Falldarstellungen seiner Schüler

Enuresis nocturna

Dr. Angelika Czimmek

Zusammenfassung

Der Fall eines 18 jährigen jungen Mannes mit durchgehender Enuresis bis zu seinem 18. Lebensjahr. Die Analyse und Repertorisation des Falles zeigt eindeutig das Bild von Natrium chloratum. In der Potenz XM gegeben bewirkt eine einmalige Gabe nicht nur das schnelle Beenden der Enuresis, sondern es folgt eine wunderbar menschlich befreite Entwicklung ohne irgendeine weitere therapeutische Intervention.

Summary

The case of an 18 years old man with Enuresis during his whole adolescent life. The analysis and the repertorisation of this case shows a clear picture of Natrium chloratum. Given one dose in the potency of XM effects not only the quick healing of the enuresis but much more the unfolding of an wonderful human being without any additional therapeutic work.

Michael ist 18 Jahre alt, als er am 7. Februar 1990 in meine Behandlung kommt. Er kommt in Begleitung seiner Mutter, die sehr viel redet und ihren Sohn kaum zu Wort kommen läßt. Michael schaut auch seine Mutter immer an, bevor er selber antwortet. Ansonsten schaut er meist nach unten, und ich muß jedes Wort aus ihm herausquetschen. Normalerweise bemühe ich mich, den Patienten so viel wie möglich erst einmal erzählen zu lassen, da die spontanen Äußerungen die wichtigsten sind und meist die klarsten Symptome liefern (Paragraph 84 Organon). Das fällt mir bei Michael sehr schwer.

Stockend erzählt Michael sein Problem: „Ich mache immer noch das Bett naß.“ Die Mutter fällt ein: „Michael näßt jede Nacht ein. Ich wecke ihn möglichst, dann geht es manchmal gut, aber ohne Wecken geht es nie gut. Bis zum 12. Lebensjahr war er auch tagsüber nicht trocken. Da haben wir drei Jahre eine psychologische Betreuung bekommen. Seitdem klappt es wenigstens tagsüber. Wir haben schon viele Untersuchungen in allen Kliniken gemacht, aber es ist organisch alles in Ordnung. Man findet nichts.“

Sonst gibt es angeblich keine Probleme. Ich frage nach Schwangerschaft, Geburt und Kindheit. Die Schwangerschaft sei normal verlaufen. Michael sei immer ein etwas ängstliches Kind gewesen. Er lebe schon immer sehr zurückgezogen, habe keine Freunde und könne überhaupt nur schwer Kontakte finden. Er ist sehr schreckhaft durch Geräusche, hat Angst vor Hunden und vor allem Neuen, und ist immer sehr vorsichtig. Er traut sich nicht, vor anderen zu sprechen. Stille – Michael sitzt still vor mir, schaut sehr traurig und dunkel in sich hinein und traut sich nicht, mich anzuschauen. Ich frage ihn: „Michael, gibt es etwas in Ihrem Leben, was Sie bedrückt?“ Er antwortet mit einem Schulterzucken. Ich schweige. Nach einer Weile merke ich, wie er schluckt, seine Augen werden etwas feucht. Ich warte. Dann sagt seine Mutter, ihren Sohn anschauend: „Es ist wegen deines Bruders, nicht?!“ Ich schaue beide fragend an. Stockend kommt es heraus. Der Bruder ist vor drei Jahren bei einem Autounfall tödlich verunglückt. Die beiden Brüder waren eng verbunden, und Michael ist seit diesem Ereignis völlig in sich zurückgezogen. Er sucht überhaupt keine Kontakte mehr. Seitdem kann er auch nicht mehr weinen. Bei der Nachricht über den Tod hat er das letzte Mal richtig geweint. Seitdem nie wieder. Er meidet auch das Thema, und selbst in der Familie wird der Bruder nicht erwähnt.

Ich bohre nach und will wissen, wie es ihm geht, und nach einiger Zeit erzählt er selbst stockend und in wenigen Worten, daß er den Kummer über seinen Bruder nicht überwinden kann. Seitdem säßen ihm die Tränen immer ganz nahe, aber er könne nicht weinen. Dabei schluckt er die aufkommenden Tränen hinunter. Seine Augen sind nur leicht glänzend.

Ich frage nach weiteren Beschwerden. Michael selber erzählt nichts mehr. Seine Mutter antwortet: „Er kaut entsetzlich an seinen Nägeln“. Außerdem sei er oft erkältet und habe immer wieder Kniegelenksbeschwerden am rechten Knie. Er habe Warzen an den Händen und zwar auf beiden Handrücken. In der Kindheit habe er Masern, Röteln, Windpocken und Mumps gehabt. Weiter ist nichts.

„Wie war es mit der frühkindlichen Entwicklung?“, möchte ich wissen. Michael war in allem spät: die Zahnung war etwas verspätet, das Gehen habe erst mit 15 Monaten begonnen und für das Sprechenlernen habe er sich besonders viel Zeit genommen. Erst mit zwei Jahren habe er langsam die ersten Worte gesprochen.

Als spontan nichts weiter kommt, frage ich an Hand des Kentschen Interrogatoriums weitere Symptome ab. „Wie ist es mit dem Appetit?“ Michael hat eine starke Abneigung gegen Milch. Gemüse mag er nicht besonders gerne, Fleisch nur, wenn es zart ist. Ein ausgesprochenes Verlangen hat er nach Salz. Er salzt jedes Essen nach, bevor er es überhaupt erst probiert hat. Und das sei so seit der Kindheit. Er raucht eine Schachtel Zigaretten pro Tag und zwar seit seinem 14. Geburtstag.

„Wie ist es mit Klimaeinflüssen?“, ist meine nächste Frage. See tut ihm sehr gut, da lebt er richtig auf. Schwüle kann er nicht so gut haben, und die Sonne mag er zwar gerne, aber er verträgt sie nicht. Er bekommt leicht einen Sonnenbrand und hatte auch mal eine Allergie darauf.
„Wie ist es mit dem Temperaturempfinden?“ Er ist eher hitzig. Er fühlt sich am wohlsten in einem Raum, in dem es nicht wärmer als 18 Grad ist. Manchmal könne er aber auch frieren.
„Wie ist es mit dem Schlaf?“ Da gibt es nicht viel besonderes. Michael erwacht öfter mal gegen Morgen, schläft in allen Positionen.
Mehr ist nicht an Symptomen herauszubekommen.

Repertorisation:

Ich ordne die Symptome und verwerte folgende für die Auswertung, wobei ich mich nach dem Schema der Hierarchisierung richte, das uns Dr. Künzli immer wieder in seinen Kursen erklärt hat:

  1. auffallendes, sonderliches Zeichen nach § 153 Organon:
  1. lernt spät sprechen, „mind, talk, slow learning to“: enthält Natrium muriaticum dreiwertig;
  1. gut beobachtete Geistes- und Gemütssymptome:
  1. traurig, kann nicht weinen, „mind, sadness, weep, cannot“: enthält Natrium muriaticum dreiwertig mit „Künzli-Punkt“;
  2. Abneigung gegen Gesellschaft, Alleinsein bessert, „mind, company, aversion, amel. when alone“:
  3. Natrium muriaticum
  4. zweiwertig

  5. Auffahren durch Geräusche, „mind, starting, noise from“: Natrium muriaticum dreiwertig;
  1. Allgemeinsymptome:
  1. Seeluft bessert, „generalities, air, seashore, amel.“: Natrium muriaticum einwertig;
  2. Sonne verschlechtert, „generalities, sun, from exposure to“: Natrium muriaticum dreiwertig;
  3. Nägelkauen, „mouth, biting nails“: Natrium muriaticum einwertig;
  4. Abneigung gegen Milch, „stomach, aversion, milk“: Natrium muriaticum, eine von Dr. Künzli auf Spiekeroog diktierte Ergänzung (auch im SR);
  5. Verlangen nach Salz, „stomach, desires, salt things“: Natrium muriaticum dreiwertig;
  1. Lokalsymptome:
  1. Warzen an den Händen, „extremities, warts, hand“: Natrium muriaticum zweiwertig;
  2. Wasserlassen, unwillkürlich nachts, „bladder, urination, involuntary, night“: Natrium muriaticum dreiwertig.

Nach der Hierarchisation und Repertorisation dieser Symptome ergibt sich ganz eindeutig Natrium muriaticum als Heilmittel. Das paßt auch zu dem Eindruck, den der junge Mann auf mich macht: traurig, verschlossen, wie von tiefem Kummer erdrückt. Der Kummer ist nicht die Causa der Enuresis, aber der Umgang mit der Trauer ist charakteristisch für Michael als Menschen. Die Konstitution ist schon vorher dagewesen.

Verlauf:

Am 7.2.90 bekommt Michael von mir Natrium muriaticum XM (Schmidt-Nagel).
Am 15.3.90 ein erster Bericht der Mutter: Zwei Wochen habe Michael noch jede Nacht eingenäßt, dann sei es besser geworden. Seit einer Woche nässe er überhaupt nicht mehr ein.

Dann höre ich lange nichts von meinem Patienten. Erst ein Jahr später bekomme ich wieder Kontakt. Michael näßt nach wie vor nicht mehr ein. Aber was noch viel schöner ist, er ist ein völlig veränderter Mensch geworden. Er ist jetzt locker, lächelt, hat viele Kontakte zu Freunden, geht tanzen, hat auch mal eine Freundin gehabt, kann sein Gegenüber ansehen, wenn er mit ihm spricht, kann über seine Probleme sprechen, kann weinen und kann auch über seinen Bruder sprechen. Er ist immer noch traurig darüber, aber die Trauer lähmt sein Leben nicht mehr.

Weitere drei Jahre später sehe ich die Mutter noch einmal, und sie berichtet mir, daß diese positive Lebensveränderung geblieben ist. Michael ist völlig in Ordnung und seit der ersten Konsultation bei mir nicht wieder krank gewesen. „Und das alles durch die zwei Kügelchen, die Sie ihm gegeben haben. Wenn ich es selbst nicht mit gesehen hätte, ich würde es nicht glauben können.“

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