die Kapitel XXXII-XXXIII ‚Der Wert der Symptome‘.“

Künzli interpretiert auch Paragraph 211 „Organon“, der oft falsch verstanden wird [15]:

„Bezüglich der Wertigkeit der Geistes- und Gemütssymptome ist eine Irrmeinung verbreitet. Viele halten die Gemütssymptome für die wichtigsten, dabei bezeichnet Hahnemann ausdrücklich die auffallenden Symptome als die wichtigsten. Die Geistes- und Gemütssymptome sind keineswegs die wichtigsten Symptome, sondern sie sind manchmal so etwas wie das Zünglein an der Waage. Hören Sie, wie Hahnemann sich ausdrückt. Im ‚Organon‘ spricht er zuerst über die Gemüts- und Geisteskrankheiten und sagt dann im Paragraph 211:

‚Dies geht so weit, daß bei homöopathischer Wahl eines Heilmittels, der Gemütszustand des Kranken oft am meisten den Ausschlag gibt, als Zeichen von bestimmter Eigenheit, welches dem genau beobachtenden Arzte unter allen am wenigsten verborgen bleiben kann.‘

Das gibt oft den Ausschlag! Bei einem Fall sind Sie im Zweifel und denken z.B., daß könnte entweder Sulfur oder Nux vomica sein. Aber der Geistes- und Gemütszustand ist bei beiden Mitteln sehr verschieden; dann gibt eben der Gemütszustand den Ausschlag, entweder für Sulfur oder für Nux vomica. Das gibt den letzten Anstoß! Als letztes schauen Sie den Patienten an: Wie schätzen Sie seinen Gemütszustand ein? Ist er ein Melancholiker, ist er phlegmatisch usw.? Aufgrund dessen entscheiden sie sich vielleicht für ein Mittel und lassen ein anderes fallen, das diesem Gemütszustand nicht entspricht.

Die Gemütsverfassung gehört also absolut nicht an die höchste Stelle. Das müssen sie sich unbedingt merken! Wenn Sie nämlich den Gemütszustand als Wichtigstes nehmen, besteht die Gefahr, daß Sie ganz gewöhnliche Geistes- und Gemütssymptome auflisten und mit denen repertorisieren. Dieser Fehler wird häufig begangen: Es werden einfach viele Geistessymptome entweder am Computer oder von Hand zusammengestellt; dann wird nach diesen Symptomen ein Mittel bestimmt, ohne auf die anderen Symptomen zu achten. Das geht ganz daneben, auf diese Art und Weise werden Sie kein Simillimum finden! So geht es nicht. Die Geistes- und Gemütssymptome stehen unbedingt erst an zweiter Stelle.“

Wie man sieht, hat Künzli immer wieder versucht, Klarheit zu schaffen bezüglich der Wertigkeit der Geistes- und Gemütssymptome innerhalb der Hierarchisierung. Grund genug, seine Worte sehr ernst zu nehmen.

Künzli war nicht prinzipiell gegen die Verwendung von Geistes- und Gemütssymptomen. Der Beweis dafür sind sehr schöne Fälle von ihm, die er allein aufgrund auffallender Geistes- und Gemütssymptome gelöst hat. Er war sich nur der Schwierigkeiten bewußt, die sich aus einer Überbewertung der Geistes- und Gemütssymptome ergeben. Er verschloß sich auch nicht der aus Indien kommenden Strömung, die im schönen Buch Rajan Sankarans „The Spirit of Homoeopathy“ [16] verkörpert ist. So schrieb er im Vorwort zu diesem Werk [17]:

„Dr. Sankaran stellt uns eine sehr eigenständige Arbeit vor. Was mir an seinem Buch am besten gefällt, sind seine Fälle, wie er zur Lösung gelangt, seine intellektuelle Leistung, seine detektivische Vorgehensweise und seine phänomenale Kenntnis des Repertoriums. All dies zusammen ist der wahre klassische Weg, wie ihn Hahnemann uns übergeben hat. Da gibt es für Routine, Faulheit und vorgefertigte Meinungen keinen Raum. Nötig sind offene Sinne, Schärfe des Intellekts, eine sehr genaue Beobachtungsgabe – und ein sehr gutes Gedächtnis. Solange die Homöopathie in dieser Weise ausgeübt wird, ist ihr eine goldene Zukunft gesichert.“

In den Jahren nach Erscheinen des Buches „The Spirit of Homoeopathy“ gab ich zwei Seminare über dieses Werk und versuchte, viele Ideen Sankarans in meiner Praxis anzuwenden. Ich kann nur sagen: Wenn man die solide Schule Dr. Künzlis mitgemacht hat, dann ist die Methodik Rajan Sankarans eine echte Bereicherung der Praxis.

Die historische Entwicklung der praktischen Erkenntnisse muß berücksichtigt werden

Im Vorwort zur Neuauflage der „Theorie der Homöopathie“ Kents schrieb ich folgendes nach langem Studium der Werke Kents [18]:

„Man kann meines Erachtens der ,Theorie´ nicht kritisch gegenüberstehen, wenn man nicht ihre historische Bedingtheit und den Werdegang Kents etwas näher unter die Lupe nimmt. Das Buch wurde 1900 veröffentlicht, also 16 Jahren vor dem Tode Kents. Es stellt somit nur eine Momentaufnahme im Werdegang des Meisters dar, denn Kent arbeitete unermüdlich zur Verfeinerung seiner Methodik, speziell der Dosierungslehre, bis zu seinem Lebensende.

Wenn man das Wirken Kents genauer studiert, frappiert die Diskrepanz zwischen seiner praktischen Arbeit und seinen theoretischen Aufsätzen. Bei der Analyse aller Kasuistiken“ – in den „Minor Writings“ [14] – „ist mir aufgefallen, daß sich Kent bei der Lösung der Fälle immer strikt an Hahnemann gehalten hat, d.h. er hat meist Symptome im Sinne von Paragraph 153 zur Mittelbestimmung gewählt, selten findet man Geistes- und Gemütssymptome in seinen Krankengeschichten (dasselbe könnte man von den Krankengeschichten Hahnemanns und seiner engeren Schüler sagen). Liest man hingegen seine theoretischen Aufsätze, sieht man, daß er je nach Epoche unterschiedliche Ansichten vertreten hat – Ansichten, die in meinen Augen für die Entwicklung der Homöopathie in unseren Tagen schwerwiegende Folgen haben. Noch im Jahre 1911, also fünf Jahre vor seinem Tode, schreibt Kent in einem Aufsatz [19]:

,Das Zentrum des Menschen ist das, was er liebt und haßt.
An zweiter Stelle kommen die intellektuellen Funktionen, das Denken.
Als nächstes das Gedächtnis.
Dann folgen die Allgemeinsymtome.

Irgendwann später im Aufsatz taucht dann die Aussage auf, daß Hahnemann den auffallenden, sonderlichen, eigenheitlichen Symptomen die größte Bedeutung gab. Man trifft eine ähnliche Aussage [wie oben – C.T.] auch in den ‚Lectures of homoeopathic philosophy‘, im berühmten Satz: ‚The mind is the key to the man.‘ -‚Das Gemüt ist der Schlüssel zur Person.‘

Woher kommt diese Abweichung von Hahnemann, der ganz deutlich die auffallenden, sonderlichen, eigeneitlichen Symptome in der Hierarchisierung an die oberste Stelle setzt? Man muß wissen, daß Kent ein Anhänger der Swedenborgphilosophie war. Seine Berührung mit der Philosophie Swedenborgs muß in den Jahren 1888-1899 vermutet werden [20], also in der Zeit kurz vor Herausgabe der ‚Lectures‘. Wie man aus dem oben genannten Aufsatz von 1911 sehen kann, hat dieses Gedankengut Swedenborgs bei Kent lange nachgewirkt. Die Beeinflussung Swedenborgs ist offensichtlich: Die hierarchische Einteilung der Psyche in den genannten drei Niveaustufen stammt aus Swedenborgs ‚Doctrine of the degrees‘ [20]. Es hat also eine gewisse Überlagerung der reinen Lehre Hahnemanns durch die Swedenborgphilosophie stattgefunden, und dies hat dazu geführt, daß viele Homöopathen sich auf Kent berufend – eben den Kent der Swedenborgperiode -, den Geistes- und Gemütssymptomen eine übermäßige Bedeutung geben. Ein Trend, der heutzutage erschreckende Ausmaße angenommen hat und sicher der Homöopathie Hahnemanns nicht förderlich ist.

Ich sprach eben von der historischen Bedingtheit dieses Werke. Warum? Was sagte Kent ein Jahr später, 1912, in einem weiteren sehr schönen Aufsatz [21]:

‚Die Lehre Hahnemann ist bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt unübertroffen. Die auffallenden, seltenen, sonderlichen Symptome müssen uns bei der Mittelwahl leiten. Wie sollen wir dies tun? Zuerst müssen wir uns klar werden, welche Symptome gewöhnlich sind, dann wird es leicht sein die ungewöhnlichen Symptome zu entdecken. Gewöhnliche Symptome sind pathognomonische Symptome für die betreffende Krankheit und solche, die vielen Mitteln gemeinsam sind und in großen Rubriken unserer Repertorien gefunden werden.‘

Jetzt sind wir zu Hahnemann zurückgekehrt! Auf einem Umweg hat Kent dank seiner Praxis zu Hahnemann zurückgefunden. Es herrscht vollkommene Übereinstimmung zwischen dem alten Kent und Hahnemann. Aber was für Konsequenzen hat dies für uns? Wenn wir die Lehre Kents studieren wollen, müssen wir vor allem auch die Schriften aus den letzten Lebensjahren Kents berücksichtigen. Konkret bedeutet dies, daß man neben der ‚Theorie der Homöopathie‘ auch Kents ‚Minor Writings‘ [14] studieren muß, um den Meister wirklich zu verstehen.“

Diese letzte Feststellung ist immens wichtig beim Studium der Homöopathie überhaupt. Man kann die Homöopathie nur verstehen, wenn man die genaue Biographie, den genauen Werdegang der Meister kennt. Man muß die Quellen in der Originalsprache genau studieren; da haben die Deutschsprechenden eine große Verantwortung. Man kann nicht Hahnemann mit irgendeiner beliebigen Stelle zitieren; denn was er zwei Jahre zuvor geschrieben hat, hat er eventuell zwei Jahre später schon wieder verlassen.

Zur historischen Entwicklung der homöopathischen Pharmakopollaxie* und Dosierungslehre

Es ist auch sehr wichtig, folgenden Abschnitt aus den „Chronischen Krankheiten“ [22] im Licht der späteren Erkenntnisse zu beleuchten:

„Wenn ich den Schwefel, die Schwefelleber (Hepar) und in einigen Fällen die Sepie ausnehme, so lassen sich die übrigen antipsorischen Mittel nur selten mit Vorteil in unmittelbar wiederholten Gaben reichen, was wir auch bei der Heilung der chronischen Krankheiten fast gar nicht bedürfen, da uns ein grosser Vorrat an antipsorischen Mittel zu Gebote steht, aus welchen wir, sobald die Gabe des einen wohlgewählten Mittels seine Wirkung vollführt hat, aber eine Abänderung der Symptome beim Kranken, ein abgändertes Krankheitsbild zum Vorschein kommt, ein nun hierauf homöopathisch passendes anderes Antipsorikum mit grösserem Vortheile und sicherer Aussicht, die Heilung zu beschleunigen, wählen können, als wenn wir das Wagstück begehen, die nicht ganz mehr passende vorige Arznei wieder zu reichen.“

Zu dieser Passage bemerkt Pierre Schmidt in seiner französischen Übersetzung dieses Werkes [23]:

„Diese Behauptung Hahnemanns, welche auf seiner persönlichen Erfahrung gründet, ist sehr interessant. Es ist klar, daß er die hohen Verdünnungen, wie sie Kent und seine Schüler verwendet haben, noch nicht kannte. Auch nicht die Kentsche Skala, die Kent nach sehr viel Forschen herausgefunden hat. Dabei hat er gezeigt, daß dasselbe Mittel sehr lange Zeit, während vieler Jahre, verabreicht werden kann, ohne daß man es ändern muß. Und daß dabei die Wirkung des Mittels immer mehr in die Tiefe geht und sich nicht erschöpft – unter der Bedingung, daß die nächstgegebene Verdünnung jeweils höher ist als die vorangehende und daß man jede Verdünnung lange, Wochen oder Monate, nachwirken läßt bis zur nächsten Wiederholung. Dies habe ich während 50 Jahren Praxis verifizieren können.“

1837, zwei Jahre nach der Niederschrift des obigen Textes in den „Chronischen Krankheiten“, schreibt Hahnemann dagegen [24]:

„Wird aber zum wiederholten Einnehmen ein- und derselben Arznei (was doch zur Erreichung der Heilung einer großen, langwierigen Krankheit unerläßlich ist) die Gabe jedesmal in ihrem Dynamisationsgrade, wenn auch nur um ein Weniges verändert und modificiert, so nimmt die Lebenskraft des Kranken dieselbe Arznei, selbst in kurzen Zwischenzeiten, unglaublich viele Male nacheinander mit dem besten Erfolge und jedesmal zum vermehrten Wohle des Kranken, ruhig und gleichsam gutwillig auf.“

Man sieht also, daß durch die Dynamisation dieselbe Medizin lange zum Vorteile des Organismus wiederholt werden darf. Hier herrscht vollkommene Übereinstimmung zwischen Hahnemann und Kent.

Ab 1992 beschäftigte ich mich intensiv mit dem Lebenswerk und der Biographie Hahnemanns und verfaßte einen Artikel mit dem Titel „Die Entwicklung der homöopathischen Praxis seit Hahnemann“ [25]. Man kann, diesen Artikel zusammenfassend, folgendes sagen: Nach unermüdlichem Forschen hatte Hahnemann im Jahre 1832 einen vorläufigen Höhepunkt in seiner pharmakologischen Entwicklung erreicht. Es wurden C-Potenzen als Einzeldosen, meist in der C 30, trocken auf der Zunge verabreicht mit langem Nachwirken der Dosis. Trotzdem war Hahnemann anscheinend noch immer unzufrieden mit der Heilkraft der Mittel und begann deshalb nach diesem Zeitpunkt, die Mittel wieder häufiger zu verabreichen, zu wechseln und mit der Dosierung zu experimentieren. Wenn man seine Krankenjournale um das Jahr 1837 studiert, sieht man, daß die Mittel schnell gewechselt und wieder in Wasser gelöst verabreicht werden, genau wie in seiner Eilenburger Praxis 20 Jahre zuvor. Schließlich verließ er die C-Potenzen gänzlich und entwickelte in Paris die Q-Potenzen.

Wenn man Hahnemann zitiert, muß man sich dieser Entwicklung bewußt sein und wissen, daß er bis zu seinem Lebensende experimentiert hat. Deshalb haben viele seiner Aussagen nur vorläufigen Charakter. Nur „Organon VI“ enthält die Zusammenfassung, die Essenz seiner gesamten Erfahrung. Aber im „Organon VI“ finden wir vorwiegend die pharmakologischen Grundlagen für die Q-Potenzen und nicht mehr für die C-Potenzen. Viele Homöopathen wissen dies nicht, praktizieren mit den C-Potenzen, aber zitieren Paragraphen aus dem „Organon VI“, die sich nur auf die Q-Potenzen beziehen. Es ist das große Verdienst Josef Schmidts eine textkritische Ausgabe des „Organon“ (3) erstellt zu haben, in welcher alle Änderungen der sechsten gegenüber der fünften Auflage genau dokumentiert sind – Änderungen, von denen sich viele auf die Q-Potenzen beziehen.

Die Weiterentwicklung der Gesetzmäßigkeiten bei Anwendung der C-Potenzen ist vorwiegend ein Verdienst Kents; sie sind in seiner „Theorie der Homöopathie“ niedergelegt – siehe z.B. den obigen Kommentar Pierre Schmidts zur Kentschen Hochpotenzskala in diesem Werk.

Hahnemanns Theorie der chronischen Krankheiten

Künzli hat sich von Kent auch bezüglich dessen Auslegung der Psoratheorie distanziert.

Künzli hat sich strikt an die Aussagen Hahnemanns im ersten Band der „Chronischen Krankheiten“ gehalten, wobei er speziell auf die Liste der Symptome der „latenten“, der „ausbrechenden“ und der „manifesten Psora“ Wert gelegt hat. In den neunziger Jahren beschäftigte ich mich intensiv mit diesem Werk Hahnemanns und kam zu folgenden für die Praxis wichtigen Schlußfolgerungen:

  1. Nach Entdeckung der Theorie der chronischen Krankheiten fand in Hahnemanns Praxis eine große Wende bezüglich der verschriebenen Mittel statt.

Wenn wir eine Tabelle aus dem Buch „Die Entwicklung von Samuel Hahnemanns ärztlicher Praxis“ [26] betrachten, sehen wir deutlich, wie Hahnemann im Laufe der Zeit gewisse Mittel zu Gunsten von anderen verlassen hat. Wenn wir die Periode zwischen 1802-1820, also vor Entdeckung der Theorie der chronischen Krankheiten, mit den Jahren 1832 – 1840 vergleichen, als Hahnemann diese Theorie entwickelt hatte, lassen sich folgende Feststellungen treffen:

  • Alumina wurde erst in der zweiten Periode verschrieben;
  • Arsen ist in beiden Perioden etwa gleich häufig;
  • Calcarea carbonica wird nur in der zweiten Periode verordnet;
  • Chamomilla ist in der ersten Periode sehr häufig vertreten, in der zweiten praktisch nicht mehr;
  • Hepar sulfuris kommt in der ersten Periode nicht, in der zweiten aber sehr oft vor;
  • Ignatia ist noch in der Zeit von 1828 häufig, in der zweiten Epoche dagegen nur selten;
  • Nux vomica wird vorher viel häufiger verschrieben als später;
  • Phosphorus wird zunehmend häufiger verordnet;
  • Pulsatilla kommt in der ersten Epoche viel häufiger vor als in der zweiten;
  • Rhus toxicodendron wird erst in der zweiten Epoche häufig verschrieben;
  • Sepia kommt in der zweiten Epoche zunehmend vor;
  • Stramonium gibt es häufig im ersten Zeitabschnitt, nach 1828 praktisch nicht mehr;
  • Sulfur wird in der ersten Epoche nicht verordnet, nach 1828 sehr oft.

Überwiegend der ersten Periode zugehörig sind also Mittel wie Chamomilla, Ignatia, Nux vomica, Pulsatilla und Stramonium, nach der Erarbeitung der Theorie der chronischen Krankheiten wendet sich das Blatt zugunsten von Mitteln wie Alumina, Calcarea carbonica, Hepar sulfuris, Phosphor, Rhus toxicodendron, Sepia und Sulfur. Es ist offenkundig: Hahnemann hat in den „Chronischen Krankheiten“ diejenigen Mittel verankert, die fähig sind, chronische Krankheiten zu heilen. Dies ist in der heutigen Zeit fast in Vergessenheit geraten, wo manche Homöopathen postulieren, daß jedes Mittel fähig sein soll, chronische Krankheiten zu heilen. Man will quasi eine Renaissance der sogenannten „kleinen Mittel“ heraufbeschwören. Dabei verstößt man aber schwer gegen die Erkenntnisse Hahnemanns, der ja zwölf Jahre „bei Tag und Nacht“, wie er sagte, gearbeitet hat, um die Theorie zur Behandlung der chronischen Krankheiten zu entwickeln und die bei diesen indizierten Mittel zu finden.
Künzli formuliert es noch krasser [27]:
„Es gibt nur sehr wenige Mittel, die wirklich fähig sind, chronische Krankheiten zu heilen. Dies sind meistens Substanzen, die an den physiologischen Grundprozessen beteiligt sind, wie Schwefel, Calcium, Natrium, Phosphor und Silicium usw. Viele der Polychreste sind auch weitgehend aus diesen Substanzen zusammengesetzt, wie z.B. Lycopodium, Sepia, Pulsatilla. Doch gelegentlich werden auch andere, seltenere Mittel als wirklich konstitutionell gefunden. Zum Beispiel kann auch Stramonium in wirklich seltenen Fällen ein wahres Konstitutionsmittel sein. Aber das begegnet einem nur einmal im Leben.“

  1. Eine zweite Erkenntnis, die man aus der Lektüre des ersten Bandes der „Chronischen Krankheiten“ gewinnen kann, ist, daß man sich bei der Wahl des Arzneimittels zur Behandlung chronischer Erkrankungen auf die Totalität der Symptome des ganzen Lebens von der Geburt an stützen muß.
  2. Hahnemann zeigt in diesem Werk anhand von fast einhundert Beispielen, welche schrecklichen Folgen die Unterdrückung von Hautausschlägen hat. Bis heute wird gegen dieses Gebot auf der ganzen Erde gesündigt – zum großen Nachteil der Kranken.
  3. Dieses Werk gibt uns eine Liste von Symptomen der latenten, der ausbrechenden und der manifesten Psora.
    Dr. Künzli legte soviel Wert auf diese Liste, daß er sie nochmals in toto publizieren ließ [28]. Welche Bedeutung hat diese Liste?

Nehmen wir an, ein Kind hat Würmer. Wir finden dieses Symptom an allererster Stelle in der Liste der Symptome der latenten Psora [29]:

„Meist bei Kindern: öfterer Abgang von Spulwürmern und Maden, unleidiges Kriebeln von letztern im Mastdarm.“

Die Folgerung ist, daß wir bei diesem Kind eine antipsorische Kur beginnen müssen und nicht denken sollten: „Ich muß jetzt eine Wurmkur machen.“ Dies wäre ja schon eine erste Unterdrückung, weil man nicht die Ursache, sondern das Symptom bekämpft. Oder Nasenbluten bei Kindern: dies findet sich ebenfalls in der Liste der Symptome der latenten Psora [29]:

„Nasenbluten bei Mädchen und Jünglingen (seltner bei älteren), oft von großer Heftigkeit.“

Also keine Verödung – auf keinen Fall, sondern eine antipsorische Kur! Diese ist eine echte Prophylaxe.

  1. Eine weitere Bedeutung dieser Liste der Symptome der Psora, die uns Hahnemann nach zwölfjährigem Studium seiner Krankengeschichten geschenkt hat, ist folgende: Wenn man die chronischen Krankheiten heilen will, soll man speziell auf diese Symptome achten: Diese sollen bei der Repertorisation zur Deckung gebracht werden.
  2. Die Schulmedizin entdeckt jeden Tag neue Mikroorganismen, die für unzählige Pathologien verantwortlich sind. Letzthin las ich in einer psychiatrischen Zeitschrift, daß auch für Depressionen endogener Natur Mikroorganismen eine wichtige Rolle spielen. Langsam ist die Wissenschaft dabei, Hahnemann recht zu geben, welcher die Psora als eine chronisch-infektiöse Erkrankung deklariert hat.
  3. Hahnemann sprach in den „Chronischen Krankheiten“ immer nur von Ansteckung dieser Erkrankungen. Es war das Verdienst von John Henry Allen und von Kent zu erkennen, daß die Sykosis ebenso wie die Syphilis und die Psora auch in einem späteren Stadium auf den Geschlechtspartner übertragen werden kann und daß Psora, Sykosis und Syphilis sogar durch Vererbung auf die Nachkommen übertragen werden können.

Über die Sykosis schrieb Hahnemann nur wenige Seiten in seinem Werk „Chronische Krankheiten“, forderte jedoch seine Schüler auf, ebenso, wie er es für die Psora getan hatte, auch für die Sykosis eine vollständige Liste der Symptome zusammenzutragen. Boenninghausen war der erste, der die Gedankengänge des Meisters in ihrer ganzen Bedeutung verstand. Er schrieb sehr schöne Aufsätze, welche im Sammelband „Kleine medizinischen Schriften“ [30] enthalten sind. Er war auch der erste, der den Zusammenhang zwischen Pockenkrankheit und Sykosis erkannte und als Hauptantidot Thuja empfahl. Künzli hat das ganze Wissen der alten Autoren über die Sykosis zu einer Synthese verschmolzen. Er stellte eine ganz genaue Liste der Symptome der Sykosis I, II und III auf, genau wie es Hahnemann für die Psora getan hatte und publizierte diese außerordentlich wichtige Arbeit 1982 [31].

Konsequenzen aus der Theorie der chronischen Krankheiten

Hahnemann hat die Syphilis als Modell genommen zur Erklärung von Sykosis und Psora sowie die Krätze als Modell zur Erklärung der Psora. Was ist allen drei Miasmen gemeinsam, was ist überhaupt die Natur der chronischen Krankheiten?

  1. Die chronischen Krankheiten sind infektiöser Natur.

Auf dem Ligakongreß in Athen im Jahr 1988 äußerte sich Künzli zur Frage, was unter „Miasma“ zu verstehen sei [32]:
„Ein Miasma ist einfach ein infektiöses Agens. Eine Mikrobe, ein Virus, dies ist ein Miasma. Hahnemann selbst spricht vom ‚Miasma der Cholera‘ und definiert sie als winzige Lebewesen. Für die Syphilis haben wir das Treponema. Für Sykosis und Psora sehen wir nicht so klar, heutzutage hören wir von Herpes- und Retroviren.“

  1. Prinzip des Lokalaffektes als Schutz des Organismus vor der inneren Krankheit.
  2. Prinzip der Unterdrückung: Wenn man den Lokalaffekt unterdrückt, verschlimmert sich die innere Krankheit – und umgekehrt: Wenn ein Lokalaffekt erscheint, bessert sich das innere Leiden. Mit Lokalaffekt sind dabei nicht nur die primären Äußerungen, z.B. von Syphilis I, Sykosis I bzw. Psora I gemeint, d.h. Schanker, Condylome bzw. Bläschen, sondern auch die Manifestationen der Stadien II und III.
  3. Prinzip der Ansteckung: Sykosis, Psora und Syphilis sind ansteckbar und zwar nicht nur im ersten Stadium, sondern wie gesagt auch in späteren Stadien.

Diese vier Erkenntnisse haben wichtige praktische Konsequenzen für die Klinik:

  • Zur Verhinderung der Übertragung der Krankheit auf den Partner und damit auf die Nachkommen.
  • Für die „eugenische Kur“, d.h. für eine gesündere Nachkommenschaft.
    Das bedeutet: Wenn einer der Partner oder beide chronisch erkrankt sind, empfiehlt sich die homöopsorische/ homöosykotische* Behandlung vor der Zeugung, um dadurch einer Übertragung auf die nächste Generation vorzubeugen.
  • Für epidemiologische Betrachtungen.
  • Um eine Unterdrückung der vikariierenden Primäraffekte zu vermeiden.
    Hahnemann erläutert im ersten Band seines Werkes „Chronische Krankheiten“ anhand von fast einhundert Beispielen, die er aus der medizinischen Literatur zusammengetregen hat, welche verheerende Wirkungen es haben kann, wenn der Primäraffekt der Psora, z.B. die Krätzbläschen oder ein Milchschorf, unterdrückt wird. Und im gleichen Atmezug zeigt er, welche Erleichterung ein kranker Organismus erfährt, wenn der Primäraffekt wieder an die Oberfläche zurückkehrt. Das gilt sowohl für die Psora als auch für die Sykosis als auch für die Syphilis. Wenn z.B. eine sykotische Gonorrhoe unterdrückt wird, entwickelt sich die Krankheit in der Tiefe umso rascher weiter. Dasselbe gilt auch für die Sekundärmanifestationen der Sykosis – z.B. die Condylomata acuminata – und der Syphilis – z.B. die Condylomata lata.
  • Zur Beurteilung der klinischen Behandlungsverlaufs.
    Ein Beispiel: Wenn der Primäraffekt einer Psora-Infektion, juckende Bläschen, nach Gabe eines homöopathischen Mittels zurückkommt, nachdem er früher unterdrückt worden ist, weiß man, daß man mit der Behandlung auf dem guten Wege ist.
    Ein weiteres Beispiel: Wenn ein Patient in der Vergangenheit eine Gonorrhoe gehabt hat, die antibiotisch behandelt wurde, und nun unter homöopathischer Behandlung ein steriler gelber Ausfluß aus der Harnröhre auftritt, handelt es sich um eine sog. „retrograde Metamorphose“. Das bedeutet: Ein alter unterdrückter Krankheitszustand kehrt zurück und beweist dadurch, daß das optimal passende homöopathische Medikament verschrieben wurde.
  • Zur Erleichterung der Mittelwahl.
    Manchmal hilft das Erkennen des zugrundeliegenden Miasmas auch für die Mittelwahl.

Ich beschäftigte mich mit dem Begriff der Sykosis und mit dessen Bedeutung für die Praxis und kam zu folgenden Schlüssen, welche durch die Praxis ihre Bestätigung finden.

Spezielle Betrachtungen betreffend Sykosis:

  • Die Sykosis hat zu tun mit Feigwarzen (Hahnemann).
  • Die Sykosis hat zu tun mit der Pockenkrankheit (Boenninghausen).
  • Die Sykosis wird durch Geschlechtsverkehr oder durch Erbschaft übertragen.
    Siehe schöner Medorrhinumfall von Dr. Künzli über Ichthyosis congenita, wo über drei Generationen das indizierte Mittel Medorrhinum war [33].
  • Die Sykosis ist auch in späteren Stadien übertragen, wenn keine Gonokokken mehr nachweisbar sind (Kent und Allen).
  • Die Sykosis hat viel mit Gonorrhoe zu tun (Hahnemann, Allen, Kent, Künzli).
    Siehe am Beispiel des Molluscum contagiosum – mit möglichem Therapeutikum Medorrhinum – die Beziehung zwischen den Pockenviren und der Gonorrhoe.
  • Die Sykosis ist durch die antibiotische Therapie der Gonorrhoe nicht beeinflußbar (moderne Autoren, Pierre Schmidt).

Was ist der gemeinsame Nenner, der allen diesen Forderungen entspricht? Natürlich ein Virus!

  • Die Feigwarzen sind durch ein Virus hervorgerufen.
  • Die Pocken sind ebenfalls von einem Virus erzeugt.
  • Virale Krankheiten werden auch von Mensch zu Mensch übertragen.
  • Virale Krankheiten können auch durch Geschlechtsverkehr übertragen werden
    (z.B. Erkrankungen durch Papillom-, Herpesvirus usw. bis zum Aids-Virus hin).
  • Siehe das Beispiel Molluscum contagiosum: Diese Krankheit wird ausgelöst durch ein Virus der Pockengruppe und kann u.a. durch Medorrhinum geheilt werden.
  • Viren werden durch Antibiotika nicht getroffen.
  • Viren bauen ihre Information in die DNA der Wirtszelle ein und können somit, falls diese Information in die Gameten eingebaut wird, von Generation zu Generation übertragen werden.

Eine spezielle Betrachtung verdienen die Hautviren, denn diese sind unserer Betrachtung zugänglich und somit praktisch relevant.

Hautviren: 1. Viren der Herpesgruppe:

  1. das Herpesvirus ist Erreger folgender Erkrankungen:
    • Zoster,
    • Varizellen,
    • Herpes simplex.

Zur Pathophysiologie der Herpesviren:

Herpes simplex 1 und 2 werden mit den Varizella-, Zoster-, Zytomegalie-, Epstein Barr-Virus und dem Herpes-Virus 6 den humanen Herpesviren zugeordnet. Sie integrieren ihr Material obligat in die DNA der menschlichen Wirtszelle und können latent persistieren. Verschiedene Faktoren – UV-Licht, Traumen, Infektionen, Stress, Fieber und Immunsupression – vermögen sie zu reaktivieren.

Zur Klinik der Herpesviren:

Herpes simplex verursacht oral, genital und dermal Erytheme, Bläschen, Pusteln und Erosionen im Aktustadium. Keratokonjunktivitis und Enzephalitis gehören bei Immunsupprimierten und Kleinkindern zu den gefürchtesten Komplikationen.

Zur Epidemiologie der Herpesviren:

Studien aus den USA und Großbritannien belegen die massive Zunahme dieser vorwiegend sexuell übertagbaren Krankheit. Interessant ist die Betrachtung von Personen mit rezidivierendem Herpes, z.B. bei Herpes genitalis – übrigens auch eine Sykosis II- oder III-Läsion. Im Intervall zwischen den Rezidiven liegt das Virus in Form von infektiöser DNA vor, beim Herpes genitalis in den Sakralganglien. Hier werden die Viren nicht durch Antikörper beeinträchtigt. Die Virus-DNA kann durch Zellnukleasen so lange paralysisert werden, bis durch einen Streß (im weitesten Sinne) ein Nuclease-Inhibitor zur Wirkung gelangt. Dieser regt dann die infektiöse DNA zur Produktion des virulenten Virus an. Dieses wandert entlang der peripheren Nerven in das betreffende Areal und verursacht dort das Aufschießen der Herpesbläschen.

Nicht alle Menschen, die eine Herpesinfektion durchgemacht haben, neigen zu Rezidiven. Voraussetzung dazu ist eine sog. „Herpes-Disposition“. Frage: Ist dies die sykotische Disposition?

Ferner zählen zwar nicht zu den Hautviren, aber zu den Viren der Herpesgruppe:

  1. das Zytomegalievirus und
  2. das Epstein-Barr-Virus, welches für folgende Krankheiten verantwortlich gemacht wird:
    • Burkitt-Lymphom,
    • infektiöse Mononucelose,
    • Karzinom im postnasalen Raum,
    • Sarkoidose.

Wiederum zu den Hautviren gehören:

2. Viren der Pockengruppe, welche u.a. folgende Erkrankungen hervorrufen können:

  • Variola vera,
  • vakzinale Erkrankungen (Impfschäden),
  • Paravaccinia (Melkerknötchen),
  • Molluscum contagiosum.

3. Viren der Papillomgruppe als Erreger folgender Erkrankungen:

  • plane, juvenile Warzen,
  • vulgäre Warzen, veruccae vulgares,
  • Plantarwarzen,
  • spitze Condylome (Condylomata accuminata),
  • Verrucosis generalisata.

Sehr viele dieser Erkrankungen gehören eindeutig zum Bild der Sykosis, z.B. die Herpes simplex-Affektionen:

  • Herpes genitalis – “genitalia, male, glans, vesicles“, “genitalia, female, herpetic“ – mit Heilmitteln wie Medorrhinum oder Thuja , also reinen Antisykotika,
  • rezidivierender Lippenherpes: Die von Künzli für den Lippenherpes geschaffenen Rubrik „face, eruptions, vesicles, fever blisters“ enthält ebenfalls u.a. Medorrhinum als Hinweis für einen möglichen sykotischen Charakter dieser Erkrankung.

Die gonorrhoischen Urethritiden:

  1. die Gonorrhea simplex
    dürfte nach unseren jetzigen Kenntnissen eine Gonorrhoe ohne Begleitinfektionen sein;
  2. die Sykosis mit Feigwarzen
    ist eine Gonorrhoe mit dem Feigwarzenvirus, dem Papillomvirus;
  3. die Sykosis ohne Feigwarzen
    ist möglicherweise eine Gonorrhoe kombiniert mit weiteren Erregern, z.B. mit Herpesviren, Chlamydien, Trichomonaden, Mycoplasmen oder anderen.

Belege davon liefert uns die Epidemiologie und die Klinik:

  1. betreffend Chlamydien.

Die Chlamydie ist ein sehr interessantes Lebewesen, das zwischen Bakterium und Virus steht: Es ist ein obligat intrazelluläres, gramnegatives Bakterium. Beim Mann sind die häufigsten klinischen Manifestationen:

  • Urethritis,
  • Epidydimitis,
  • Prostatitis.

Ca. 10% der Chlamydieninfektionen verlaufen asymptomatisch und chronisch.

Interessanter wird die Sache, wenn man folgendes hört: In der Schweiz ist Chlamydia trachomatis der häufigste Erreger venerischer Infektionen. Bei einem männlichen, praxisbezogenen Kollektiv kann Chlamydia trachomatis in etwa 15% der Fälle diagnostiziert werden. Ungefähr 25% der Patienten mit Gonorroe haben eine Doppelinfektion mit Chlamydia trachomatis. Ohne frühzeitige Diagnose und adäquater Therapie entwickeln die meisten dieser Patienten

  • eine postgonorrhoische Urethritis.

Bei den asymptomatischen Fällen besteht die Gefahr, daß die Partnerin infiziert wird, was unter anderem:

  • eine Zervizitis,
  • eine Adnexitis und
  • eine konsekutive Sterilität zur Folge haben kann.

Siehe da, das sind ja genau die Sykosis II-Symptome! Je mehr die Forschung voranschreitet, umso deutlicher werden die Beobachtungen Hahnemanns bestätigt. Wehe denen, die sagen, die Psora sei nur ein Hirngespinst Hahnemanns gewesen, es sei nur etwas Symbolisches für etwas anderes! Hahnemann war da sehr nüchtern und ein unübertroffener Beobachter.

  1. betreffend Papillomviren, Mykoplasmen, Trichomonaden:

Man kennt ca. 60 Typen von Papillomviren, wovon ca. 15 Typen starke Risikofaktoren für das Zervixkarzinom darstellen. Die anderen Erreger, die für die unspezifischen Urethritiden verantwortlich sind, sind Mykoplasmen, Trichomonas, Chlamydien, Herpes- und Papillomviren. Sie haben folgende Eigenschaften:

  • Man findet sie oft bei Personen mit häufigem Partnerwechsel.
  • Sie können symptomlos bleiben, aber dem Partner übertragen werden.
  • Sie sind durch die üblichen Antibiotika nicht zu töten.
  • Sie entwickeln Symptome einer Sykosis II und III.
  • Die Unterdrückung einer Chlamydien- oder Mycoplasma-Urethritis kann einen Morbus Reiter auslösen, also eine typische Sykosis II bzw. III. Bei der Entstehung des Morbus Reiter diskutiert man übrigens eine virale Genese.
  1. Interessant ist die Symptomatologie des Morbus Reiter:
    • Urethritis (vorwiegend Männer),
    • Konjunktivitis,
    • Arthritis ( ein oder mehrere Gelenke),
    • psoriasiforme, stark an Psoriasis pustulosa erinnernde Hautveränderungen, häufig symmetrisch an den Handtellern und Fußsohlen,
    • charakterisitische Balanitis circinata,
    • Enteritis mit Diarrhoen,
    • auch oligosymtomatische Formen kommen vor.

All dies sind typische Symptome einer Sykosis II und III. Die Therapie der Schulmedizin: Methotrexat, evtl zusammen mit Breitbandantibiotikum und Cortison. Man sieht, wie die Schulmedizin hier ihre stärksten Waffen einsetzt.

Hahnemann teil die Urethritiden ein in:

  1. die gonorrhoische Urethritis,
  2. die sykotische Urethritis und
  3. die „gemeinen übrigen Tripper“

Die ersten beiden Formen werden mit Homöosykotika*, die letzteren mit Mitteln wie Petroselinum etc. behandelt.

Die Einteilung der Schulmedizin lautet dagegen:

  1. die „spezifischen“, d.h. vor allem die gonorrhoischen Urethritiden,
  2. die „unspezifiischen Urethritiden“.

Diese Unterschiede in der Klassifizierung haben folgende praktischen Konsequenzen: Die schulmedizinische Gruppe der „unspezifischen Urethritiden“ enthält zwar auch die „gemeinen übrigen Tripper“ Hahnemanns, für welche seine o.g. Therapieempfehlungen gültig sind. Diese Gruppe wird jedoch dominiert durch die sykotischen Urethritiden, welche durch Erreger wie Chlamydien, Trichomonaden, Mykoplasmen und Herpesviren hervorgerufen werden. Ihnen kommt man nur durch eine homöosykotische Behandlung bei. Wenn also z.B. eine Patientin bzw. ein Patient eine Trichomonaden- oder Chlamydienvulvitis oder -urethritis hat, verschreibe ich von vornherein das angezeigte chronische Mittel und mit prächtigem Erfolg, quasi als Beweis, daß wir es bei diesen Erkrankungen mit tiefgreifenden Erregern zu tun haben, welche die gesamte Gesundheit des Menschen in Mitleidenschaft ziehen. Ebenso gebe ich beim Herpes genitalis sofort und immer das tiefwirkende Antisykotikum – unabhängig davon, ob es sich um ein akutes oder hochakutes Stadium handelt oder um einen chronischen Verlauf. Dies ist eine sehr wesentliche Erkenntnis für die Klinik aus der Kenntnis der modernen Bakteriologie und Virologie.

Ebensowenig darf man die postgonorrhoische, die sog. „Quetsch-Urethritis“, so verharmlosen wie es die Schulmedizin tut, indem sie dem Patienten die Schuld gibt, als ob diese Urethritis dadurch entstünde, daß er am Penis herumdrücke. Dort findet sich das sog. „gleet“, ein chronischer durchsichtiger Ausfluß nach einer Gonorrhoe, der beweist, daß es sich keinesfalls um eine „neurotische Angelegenheit“ handelt, sondern um eine Sykosis II bzw. III.

Hinzukommt unsere Kenntnis, daß die Unterdrückung dieser Manifestationen einer Sykosis II und III für die Gesundheit des Individuums schwerwiegende Folgen haben kann. Man stelle sich die klinische Relevanz der Miasmenlehre Hahnemanns vor, wenn man bedenkt, daß fast alle diese Krankheitszeichen, diese Lokalaffekte, in der Schulmedizin durch äußerliche Maßnahmen behandelt werden! Im Werk von John Henry Allen [34] ist dargestellt, wie die Unterdrückung von Fluor z.B. durch Kürettagen und wie die Unterdrückung von sykotischen Stigmata auf der Haut genauso deletäre Folgen hat wie die Unterdrückung der Hautausschläge bei der Psora. Allen bringt wunderbare Beispiele aus seiner klinischen Erfahrung. Man muß wissen, daß zur seiner Zeit 80% der Männer in Chicago eine Gonorroe durchgemacht hatten.

Die Symptome der Sykosis sind ferner außerordentlich wichtig, weil man manchmal durch die Kenntnis dieser Symptome reine Antisykotica wie Medorrhinum oder Thuja entdecken kann. Dr. Künzli tröstete uns allerdings immer wieder, indem er sagte: „Das Similegesetz steht immer zuoberst bei der Arzneimittelwahl. Und dann sind die meisten Polychreste trimiasmatisch, d.h. sie decken Psora, Sykosis und Syphilis.“ Man muß sich immer wieder Paragraph 7 „Organon“ [35] ins Gedächtnis rufen:

„… so müssen, unter Mithinsicht auf etwaniges Miasm (…) – so muß mit einem Worte die Gesamtheit der Symptome für den Heilkünstler das Hauptsächlichste, ja Einzige sein, was er an jedem Krankheitsfalle zu erkennen und durch seine Kunst hinwegzunehmen hat, damit die Krankheit geheilt und in Gesundheit verwandelt werde.“

Die Einschränkung „unter Mithinsicht auf etwaniges Miasm“ bedeutet: Bei der Wahl des homöopathischen Heilmittels ist im allgemeinen die Gesamtheit der Symptome entscheidend. Es gibt aber Einzelfälle, in denen nicht die Gesamtheit der Symptome allein, sondern das zugrundeliegende Miasma das Entscheidende ist. Wenn man also nur aufgrund des Similegesetzes therapiert und diese Zusammenhänge nicht erkennt, wird man seinen eigenen Patienten nicht gerecht, speziell den schwerkranken. Denn gerade bei deren Behandlung kann die Theorie der chronischen Krankheiten Hahnemanns eine große Rolle spielen.

Klinische Beobachtungen aus meiner Praxis, wo die Kenntnis der Miasmenlehre sehr wichtig war:

  1. Ein 40-jähriger Mann mit chronischen Sinusitiden erhält Hepar sulfuris XM. Nach der zweiten Dosis Hepar sulfuris XM kommt ein dicker Ausfluß aus der Urethra, und er befürchtet, sich mit Gonorrhoe infiziert zu haben. Ich schicke ihn zum Hautarzt, welcher sterilen Eiter feststellt. Ich frage, ob er früher eine Gonorrhoe gehabt habe. „Ja, vor zehn Jahren.“ Interpretation des Ausflußes: eine retrograde Metamorphose mit Rückkehr des Ausflußes als altes Symptom und anschließender Heilung der Krankheit.
  2. Ein Kind mit chronischen Durchfällen seit der Geburt wird zur Behandlung gebracht. Dank Kenntnis der Tatsache, daß dahinter eine Sykosis stecken kann, frage ich die Eltern, ob jemand eine Gonorrhoe gehabt hat. Der Vater berichtet, zwei Jahre vor der Heirat eine Gonorrhoe durchgemacht zu haben. Medorrhinum bringt innerhalb kurzer Zeit die Durchfälle zum Stillstand, und das Kind blüht auf.
  3. Ich behandle ein Mädchen längere Zeit ohne großen Erfolg. Es entwickelt sich eine filiforme Warze am Augenlid und ein roter Naevus am Rücken. Dank der Kenntnis, daß diese Dinge sykotische Zeichen sind, frage ich, ob es eine Gonorhoe in der Familie gab. Ja, der Vater hatte eine Gonorrhoe gehabt. Thuja war das verschriebene Mittel; die filiforme Warze ist dabei zu vergehen.
  4. Eine junge Frau geht zur Gynäkölogin wegen Fluor vaginalis und erhält Ovula, wodurch der Fluor sistiert. Einige Wochen darauf bekommt sie generalisierte Ödeme. Eingehende Untersuchungen ergeben die Diagnose Lupus erythematodes disseminatus mit Nierenbefall. Die langjährige Leukorrhoe hatte sie zuvor vor dieser Sykosis III-Manifestation geschützt. Aufgrund der Verabreichung des Simillimums und der Lehren Hahnemanns erwarte ich die Rückkehr eines langandauernden Fluors.
  5. Ein junger Bub wurde ins Spital eingewiesen wegen Ringelröteln, einer viralen Erkrankung.

Dort wird er gegen den Juckreiz mit Antihistaminica und mit Cortison behandelt. Vier Wochen später kehrt der Junge zurück ins Krankenhaus im Coma diabeticum. Beides, Ringelröteln und Diabetes, sind Manifestationen der gleichen chronischen Erkrankung, bei beiden kann es sich um eine Sykose handeln. Nachdem man die Hautaffektion unterdrückt hatte, hat die Krankheit das endokrine Pankreas affiziert.

Mit diesen Darlegungen habe ich versucht, die Kenntnisse zu erweitern, die uns ermöglichen, die Manifestationen der Sykosis in der Praxis besser zu erkennen und damit unser therapeutisches Vorgehen zu erleichtern. Mit der Theorie der chronischen Krankheiten Hahnemanns findet man den Anschluß an die moderne Bakteriologie und Virologie. Daß es heute in der Welt so viele verschiedene Definitionen und Interpretationen der Miasmentheorie gibt, mag seine Berechtigung haben. Aber es sind eben Interpretationen, die oft nichts zu tun haben mit dem, was Hahnemann im ersten Band der „Chronischen Krankheiten“ schreibt und was man tagtäglich im klinischen Alltag beobachtet.

Man kann also sagen, daß die moderne Form der Behandlung chronischer Erkrankungen ihre Grundlagen im „Organon VI“ und im ersten Band der „Chronischen Krankheiten“ Hahnemanns hat. Die Weiterentwicklung der Homöopathie wurde durch Kent wie durch keinen zweiten gefördert mit einer klaren Theorie, welche ihren Ursprung in einer unglaublichen Praxistätigkeit hat. Wenn man sich intensiv mit der Arbeit Kents beschäftigt, kann man nicht anders als diesen Mann lieben, wie man auch Hahnemann liebt. Pierre Schmidt, Künzli und viele andere Meister haben dieses reine Wissen übernommen und während vieler Jahrzehnte in die Praxis umgesetzt (Pierre Schmidt 50 Jahre, Künzli 40 Jahre). Viele Kollegen, welche ich die Ehre hatte auszubilden, sagten mir immer wieder, daß seit Anwendung dieser Art Homöopathie in ihrer Praxis eine Wende eingetreten sei und daß die Fälle seitdem viel ruhiger und sicherer liefen.

Nur ein Mittel oder mehrere Mittel im Laufe des Lebens?

Während des Ligakongreßes 1988 in Athen gab Dr. Künzli auch Anleitungen [32] über die Führung der Kur über viele Jahre hinweg. Er beantwortete z.B. die Frage: Kommt nur ein Mittel oder kommen mehrere Mittel im Laufe des Lebens infrage?

  • „Ein Mittel fürs ganze Leben, ich glaube, das ist eher der Ausnahmefall. Das ist eine relativ gesunde Konstitution: Bei irgendwelchen Problemen hilft immer dasselbe Mittel das ganze Leben hindurch. Das kommt vor, es ist wunderschön, aber es ist nicht immer der Fall. Es ist wie gesagt ein Ausnahmefall.
  • Eine zweite Möglichkeit: Es gibt ein Grundmittel – es ist z.B. jemand Sulfur. Nun kommt es aber vor, daß er im Laufe des Lebens Komplementärmittel benötigt. Das Grundmittel, in diesem Fall Sulfur, bleibt: Es braucht immer wieder eine Dosis dieses Mittels, bis der Patient ganz gesund ist. Aber es kommt einmal eine akute Infektion, eine Grippe, dann kann ein Komplementärmittel an die Reihe kommen – man kann auch sagen: ein Satellit zum Grundmittel. Das ist ein schönes Bild. Solche Satelliten sind bei Sulfur z.B. Pulsatilla oder Nux vomica. Bei Lycopodium haben wir z.B. Nux vomica oder Chelidonium usw. Bei Sepia kann einmal Ignatia oder Nux vomica oder Gelsemium der Satellit sein. Dies wäre also die zweite Möglichkeit.
    Wenn man genau beobachtet, sind die Komplementärmittel sehr oft zugleich Antidote des Grundmittels. Es kann ja sein, daß man lange Sulfur gegeben hat mit sehr gutem Effekt, dann kommt einmal eine Pulsatilla-Symptomatologie heraus. Es kann sein, daß man etwas zuviel des Sulfurs gegeben hat und jetzt Pulsatilla herauskommt, das nun an der Reihe ist, um das Zuviel an Wirkung zu antidotieren. Dies wäre noch zu den komplementären Mitteln zu sagen.
  • Eine nächste Möglichkeit ist die, daß man eine große Anamnese macht und ein Grundmittel, z.B. ein Homöopsorikum, verabreicht. Dieses Mittel hilft für eine bestimmte Zeit, aber auf einmal kommen viele sykotische Symptome heraus. Nun kommt eben ein Homöosykotikum an die Reihe. Dies ist die dritte Möglichkeit, der sog. „Diathesenwechsel“.
  • Eine vierte Möglichkeit ist, daß in der Jugend irgendein Mittel gegeben wird und man dann viele Jahre gesund bleibt. Im Alter kommt später ein ganz anderes Mittel heraus. Z.B. hat Boenninghausen als junger Mann eine TBC gehabt, die mit Pulsatilla geheilt wurde, mit Pulsatilla allein. Dann war er viele Jahre gesund und leistungsfähig, bis er im Alter einen Ileus bekommen hat. Befreundete Ärzte gaben ihm dieses und jenes, aber nichts nützte, bis er selber Thuja als Mittel fand, das sofort heilte. Also ein Mittel in der Jugend und dann im Alter irgendein anderes.
  • Eine fünfte Beobachtung ist folgende: Man bekommt einen chronischen Patienten, er sei z.B. noch jung. Sie nehmen die Gesamtheit der Symptome auf, aber können vielleicht nicht so deutlich sagen, was das Simillimum ist. Sie geben das Mittel: Ein gewisser Teileffekt ist zu erzielen, aber durchschlagend ist die Wirkung nicht. Dann geben Sie ein zweites und ein drittes Mittel, und jedes Mittel hat einen gewissen Erfolg. Am Schluß ist man soweit, daß man sagen kann: Der Patient ist gesund. Das nennt man nun eine ‚Zickzackkur‘. Ein guter und erfahrener Homöopath macht es schon beim ersten Schlag, vielleicht braucht es auch noch einen zweiten. Aber je mehr Mittel man benötigt, umso schlechter ist es. Mit Zickzackkuren kann man auch zum Resultat kommen, aber nur wenn man vorsichtig dosiert, so wie es Hahnemann und Kent empfohlen haben: Einzelschüsse – abwarten – beobachten, daß man ja keinen Schaden setzt! Unter diese Beobachtung fallen die meisten der sogenannten ‚Zwiebelschalentheorien‘.

Noch zu den Serien von Mitteln. Es gibt bekannte Serien, wie z.B. Lycopodium – Sulfur – Calcarea oder Natrium muriaticum – Sepia – Sulfur usw. Nach meiner Erfahrung kommt solch eine Serie relativ selten vor. Halten Sie sich immer sehr an die Symptome! Solche Serien darf man ohnedies nie schematisch geben. Bei Sulfur muß man warten, bis Calcarea herauskommt: Es muß deutlich herauskommen, erst dann darf man es verabreichen. Auch bei Calcarea: Dies geht lange, lange Jahre, dann kommt vielleicht einmal Lycopodium an die Reihe. Nach meiner Erfahrung eigentlich selten. An dieser Stelle ist Kent auch wieder viele Schritte vorwärts gegangen gegenüber den alten Homöopathen.“

Das zusammenfassende Studium vieler Krankengeschichten von Dr. Künzli zeigt, daß er

  • die ersten 10-15 Jahre seiner Praxis die Q-Potenzen öfters angewendet hat als später. In den letzten zwanzig Jahren hat er vorwiegend C-Potenzen nach der Kentschen Skala verordnet, die Q-Potenzen dagegen nur in ganz speziellen Fällen – siehe seinen letzten Aufsatz über die Q-Potenzen [36].
  • Daß er ein Einzelmittel über lange Zeiträume gab, über Jahre hinweg dasselbe Mittel, irgendwann kam dann ein anderes Mittel zum Zug. Er hat aber nicht wenige Kasuistiken von 1947 bis 1992, bis zu seinem Tode, mit nur einem einzigen Mittel, also während 45 Jahren nur ein Mittel.
  • Er hat sich immer die Mindestdauer der verschiedenen Potenzen eingehalten, d.h. bei der C 30, 200, M und XM eine Mindestwirkungsdauer von 35 Tagen, bei der CM von drei Monaten und bei der MM ein volles Jahr. Allerdings hat er die MM nur selten verschrieben.
  • In seinen Krankengeschichten hat sich Künzli immer genau an die Regeln von Hahnemann und Kent gehalten.

Es ist eine wichtige Tatsache, daß während meiner zwanzigjährigen Tätigkeit nur ganz wenige Fälle von Krebs aufgetreten sind bei den Patienten, die langjährig nach der Kentschen Methode behandelt wurden. Um zu prüfen, ob bei der Behandlung des manifesten Karzinoms diesselben homöopa-thischen Gesetzmäßigkeiten gelten und welches die heutzutage praktikable Art ist, die Krebs-erkrankung homöopathisch zu behandeln, habe ich mich 1997 entschlossen, zusammen mit mehreren Kollegen eine Abteilung mit einigen Betten in einer Klinik zu übernehmen, die rein homöopathisch geleitet wird. In der Klinik sind wir nun außerordentlich dankbar für die
Q-Potenzen, bei welchen man in kurzer Zeit Reaktionen sehen kann.

Ich weiß, daß ich hiermit den Weg nur skizzenhaft andeuten konnte, den die junge Generation homöopathischer Ärzte gehen kann, um in der Behandlung chronischer Erkrankungen Erfolg zu erzielen. Man sollte nicht vergessen, daß die jetzige Zeit für die Homöopathie relativ günstig ist. Es liegt in unserer Hand, das Vertrauen nicht zu enttäuschen, das zuerst die Kranken, dann aber auch die allopathischen Kollegen und die Behörden in diese wunderbare Medizin setzen.

Literatur

  1. James Tylor Kent: Zur Theorie der Homöopathie – J.T. Kents Vorlesungen über Hahnemanns Organon, übersetzt von Jost Künzli von Fimmelsberg, 4. Auflage, Heidelberg 1996
  2. James Tylor Kent: Repertorium. Neu übersetzt von Georg von Keller und Jost Künzli von Fimelsberg. 3. Auflage, Heidelberg 1979
  3. Samuel Hahnemann: Organon der Heilkunst. Textkritische Ausgabe der 6. Auflage, hrsg. von Josef M. Schmidt, Heidelberg 1992
  4. Vortrag vor dem Schweizerischen Verein homöopathischer Ärzte, Bern, am 22.11.1990. Überarbeitete Abschrift eines Tonbandmitschnittes
  5. Alain Naudé, Interview with Dr. Jost Künzli from St.Gall, Switzerland, during his brief visit to San Francisco to attend the International Homeopathic Congress. Homoeotherapy. San Francisco, San Diego, Ecinatas, Dallas. 1 (1974), issue 1, page 3-7
  6. James Tylor Kent: La science et l´art de l´homoeopathie. Traduction par le Dr. Pierre Schmidt. 2e Edition, Paris 1969
  7. Jost Künzli von Fimmelsberg: Wie Pierre Schmidt die Homöopathie lehrte. KH 31 (1987), 252-256
  8. Aus dem Nachlaß von Dr. Künzli von Fimmelsberg
  9. Horst Barthel, Will Klunker: Synthetisches Repertorium. Band I-III. 2. Auflage, Heidelberg 1982
  10. Jost Künzli von Fimmelsberg: Kent´s Repertorium Generale. English edition.
    Berg am Starnberger See, 1987
  11. Kommentar von Pierre Schmidt in [1], Seite 182 f.
  12. Jost Künzli von Fimmelsberg: Kent´s Minor Writings on Homoeopathy, hrsg. von K.-H. Gypser. KH 32 (1988), 37-38.
  13. Jost Künzli von Fimmelsberg: Zur hierarchischen Stellung der Geistes- und Gemütssymptome. KH 33 (1989), 160-162
  14. Klaus-Henning Gypser (editor): Kent`s Minor Writings on Homoeopathy. Heidelberg, 1987
  15. Jost Künzli von Fimmelsberg: Züricher Homöopathie-Vorlesung. Überarbeitete Abschrift eines Tonbandmitschnitts.
  16. Rajan Sankaran: The Spirit of Homoeopathy. Bombay/ India, 1991
  17. Jost Künzli von Fimmelsberg: Vorwort zu: Rajan Sankaran [16], S. …
  18. Dario Spinedi: Vorwort zu: James Tylor Kent: Zur Theorie der Homöopathie. [1], S. XXXI
  19. James Tylor Kent: The Trend of Thought Necessary for the Comprehension and Retention of Homoeopathy. Transactions of the Society of Homoeopathicians 1 (1911) 31-33 oder Seite 17-23 ? Auch in [14[, Seite 598-605
  20. E. Galen: Swedenborg und Kent. Über den Einfluß von Emanuel Swedenborg auf die homöopathische Philosophie des James Tylor Kent.
    KH 39 (1995), 23-
  21. James Tylor Kent: The View for Successful Prescribing. Homoeopathician 1 (1912),
    140-143. Auch in [14], Seite 642-647
  22. Samuel Hahnemann: die Chronischen Krankheiten, ihre eigenthümliche Natur und homöopathische Heilung. Band I. Unveränderter Nachdruck der 2. Auflage 1835.
    Vorwort von Jost Künzli von Fimmelsberg, Berg am Starnberger See, 1983. Seite 158-159
  23. Pierre Schmidt in: Samuel Hahnemann: Les maladies chroniques. Troisième edition française par Dr. Pierre Schmidt et Dr. Jost Künzli. Sainte Ruffine, 1969. Seite 221
  24. siehe [22]
  25. Dario Spinedi: Die Entwicklung der homöopathischen Praxis seit Hahnemann.
    In: Rainer G. Appell (Hrsg.): Homöopathie 150 Jahre nach Hahnemann. Heidelberg, 1994. Seite 126-161
  26. Hanspeter Seiler: Die Entwicklung von Samuel Hahnemanns ärztlicher Praxis. Heidelberg, 1988, Seite 119
  27. Jost Künzli von Fimmelsberg in: Wayne B. Jonas: Notes Taken by a Novice While Studying with a Master Homoepathic Physician. Homeotherapy, Journal of Classical Homoepathy, San Diego/ California, 7 (1981, 6), 161-169
  28. Jost Künzli von Fimmelsberg: Chronische Krankheiten auf psorischer Basis.
    KH 3 (1959), 207-232
  29. Samuel Hahnemann in [22], Seite 58.
  30. Clemens von Bönninghausen: Kleine medizinische Schriften. Hrsg: Klaus-Henning Gypser. Heidelberg, 1984
  31. Jost Künzli von Fimmelsberg: Die Sykosis (Vortrag gehalten am Krankenhaus für Naturheilweisen in München-Harlaching am 29.1.82) DJH 1 (1982) 60-65; 146-153;
    258-264
  32. M. Staeudinger: Dr.Künzlis Diskussionsbeiträge in Athen (Ligatagung 1988).
    DJH 7 (1988), 132-134
  33. Jost Künzli von Fimmelsberg: Ichtyosis congenita – Patientin Margit P. DJH 9 (1990),
    23-25
  34. John Henry Allen: The Chronic Miasm – Psora and Pseudo-Psora. Volume I, Second Indian Edition, Bombay (India) 1960
  35. Paragraph 7, in [3]
  36. Jost Künzli von Fimmelsberg: Die Q-Potenzen-Story. Vortrag vor der Jahreshauptversammlung des Vereins homöopathischer Ärzte Nordrhein-Westfalen e.V., Bochum, 1990.

Copyright Karl. F. Haug Verlag Stuttgart, mit freundlicher Genehmigung
https://www.thieme.de/de#66B646

Glossar:

Homöopsorica, Homöosykotika, Homöosyphilitica
= homöopathische Medikamente, welche die Kraft haben, eine Psora bzw. Sykosis bzw. Syphilis zu heilen

Pharmakopollaxie
= Arzneimittelherstellung, -zubereitung