Originalarbeiten Dr. Künzlis

Was ist unter Hahnemann’s „Psora“ zu verstehen? (AHZ1954/8)

J. Künzli von Fimelsberg

„Und sie bewegt sich doch“
GALILEI

In letzter Zeit sind, so scheint mir, einige sehr wichtige Beiträge zum Psoraproblem geliefert worden, so daß sich die erneute Aufrollung besagten Problems im Lichte moderner Forschungen wohl rechtfertigt.

HAHNEMANN unterscheidet, wie wir Heutigen,

  1. Akute und
  2. Chronische Krankheiten.

Nicht zu den Krankheiten gehören die Unpäßlichkeiten (§ 150) [1], d. h. seit kurzem bemerkte einzelne wenige Beschwerden, denen mit einer kleinen Diät- und Lebensordnungs-Änderung leicht beizukommen ist. Damit von einer akuten Krankheit gesprochen werden kann, muß im allgemeinen mehr weniger Fieber – sei es vorubergehend oder länger andauernd – festgestellt worden sein. Diese akuten Krankheiten unterteilt HAHNEMANN in solche, die nur einen Menschen einzeln befallen (I), da nur gerade er sich der krankmachenden schädlichen Einwirkung aussetzte, und andere, die mehrere Personen auf einmal befallen (II), die heutigen sog. akuten Infektionskrankheiten.

Beispiele für I haben wir in akuter Erkrankung z. B. nach Überessen, zu reichlichem Genuß von etwas Schwerverdaulichem oder von Alkohol, Tabak usw., Erkältung durch längeres Frieren im Schnee, Überhitzung, .bermüdung, traumatischen Einwirkungen, wie z. B. Verrenken, Verstauchen, ferner nach heftigem Zorn oder Schreck oder anderen psychischen Erregungen. Hier aber taucht schon die Psora auf: Dem wirklich gesunden Menschen schadet auch etwas Frieren im Schnee nichts, nur der „psorische“ wird nach- .her krank, hat nachher einen Schnupfen, eine Pleuritis, eine Pneumonie. Der wirklich Gesunde mag ohne Folgen auch einmal eine reichlichere Mahlzeit ertragen, nur der „Psorische“ bekommt nachher eine Gallensteinkolik, eine Diarrhöe oder andere Beschwerden. Der wirklich Gesunde erleidet an traumatischen Einwirkungen ganz Gehöriges, ohne dadurch krank zu werden, d. h. Fieber zu bekommen, Eiterungen auftreten zu sehen usw. Ein Schreck beim wirklich Gesunden verblaßt, ohne Amenorrhoe oder wochenlange Verstopfung auszulösen, ein Zorn verraucht ohne apoplektischen Insult, ohne Haemoptoe usw. usw.. Beim Psora-Kranken wird durch solche Einwirkungen das Gleichgewicht Erreger (Miasma)-Wirtsorganismus gestört zu Ungunsten des letzteren – ersterer kommt zum Zuge und „macht krank“. Wer widerspricht heute diesen Gedankengängen HAHNEMANNS? Wohl niemand mehr. Zu seiner Zeit waren das freilich noch völlig unbegreifliche Sachen.

Die Gruppe II, unsere heutigen akuten Infektionskrankheiten – die sporadisch, endemisch, epidemisch, pandemisch auftreten können – unterteilt HAHNEMANN in solche, die immer ihren gleichen Charakter wahren, in jeder neuen Epidemie z. B. immer wieder das gleiche feststehende Bild zeigen (a), das leicht erkennbar ist, und solche, die fast bei jedem Auftreten wieder ein anderes Gesicht aufweisen (b). Bei a haben wir die klassischen Krankheitsbilder unserer typischen Infektionskrankheiten Masern, Scharlach, Keuchhusten, Mumps, Pocken usw. – die den Menschen nur einmal befallen und danach dauernde Immunität hinterlassen (a), und der Cholera, des Gelben Fiebers, der Pest usw., die den Menschen mehrmals befallen können – sofern er eine erste Attacke übersteht (/?). Die Klasse b der nichtfeststehenden akuten Infektionskrankheiten umfaßt unsere sporadischen und epidemischen febrilen Atemweg-Affektionen (febriler „Katarrh“, „Grippe“, „Influenza“ usw.), sporadischen und epidemischen febrilen Darmaffektionen und Leber-Darm-Affektionen (Darm“grippe“, „Durchfälle“ usw.), Mund-Affektionen (z. B. ulcero-aphthöse Stomatitiden), Anginen usw. Nie treten sie gleich auf – diesen Winter haben wir das, den nächsten wieder etwas ganz anderes. Das Bild ist proteusartig. Ist HAHNEMANNS Einteilung im Lichte der modernen Epidemiologie so schlecht?

  1. Akute Krankheiten
    1. Nichtinfektiöse, den Einzelmenschen befallende Krankheiten
    2. Akute Infektionskrankheiten
      1. Feststehende, leicht und schnell zu erkennende
      2. Lebenslängliche Immunität hinterlassende
      3. Nur vorübergehende Immunität hinterlassende
      4. Proteusartige, schwerer zu erkennende
  2. Chronische Krankheiten
    1. Chronische Vergiftungen und Erkrankungen infolge anhaltender ungesunder Lebensweise
    2. Chronische Infektionskrankheiten (da chronische Infektionserreger deren Ursache)
      1. Psora
      2. Syphilis
      3. Sykosis

Bei den chronischen Krankheiten können wir die chronischen Infektionskrankheiten (II) von den chronischen Vergiftungen und Erkrankungen infolge andauernder ungesunder Lebensweise (I) unterscheiden.

Die chronischen Vergiftungen sind im allgemeinen ja nicht allzu häufig, kommen aber immerhin doch vor. Viele Fälle stammen aus der Industrie – das Gebiet der
Berufskrankheiten. Andere entstehen z. B. durch den andauernden Gebrauch heroischer Arzneien – auch diese Klasse ist nicht etwa ausgestorben.

Die Hauptzahl der chronischen Krankheiten aber glaubt HAHNEMANN bedingt durch die chronischen Infektionserreger, allen voran das Psoramiasma. Über dies letztere wurde schon viel gerätselt. Im Überblick wurde die Psora, d. h. also diese chronische Infektionskrankheit und Ursache von allerverschiedensten chronischen Krankheiten, wie „Nerven-Schwäche, Hysterie, Hypochondrie, Manie, Melancholie, Blödsinn, Raserei, Fallsucht und Krämpfen aller Art, von Knochen-Erweichung (Rachitis), Skrophel, Skoliosis und Kyphosis, Knochenfäule, Krebs, Blutschwamm, Afterorganisationen, Gicht, Hämorrhoiden, Gelb- und Blausucht, Wassersucht, Amenorrhoe und Blutsturz aus Magen, Nase, Lungen, aus der Harnblase oder der Gebärmutter, von Asthma und Lungenerweiterung, von Impotenz und Unfruchtbarkeit, von Migräne, Taubheit, grauem und schwarzem Star, Nierenstein, Lähmungen, Sinnen-Mängeln und Schmerzen tausenderlei Art usw.“ (§ 80), etwa schon angeschaut als:

  1. „Krätze“ und deren Unterdrückungsfolgen. Die einen bezogen dies in engerem Sinne einfach auf unsere Scabies; das „Miasma“ sei die Krätzmilbe (Acarus scabiei).
    Andere verteidigten die Ansicht, es handle sich schon auch um die eigentliche Scabies, aber inklusive aller scabiesähnlichen Erkrankungen. Sie stützen sich auf die Tatsache, daß zu HAHNEMANNS Zeiten der Ausdruck „Krätze“ nicht nur für die echte Scabies verwendet wurde, sondern daß man von „scrofulöser“, „gichtischer“, „syphilitischer“ usw. Krätze (RUMMEL [2]), TISCHNER [3]) sprach.
    Zur ersten Ansicht ist zu sagen, daß ja wohl die echte Krätze (Scabies) zu HAHNEMANNS Zeiten sehr verbreitet war, so wie sie es heute noch z. B. in Paris ist. Aber die Anhänger dieser Hypothese übersehen ganz, daß HAHNEMANN die Krätzmilbe schon kannte und als pathogenen Faktor auch anerkannte, lange bevor dies schulmedizinische Autoritäten der damaligen Zeit taten (FRITSCHE [4]). Wie kann er sie im Organon also plötzlich „Miasma“ nennen? Er würde doch „Milbe“ sagen. Dann paßt der für Psora angegebene Infektionsmodus doch auch gar nicht für die Krätze (§ 80): Infektion zuerst des ganzen Organismus, dann erscheint als erstes sichtbares Zeichen der vollendeten Infektion ein typischer mehr oder weniger ausgedehnter Ausschlag. Höchstens dieser Ausschlag läßt an Scabies denken – hierher rührt wohl diese falsche Deutung!
  2. C. W. WOLF [20]) vertritt die Ansicht, freilich hätten echte Krätze und Psora miteinander zu tun, aber nur in dem Sinne, daß die Krätze von einst zu unserer Psora geworden sei. Wie schon gesagt, war die echte Scabies zu Zeiten HAHNEMANNS und früher sehr verbreitet. WOLF glaubt nun, daß die jahrhundertelange Infektion der Menschheit durch Krätze schließlich zu bleibenden konstitutionellen Veränderungen beim Krätzeinfizierten, aber auch bei seiner nie einer Krätzeinfektion unterliegenden Nachkommenschaft Anlaß gegeben habe. Diese machten unsere Psora aus. Warum nicht? Auch ein Fall von Syphilis in der Familie kann ja z. B. von Iridologen noch in einigen nachfolgenden Generationen aus gewissen Iris-Zeichen nachgewiesen werden. Also kennen wir solch konstitutionelle Wirkungen schwerer Infektionen.
  3. Andere sagen, die Psora sei auf keinen Fall identisch mit der echten Krätze (Scabies), sondern nur ihr vergleichbar. Da HAHNEMANN ZU seiner Zeit überall auf Mißverständnis stieß, zog er die Krätze als Vergleichsobjekt heran, weil diese doch allgemein bekannt war. An Hand der Krätze wollte er seinen Kollegen die Psora erklären (FRITSCHE, ebenda).
  4. Wieder andere meinten und meinen noch heute, Psora könne man die Folgen unterdrückter, von der Haut weggetriebener Ausschläge nennen. Sie vergessen aber, daß der Ausschlag selbst ganz eindeutig schon ein Produkt weit fortgeschrittener Psora ist (speziell §§ 80 und 201) – oder von Syphilis oder Sycosis, ich befasse mich in dieser Arbeit speziell bloß mit der Psora.
  5. Ernster Suchende waren schon zu Lebzeiten HAHNEMANNS nicht einverstanden damit, daß „Psora = Krätze“ zu setzen sei. So schrieb RUMMEL [5]) schon, die Krätze sei einfach die weitest verbreitete und ansteckendste Gestalt der Psora. Und HERING [6]) schaute den Aussatz (Lepra) als älteste Gestalt der Psora an. Und auch GROSS [7]) zitiert als Gestalten der Psora: Aussatz, Krätze, Flechten usw. Die Psora ist also ein viel weiterer Begriff als „Krätze“.
    RUMMEL[8], [9] gelangt in seinen Gedankengängen zur Ansicht, daß Psora eine Dyskrasie sei, eine fehlerhafte Säftemischung. Dieselbe erlaubt z. B. dem Krätzeerreger, der Milbe, sich festzusetzen. Wäre die Säftemischung normal, verließe die Milbe die Haut ohne Folgen. RUMMEL betont, daß, was man bisher „scrofulöse“, „lymphatische“, „gichtische“, „herpetische“, „rheumatische Dyskrasie“ nannte, eben die Psora der Homöopathie sei. Auch HUFELAND [10] scheint von dieser Idee eingenommen gewesen zu sein, schreibt doch auch er von „psorischer Dyskrasie“. Dieser humoralmedizinische Standpunkt ist gewiß recht interessant und speziell dem Kenner LuMiEREscher [11] Werke wird er einleuchten. Aber trotzdem glaube ich nicht, daß es HAHNEMANNS Standpunkt war, sagt er doch ausdrücklich, bei der Psora handle es sich um eine chronische Infektionskrankheit.
  6. Liest man z. B. das Organon aufmerksam, ohne Kenntnis zu haben von nachfolgend zitierten allerneuesten Werken, so kann man zu der Ansicht kommen, Psora sei einfach mit „Diathese“ = Neigung zur Ausbildung aller möglichen Krankheiten zu bezeichnen (z. B. TEMPLETON [12].
    Vor der Ansicht, diese Diathese sei eine konstitutionell verankerte Anlage zu allen möglichen Erkrankungen hält einen zwar § 81 zurück, der aussagt, daß die Konstitution des Erkrankten ein die Psora modifizierender Faktor also unbedingt übergeordnet sei. So stehen wir mit dieser „Diathese“ etwas hilflos da – es ist ein Ausdruck, hinter dem viel oder nichts verborgen sein kann.
  7. Auch schon vertreten wurde die Ansicht, Psora sei gleich „Vererbung“ (z. B. TEMPLETON ebenda), oder „Allergie“ (PATERSON [13]). HAHNEMANN aber sagt ausdrücklich, es sei eine Infektionskrankheit, so wie die Syphilis. Da ist kein Zweifel.
  8. Noch andere glauben, Psora gleich „Selbstvergiftung“ (Autointoxikation) setzen zu können, Selbstvergiftung aus Darm-Stase usw. Wieder ist derselbe Einwand wie bei 8 zu machen.
  9. Das zu HAHNEMANNS Zeiten Rätselhafte der Psoratheorie führte sogar zu der Ansicht, es handle sich dabei um die Erbsünde (RINGSEIS [14] U. a.). So schön und tief die vertretenen Ideen sind, sie übersehen doch gewisse ganz reale Gegebenheiten. Schlußendlich freilich wurzelt die Krankheit überhaupt in der Erbsünde. Aber die Zwischenglieder bis zu diesem Urgrund dürfen wir doch nicht vernachlässigen. So bleiben uns nur noch Hypothesen, die sich mit Erregern chronischer Infektionskrankheiten befassen, übrig. Da denkt jedermann natürlich an den
  10. Tuberkelbacillus (französische Homöopathie von heute, FORTIER-BERNOVILLE [15]. Er entspricht unbedingt vielen von HAHNEMANNS Kriterien: Er ist ubiquitär – wenngleich die Durchseuchung vor dem letzten Krieg z. B. in der Schweiz lange nicht mehr den berühmten hohen Prozentsatz von einst einnahm. Er läßt sich gut an der Seite der Spirochaeta pallida denken. Auch zu HAHNEMANNS Zeiten wird er eine sehr große Verbreitung gehabt haben.
    Lesen wir noch BIRCHERS Buch „Die maskierte Tuberkulose“ [16], so sind wir fast schon überzeugt von seiner allumfassenden Wichtigkeit.
    Zweifel an seiner Identität mit dem Psoramiasma könnten auftauchen, wenn wir wiederum in § 80 lesen: er infiziert den ganzen Organismus durch und durch, und dann zeigt sich als erstes äußeres Zeichen seines Vorhandenseins ein mehr oder weniger starker Ausschlag – oft sind es nur einige ganz wenige Effloreszenzen – mit typisch unerträglich kitzelnd wohllüstigem Jucken und spezifischem Geruch. Wir kennen tuberkulöse Erscheinungen der Haut, alle aber sind sehr different von dem hier Beschriebenen – nun, es könnte trotzdem sein, daß der Bacillus KOCH auch obiges erzeugt.
  11. Dann aber finden wir das Psoramiasma als Urgrund von „Nerven-Schwäche, Hysterie, Hypochondrie, Manie, Melancholie, Blödsinn, Raserei, Fallsucht und Krämpfen aller Art, von Knochen-Erweichung (Rachitis), Skrophel, Skoliosis und Kyphosis, Knochenfäule, Krebs, Blutschwamm, Afterorganisationen, Gicht, Hämorrhoiden, Gelb- und Blausucht, Wassersucht, Amenorrhoe und Blutsturz aus Magen, Nase, Lungen, aus der Harnblase oder der Gebärmutter, von Asthma und Lungenvereiterung, von Impotenz und Unfruchtbarkeit, von Migräne, Taubheit, grauem und schwarzem Star, Nierenstein, Lähmungen, Sinnen-Mängeln und Schmerzen tausenderlei Art usw.“ (§ 80). Kann man diese Leiden alle wirklich ohne Zwang und Übertreibung dem Tuberkelbacillus zuschreiben? Doch wohl kaum! Nicht einmal die eifrigsten Verfechter der Tuberkuloseätiologie, wie etwa BIRCHER, gehen so weit. Hierzu treffen die schon erwähnten modernen Forschungen viel einleuchtendere Feststellungen. Und noch ein Gegengrund: Viele neuere Forscher halten die Tuberkulose auch für eine Superinfektion, die nur haftet, weil der Boden schon durch eine Grundinfektion anderer Art vorbereitet sei. Dies tönt für die Ohren des Homöopathie-Anhängers sehr wohl.
    Weiter vergessen wir eines nicht: Neben dem Tuberkelbacillus gibt es doch auch noch andere bedeutende Erreger chronischer Leiden, die zu bestimmten Zeiten und in gewissen Regionen vielleicht eine ebenso große Rolle spielten wie heute der KOCHsche Bacillus bei uns. Ich denke z. B. an den Lepra-Erreger, an die Malaria-Plasmodien, den Erreger der HODGKiNschen Krankheit (malignes Granulom) (NEBEL [17]) usw.
    So kommen wir nun endlich zu den dem Leser lange vorenthaltenen neuesten Ansichten und Forschungen. Sie sind mir aus dem Grunde aufgefallen, weil sie stark an HAHNEMANNS Psora-Theorie anklingen, obwohl wahrscheinlich die beiden fraglichen Autoren von ihr keine oder nur eine blasse Ahnung hatten.
  12. Da ist erstens das Buch K. v. NEERGAARDS „Die Katarrhinfektion als chronische Allgemeinerkrankung“ [18]). NEERGAARD vertritt darin die Ansicht, der ubiquitäre Katarrherreger und Erreger der Hauptzahl von „Grippe“fällen, das Virus KRUSEDOCHEZ, sei nicht nur der Erzeuger aller möglichen Katarrhe, sondern noch einer ganz großen Zahl anderer, und zwar speziell chronischer Krankheiten, vor allem der großen Klasse des „Rheumatismus“, welch letzterer heute in der Volksgesundheit gewiß eine ebenso große, wenn nicht größere Rolle als die Tuberkulose und ihr Bacillus spielt. – In einer Reihe von Kapiteln handelt v. NEERGAARD die verschiedenen Organsysteme unseres Körpers ab, mit den dieselben betreffenden Krankheiten, die möglichst zwanglos dem Virus K.-D. zugeordnet werden können. Auch für die Tuberkulose scheint dieses Virus Schrittmacherdienste zu leisten – es wäre also gerade Bodenbereiter so einer Grundinfektion, wie oben erwähnt.
  13. Und nun kommt ein noch neueres Buch: W. v. BREHMER „Die Siphonospora polymorpha v. Br.“ [19]) als Rapport über des Autors – der schon Jahrzehnte an deutschen Instituten auf dem Gebiet der Viren und Bakterien arbeitet – eigene Forschungen. Es handelt sich bei diesem Erreger um den Krebserreger. Auch er ist ubiquitär, schon beim Kleinkind kann er nachgewiesen werden. Was seine Entdeckung so spät erfolgen ließ, ist einesteils seiner Polymorphie zuzuschreiben – er kann Virusform, Sporenform und Stäbchenform annehmen – und andernteils seiner Biologie: Er verlangt bei der Züchtung eine ganz spezielle Wasserstoffionenkonzentration. Er ist, wie gesagt, im Blute sozusagen jedes Zivilisierten nachzuweisen; die Stäbchenform nur bei Krebsleidenden und Personen im Krebs-Vorstadium. Soll er wohl harmlos sein, wenn er nicht in Stäbchenform, sondern in einer der anderen Formen gefunden wird?
    Doch kaum! Wenn er so allgemein verbreitet ist!

GAEHWILER, ein Mitarbeiter v. BREHMERS, glaubt, das Virus KRUSE-DOCHEZ sei nichts anderes als die Virusform der Siphonospora. Dies würde die Sache sehr vereinfachen. Also wäre dann die Siphonospora der eigentliche Grunderreger, das lang gesuchte „Psoramiasma“? Wir erwarten nun von der Bakteriologie die Feststellung, ob wirklich GAEHWILERS Ansicht stimmt. Wenn sie nicht stimmt, sind wir deswegen noch nicht verlegen. Denn wie steht’s denn mit unserer Sykosis? Immer hört man nur von Psora, dabei ist das Problem der Sykosis noch gar nicht etwa eindeutig gelöst. Der Arzt, der die Sykosis-Symptome kennt, sieht solche äußerst häufig. Daß der Gonococcus bei betreffenden Patienten irgendwo gefunden werden könnte, glaubt wohl kein Mensch. Aber das Sykosismiasma ist da, sagt HAHNEMANN. Was ist das? Eine Virusform des Gonococcus, m. W. unbekannt? Oder sonst irgendein Virus, das in Zusammenhang mit der Gonorrhoe steht? Das Virus KRUSE-DOCHEZ? – denn unzweifelhaft enthält das von NEERGAARD entworfene Bild der Katarrhalischen Toxikose gewisse Sykosezüge.

Was weiter im v. BREHMERschen Buche interessant ist: Gerade bei Geisteskrankheiten, Psychoneurosen, Neurasthenie sind speziell viele Siphonosporasporen im Blut. Bei den häufigen Arthrosen (der Hüfte, der Knie, der Wirbelsäule usw.) hingegen sind auch Stäbchen, wie bei bösartigen Tumoren, neben den Sporen zu finden. – Und § 80 des Organon zitiert merkwürdig ausführlich Nerven- und Geisteskrankheiten: Drei Zeilen neben acht für andere Leiden. „Nerven-Schwache, Hysterie, Hypochondrie, Manie, Melancholie, Blödsinn, Raserei, Fallsucht und Krämpfe aller Art“ figurieren da. Und dann kommen gerade Knochenleiden, und daran anschließend gleich Krebs. Also stehen hier merkwürdigerweise Leiden an der Spitze der Liste, denen auch im Buch v. BREHMERS spezielle Aufmerksamkeit gewidmet ist. Zufall? Immerhin ein merkwürdiger! Vorderhand lehnt nun die „Wissenschaft“ v. BREHMERS Forschungsergebnisse noch ab, und auch v. NEEGAARDS Buch erregte noch keine großen Wellen. Aber das ist man bald beinahe gewöhnt: Sozusagen jeder bedeutende Fund, speziell in der Medizin, wurde zuerst abgelehnt. Hier und dort wird man sich aber gewiß damit befassen.

Für uns Homöopathen sind obige zwei Werke deshalb so interessant, weil sie ganz genau auf HAHNEMANNsche Spuren hinleiten. Hundert Jahre nach ihm kommen endlich Ideen zum Vorschein, die er schon hegte und an die er glaubte. Gewiß wird die Zukunft hier noch sehr wertvolle Erklärungen bringen. Jetzt muß ich noch überall Fragezeichen machen, in fünfzig Jahren wird man – vielleicht – wissen.

(Anschr. d. Verf.: St. Gallen, Schweiz, Rosenbergstr. 14)

Literatur:

  1. SAMUEL HAHNEMANN: Organon der Heilkunst, 6. Aufl., hrsg. v. Haehl Leipzig 1921, Schwabe.
  2. FR. RUMMEL: Stapfs Arch. f. homöop. Heilkunst 8, 1/50.
  3. RUDOLF TISCHNER: Geschichte der Homöopathie, Bd. 2, S.211, Leipzig 1939.
  4. HERBERT FRITSCHE: Hahnemann, die Idee der Homöopathie, S. 249/250, Berlin 1944, Suhrkamp-Verlag.
  5. FR. RUMMEL: Stapfs Arch. 8, 1/56.
  6. CONSTANTIN HERING: StapfS Arch. 8, 2/143.
  7. G. W. GROSS: Stapfs Arch. 7, 3/96.
  8. FR. RUMMEL: Stapfs Arch. 8, 1/51.
  9. FR. RUMMEL: Stapfs Arch. 9, 3/147.
  10. CH. W. HUFELAND: System d. prakt. Heilk. 1805, 2121241.
  11. AUG. LUMIERE: Grundlagen und Praxis der neuen Humoralmedizin. Berlin-Leipzig-Bern 1937, Weidmann.
  12. W. LEES TEMPLETON: Brit. homeop. / . 1949, July/156.
  13. PATERSON: Some Bacterial and Clinical Aspects of Rheumatism. Brit. homeop. ]. 1935, Okt.118, zit. aus Brit. homeop. ]. 1949, July/156.
  14. RINGSEIS: zit. aus FRITSCHE4 ) S.96 und 219.
  15. FORTIER-BERNOVILLE: The Tuberculinique States and Hahnemanns Psora. Brit. homeop. J. 1936, Okt.1359, zit. aus Brit. homeop. J. 1949, July/155.
  16. W. BIRCHER: Die maskierte Tuberkulose. Zürich 1937, Wendepunkt-Verlag.
  17. A . NEBEL : Der Cyclus des Erregers des malignen Granuloms. Hodgkinsche Krankheit. Lausanne 1943, Selbstverlag des Verf.
  18. K. v. NEERGAARD: Die Katarrhinfektion als chronische Allgemeinerkrankung. Dresden-Leipzig 1939, Steinkopff.
  19. W. v. BREHMER: Siphonospora polymorpha v. Br., Haag/Amper 1947, Linck-Verlag.
  20. C . W . WOLF : Homöopathische Erfahrungen, H.2, S. 11, Berlin 1860.

*) Herrn Dr. MEZGER sei an dieser Stelle für die botanische Richtigstellung
betr. der Aristolochia besonders gedankt.
Copyright Karl.F. Haug Verlag Stuttgart, mit freundlicher Genehmigung
https://www.thieme.de/de#66B63F

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