Fibrositis-Syndrom – das vergessene Gänseblümchen
Dr. Peter Federer
Zusammenfassung:
Abstract:
Eine damals 34-jährige Patientin wurde mir am 25.2.1992 vom Rheumatologen wegen eines Fibrositissyndroms überwiesen, welches gegenüber allen unternommenen physikalisch-therapeutischen Maßnahmen absolut therapieresistent sei.
Anamnese
Die Beschwerden begannen mit der Geburt des ersten Kindes vor vier Jahren. Bei einer Forcepsgeburt* hatte die Patientin eine starke Dammblutung und anschließend massive Rückenschmerzen sowie Hämorrhoiden, so daß sie lange Zeit nicht sitzen konnte. Seit der zweiten Schwangerschaft ein Jahr zuvor leidet sie an Muskelschmerzen überall im Körper.
Sie klagt über Schmerzen vor allem im Schulter- und Nackenbereich mit Ausstrahlung in beide Arme.
Morgens hat sie massive Anlaufschmerzen, die mit der Bewegung besser werden, längere Bewegung und Belastung verschlimmern jedoch wieder.
Sie kann nicht lange in gleicher Position sitzen oder liegen.
Die Beschwerden zeigen keine Temperaturabhängigkeit.
Am Morgen sind die Finger steif und schmerzhaft.
Die Rückenschmerzen sind z.T. sakral auf der rechten Seite lokalisiert und von einem Lähmungsgefühl im ganzen rechten Bein begleitet.
Ruhe verschlimmert; sobald sie sich bewegt, wird es besser.
Wegen der Beschwerden kann die Patientin kaum noch ihre Hausarbeiten verrichten.
Vor Schmerzen schläft sie wenig und schlecht und ist daher tagsüber viel müde.
Manchmal weint sie vor Schmerzen.
Die Patientin ist sehr aktiv und hat Mühe, untätig zu sein.
Sie bittet ungern jemanden um etwas, das sie selbst tun kann.
Sie wird rasch wütend und schreit herum wegen Kleinigkeiten, schluckt aber trotzdem viel Ärger hinunter und zeigt ihn nicht.
Sie kann nicht weinen, wenn jemand anwesend ist. Sie konnte selbst dann nicht weinen, als ihr Vater, an dem sie sehr gehangen hatte, vor vier Jahren starb.
Auf die Frage nach Trost antwortet sie: „Ich will keinen Trost, ich bin eine starke Person; Worte helfen ja nicht gegen Schmerzen!“
Die Patientin ist Asiatin und ist mit ihrem Mann in die Schweiz gezogen, als er hier eine Stelle fand. Sie kommt aus einer Großfamilie und hatte nie materielle Probleme. Die Ehe mit ihrem Mann war arrangiert.
Die Patientin ist in ihrer Art von ihrem Mann sehr verschieden.
Sie hat Probleme mit den Schwiegereltern und lebte deshalb wieder bei ihren Eltern, als ihr Mann zunächst allein ins Ausland zog. Sie ist frustriert, daß sie ihre Aufgabe in der Familie des Mannes nicht erfüllen kann.
Ihrer eigenen Familie hat sie nie etwas von ihren Beschwerden erzählt. Als sie bei ihren Eltern wohnte, hat sie ihre Schmerzen versteckt: „Sie können ja doch nicht helfen und würden sich nur Sorgen machen!“
Die Patientin hat Soziologie studiert.
Sie sagt von sich selbst, sie habe einen starken Willen.
Ihr Mann berichtet: Wenn sie eine Meinung gefaßt habe, könne man sie nicht vom Gegenteil überzeugen. Es sei für sie schwierig gewesen, sich in Europa zu akklimatisieren; sie hätte zuerst viel geweint, sei dann aber stark geworden.
Die Ehe war sechs Jahre lang infertil, deshalb wurden diverse Therapien versucht. Als sie auf den Termin einer Insemination wartete, wurde sie spontan schwanger.
Die Patientin hatte an einer Endometriose gelitten; ihre dadurch verursachten Bauchschmerzen beim Geschlechtsverkehr verschwanden nach einem mikrochirurgischen Eingriff an den Tuben vor acht Jahren. Damals sei auch eine Zyste am Uterus festgestellt worden.
Ansonsten ergibt die Anamnese nichts Auffallendes.
Beginn der Behandlung und erneutes Fallstudium
Ich verabreichte der Patientin nacheinander mehrere Mittel – Nux vomica, Natrium muriaticum, Ignatia, Rhus toxicodendron –, ohne jedoch irgendeine Besserung zu erzielen.
Nach etwa sechs Monaten insistiert die Patientin: Die Schmerzen hätten doch einfach etwas mit ihrer Geburt zu tun, es hätte ja wirklich alles damals mit der Blutung im Damm begonnen.
Als ich nochmals über die Bücher gehe, entdecke ich im Repertorium von Phatak eine Rubrik [1]:
- „injuries, pelvic organs, of“ mit Bellis perennis als einzigem Mittel.
In der Materia Medica werde ich bei Mezger [2] fündig, welcher dieses Mittel selbst geprüft hat: Nicht nur die Causa, nicht nur die Schmerzmodalitäten, sondern sogar die Gemütssymptome von Bellis perennis entsprechen den Symptomen der Patientin!
Es lohnt sich übrigens, die Symptome, welche Mezger von Bellis perennis angibt, im Kentschen Repertorium nachzutragen: Ist dieses Mittel doch dort kaum vertreten! Einige mir wichtig erscheinende Symptome, welche ich im Repertorium nicht gefunden habe, habe ich im folgenden Text mit (*) bezeichnet.
Bellis ist ein Korbblütler und wurde in der Volksmedizin wie die verwandten Calendula, Millefolium, Chamomilla und vor allem wie Arnica als Wundheilmittel gebraucht.
Burnett empfahl seinen homöopathischen Gebrauch analog der Volksmedizin:
- bei Verrenkungen, Blutergüssen und Quetschungen,
- gegen die Folgen von körperlicher Überanstrengung,
- bei Lungen- und Gebärmutterblutungen, vor allem nach Anstrengungen.
Darüberhinaus wurde Bellis in der Homöopathie bei folgenden Beschwerden mit Erfolg eingesetzt:
- bei Schmerzen der Bauchdecken in der Schwangerschaft,
- bei Varizen,
- bei Magenschmerzen als Folge von kalten Getränken und
- gegen die Folgen von Nässe und Kälte auf der Haut.
Bei der ersten Arzneimittelprüfung von Bellis, die Dr. Thomas 1856 mit der Urtinktur durchführte, traten Gliederschmerzen und Furunkel auf. Eine Prüfung von Hinsdale 1915 – ebenfalls mit der Urtinktur – führte zu:
- Hautjucken,
- Furunkeln,
- gelben, übelriechenden, schmerzlosen Durchfällen,
- rheumatischen Gliederschmerzen, die sowohl morgens, als auch nach Bewegung, als auch während der Periode schlimmer waren, und
- während der Mens zu dem Gefühl, als ob die Gebärmutter gequetscht worden sei.
E. Haehl und Julius Mezger [2] prüften Bellis perennis 1937 und zwar erstmalig in Potenz. Diese Prüfung brachte eine Bestätigung vieler der älteren Indikationen:
- Gefühl von Zerschlagenheit,
- Blutungen als Zeichen einer Gefäßfragilität,
- gereizte Schleimhäute von Atmungs- und Verdauungsorganen,
- lebhafte Schmerzen in Muskeln, in Gelenken und in peripheren Nerven,
- Magenschmerzen, welche bessern:
- durch Zusammenkrümmen (˚),
- durch Druck (˚),
- durch Essen,
- Schmerzen in der Lebergegend,
- Erbrechen von galleartiger Flüssigkeit,
- Empfindlichkeit auf fetten Kuchen (˚).
Bei zwei Prüfer zeigten sich Symptome einer
- Blinddarmentzündung ohne eine Veränderung im Blutbild.
Am weiblichen Genitale kam es zu:
- Menorrhagie mit dunklem Blutabgang (˚) nach Anstrengung;
drei Prüferinnen beschrieben das
- Gefühl des Herabdrängens der Gebärmutter (˚).
- An der Haut zeigten sich Entzündungen mit Jucken und Brennen (˚),
- diverse Ausschläge, Furunkel (˚) und Karbunkel (˚).
Ein Hauptangriffspunkt von Bellis ist das Kapillarsystem mit seiner
- Neigung zu Blutungen und seiner erfolgreichen Anwendung
- bei Hämangiomen (˚).
- Muskel- und Gelenkschmerzen wurden meist durch Bewegung schlechter (˚).
Trotzdem hatten die Prüfer
- ein Verlangen nach Bewegung und
- ein Verlangen nach frischer Luft.
Ein Fall wurde
- durch Bewegung und Massage besser (˚).
Bei den Gemütssymptomen fielen:
- eine auffällige Gereiztheit bei fünf Prüfern und
- eine Gedrücktheit ohne Grund bei zwei Prüfern auf.
Da sowohl Blähungen als auch Herzbeschwerden durch Bewegung gebessert werden, hält Mezger diese Modalität für ein wichtiges Allgemeinsymptom dieses Mittels. In dieser Hinsicht ist Bellis sehr verwandt mit Rhus toxicodendron!
Bei meiner Patientin waren also an Symptomen von Bellis perennis zu finden:
- als Causa die Beckenverletzung während der ersten Geburt,
- an Schmerzmodalitäten die Verschlimmerung am Morgen sowie bei Beginn der Bewegung, aber die Besserung durch fortgesetzte Bewegung und
- als Gemütssymptom die auffällige Gereiztheit.
Die weitere Behandlung
Die Patientin erhielt am 24.8.92 Bellis perennis M (jeweils Schmidt-Nagel). Es folgten die zweite Dosis M nach etwa drei Monaten, am 1.11.92, Bellis perennis XM anderthalb Monate später, am 16.12.92, sowie die zweite XM ein weiteres Dreivierteljahr später, am 29.9.93.
Bereits auf die erste Dosis Bellis perennis kam es innerhalb von 14 Tagen zu einer Schmerzreduktion von etwa 50%. Ich wiederholte Bellis perennis dreimal im ersten Jahr, da es jeweils bei körperlicher Überbelastung zu Rückfällen kam. Nach diesen vier Mittelgaben sagte die Patientin, der Schmerz besäße nur noch etwa 10% der ursprünglichen Intensität. Drei Jahre nach Behandlungsbeginn waren die Schmerzen soweit reduziert, daß die Patientin ihren täglichen Verpflichtungen ohne Schmerzmittel nachgehen konnte. Bei Rückfällen reagierte sie immer wieder prompt auf Bellis (weitere Mittelgaben: am 10.1.94 und am 29.6.94 je eine Dosis Bellis perennis M, am 29.10.94 und am 27.2.95 jeweils Bellis perennis XM).
Mitte 1995 ist sie wieder in ihre Heimat zurückgekehrt; ich habe nichts mehr von ihr gehört.
Es scheint, daß sich hinter dem Fall noch ein anderes Mittel versteckt. Denn es ist auffällig, daß es nach körperlicher Anstrengung oder Überlastung immer sofort zu einem Rückfall der Schmerzen kam. Bellis wirkte allerdings jedesmal prompt und anhaltend. Für mich ungewöhnlich war der Weg, wie ich zum Mittel gefunden habe, vor allem auch, daß einmal eine Causa bei der Repertorisation zum Ziel geführt hat. Fasziniert hat mich natürlich, daß solch ein „kleines Mittel“ bei einer tiefsitzenden chronischen Krankheit so weit geholfen hat.
Mezger schreibt, er könne sich der Meinung, daß Bellis kein sehr aktives Mittel sei, nicht anschliessen: „Die Heftigkeit der Symptome ließ nicht zu wünschen übrig.“
Vielleicht sollten wir unserem „gemeinen Gänseblümlein“ etwas mehr der Ehre antun und uns in dem einen oder andern Fall seiner erinnern. Vielleicht findet sich auch wieder einmal eine Gruppe von HomöopathInnen, die dieses Mittel, das uns eigentlich nahe liegen müßte, nochmals prüft.
Literatur
- S. R. Phatak: A Concise Repertory of Homoeopathic Medicines. New Dehli, 1992, Seite 193
- Julius Mezger: Gesichtete Homöopathische Arzneimittellehre. Heidelberg, … Auflage, Seite 143-152
Ins Glossar:
- Forcepsgeburt
- Zangengeburt
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