Falldarstellungen seiner Schüler

Neurodermitis, X-Beine, Retardierung und Enkopresis

Dr. Erika Anzenbacher

Am 11.12.1989 wird mir ein Ende Dezember des Vorjahres geborener, also knapp einjähriger Bub mit Neurodermitis vorgestellt. Die Neurodermitis besteht seit seiner dritten Lebenswoche; sein ganzer Körper und sein Gesicht sind befallen. Seit Beginn der Erkrankung extrem schlechter Schlaf, wahrscheinlich wegen des Juckreizes.

Es ist ein großer, kräftiger, lebhafter, interessierter Junge mit braunem gelocktem Haar. Er stellt sich schon auf, ist beweglich.

Die Fallaufnahme, Hierarchisation und Repertorisation ergeben:

  1. Auffallende, sonderliche Zeichen und Symptome entsprechend § 153 Organon:
  1. Rollt den Kopf im Bett beim Einschlafen, „head, motions, rolling head“;
  2. Kniellenbogenlage im Schlaf, „sleep, position, knees, knees and elbows, on“;
  3. trinkt in großen Schlucken, „stomach, thirst, large quantities“;
  4. Hautausschläge an Ellenbeugen und Kniekehlen, „extremities, eruptions, joints, bends of, ekzema“;
  1. Allgemeinsymptome:
  1. ständig offener Mund, „mouth, open“;
  2. warmes Bad verschlimmert, „generalities, bathing, warm bathing aggravates“ (SR);
  3. Milchschorf auf dem Kopf, „head, eruption, milk crust“ bzw. „Kopf, Hautausschläge, Milchschorf“ (Horst Barthel: „Repertorium der Charakteristika“, 2. Auflage);
  4. Phimose, „genitalia, phimosis“;
  1. Lokalsymptome
  1. häufig roter Anus, „rectum, redness of anus“;
  2. verkrüppelte Nägel, „extremities, distorted nails“.

Das Kind erhält am 12.12.89 einen Globulus Sulfur 200 ( alle Mittel: Schmidt-Nagel). In der Folge ab der zweiten Woche deutliche Besserung ohne Erstverschlimmerung. Schlaf ab der zweiten Woche deutlich besser, ab Jänner 90 schläft das Kind schon oft ganz durch. Bei der zweiten Konsultation am 23.1.90 ist die Gesichtshaut nur noch etwas rauh, die Neurodermitis ist am Rücken noch etwas stärker. Anhaltend Knieellenbogenlage. Wieder öfter roter Anus. Deshalb nochmals ein Globulus Sulfur M.

In der Folge wieder deutliche Besserung.

Dritte Konsultation am 10.3.90:
Beugen ganz abgeheilt, Kopf ganz frei, Ausschlag nur noch etwas am Rücken. Nun kommen
die Essensmodalitäten deutlicher heraus:
Gerne Speck „ bacon desire“
Isst Butter pur „butter desire“
Knieellbogenlage „Sleep postition knees and ellbows“ (war ja mit Sulfur nie gedeckt).
Die Mutter hat inzwischen erfahren, dass es in der Familie Tuberkulose gab.
Tuberculosis pulmonalis „tuberculosis hereditary“
Das Kind erhält Tuberculinum 200.

Um den 11.4.90 kurze Erstverschlimmerung, dann zunehmende Besserung. Das Kind brauchte
keine Behandlung mehr, die Haut war ganz normal. Eine Andeutung der Neurodermitis findet
sich nur noch ab und zu spurenweise am Rücken.

18.12.1990:
Bis vor drei Wochen war alles gut. Jetzt wieder leichter Befall am ganzen Körper, besonders
am Rücken. Es ist ein sehr unruhiges Kind „Restlessness in children“
Eigensinnig „ Obstinate children“
Läuft dauernd herum „Impulse to run“
Boshaft und eigensinnig „Malicious“ „Obstinate children“
Also nochmals Tuberculinum 200.

Bericht Ende April 1991:
Die Haut besserte nach Tuberculinum rasch, sogar die Nägel werden schöner, seit Monaten ist
die Haut ganz frei. Auch psychisch ist eine deutliche Beruhigung eingetreten.

9.10.91:
Die Haut ist unauffällig. Das Kind:

  • spricht aber noch auffallend wenig „Talk slow learning“
  • ist ängstlich im Dunkeln „Fear darke“
  • Kopfschweiß nachts „Perspiration scalp night“
    • will noch immer am liebsten die Flasche, lutscht noch gerne am Finger „children put fingers
    • in the mouth“
    • Phimose „Phimosis“
    • Kryptorchismus „Retraction of testes“
    • es bestehen nun beträchtliche X-Beine „Knocked together knees“
    • der Winkel beträgt rechts 20%, links 14%.

Der Orthopäde rät zur Operation. Die Mutter will es lieber nochmals mit der Homöopathie versuchen – ich bin skeptisch, aber sie besteht darauf.

Ich versuche es mit dem vermeintlichen Konstitutionsmittel Calcium carbonicum – bis zum Oktober 92 ohne Erfolg.

Immer mehr fällt bei dem Kind auf:

  • seine langsame geistige und körperliche Entwicklung auf „Retarded children“
  • es ist auffallend schüchtern „Timidity“
  • besonders, wenn Leute auf Besuch kommen, versteckt es sich hinter der Mutter
  • „Hide desire in children from strangers“
  • wenn es Stuhl in die Hose macht, glaubt es, alle lachen ihn aus „delusion laughed at“
  • und es verkriecht sich deshalb schon vorher hinter dem Tisch „Hide desire in children“
  • es sitzt stundenlang mit ein- und demselben Spielzeug herum „Play aversion in children,
  • sit in a corner“
  • lernt nichts dazu „Learning poorly, learns the same thing over and over again yet
    remaines untrained“
  • es isst gierig, stopft alles auf einmal in den Mund „childish behaviour“
  • sein Stuhl ist knollig „stool knotty“ er weigert sich auf den Topf zu gehen;
  • die Mutter hat den Eindruck, er höre schlecht „ Hearing impaired“
  • vergrößerte Adenoide und Tonsillen „Hearing impaired enlarged tonsills, adenoids with“
  • und dann eben diese massiven X-Beine.

Ein klassisches Barium-carbonicum-Bild hat sich entwickelt.

Mit drei Gaben Barium carbonicum (M, XM, XM) vermindert sich der Winkel der genu valga bis zum Juli 93 auf wenige Grade. Das Kind stolpert nun nie mehr über die eigenen Fü.e; die Hoden sind dezendiert. Das Kind hat sich auch geistig sehr entwickelt: Es traut sich nun erstmals in den Kindergarten zu gehen oder kleine Besorgungen in der Umgebung zu machen, ist viel weniger schüchtern, geht sogar selbstständig zum Urinieren zur Toilette – nur den Stuhl entleert er standhaft ausschließlich in die Hose. Da die Mutter vier kleine Kinder hat und nicht aus dem Windelwaschen rauskommt, möchte sie nun auch das noch geheilt sehen.

Die Mutter hat es mit allen Mitteln und Tricks versucht, nichts hilft. Der Stuhl ist eher fest. Er verhält ihn anscheinend eine zeitlang, dann versteckt er sich unter dem Tisch und macht in die Hose. Erwischt ihn die Mutter kurz vorher und setzt ihn auf das WC, so kann er ihn nicht entleeren. Entleerung ohne Anstrengung.

Ich versuche unter Zuhilfenahme des Repertoriums einige Mittel (Belladonna, Aloe, Causticum, Calcium carbonicum) ohne den geringsten Erfolg. Ich lasse das Repertorium beiseite und schaue nochmals das Kind genau an:

  • der Junge hat auffallend lange Wimpern „ Hair – eyelashes long and silky“
  • verstärkte Behaarung längs der Wirbelsäule „Back – hair on“
  • angedeutete Hühnerbrust „Protrusion sternum“
  • er springt gerne im Freien herum „motion, running am., air open desire“
  • schnell beleidigt „offended easily“
  • er macht seinen Geschwistern ihr Spielzeug kaputt „“Break things, destructiveness“
  • verwendet gerne wüste Worte aus dem Kindergarten abusive“, „lewdness talk“
  • er hat wieder vermehrt Angst vor Hunden und vor neuen Situationen „Fear dogs“
  • er ist ziemlich eigensinnig und schlägt andere Kinder „Obstinate children“ „Striking“
  • er masturbiert „masturbation in children“

Das ist wieder das gute alte Tuberculinum, das seine Neurodermitis ausheilte! Aber wie paßt die Enkopresis dazu? In Henry C. Allen’s „Nosoden“ finde ich dann den Satz [1]:

„Vergeblicher Stuhldrang; keine Beziehung zum Stuhlgang; es scheint am Sphinktermuskel zu liegen“.

Nun bekommt der Junge Tuberculinum XM (September ´94) und ist seither sauber! Auch die Psyche hat sich normalisiert; lediglich seine Auffassungsgabe ist noch etwas verlangsamt, deshalb besucht er die Vorschule.

Die Schwester dieses Buben, geboren im August 1986, war schon vorher wegen Neurodermitis seit der sechsten Lebenswoche bei mir in Behandlung. Sie erhielt Natrium muriaticum M, M, XM mit deutlicher Besserung, aber erst Tuberculinum bewirkte die völlige Abheilung.

Der jüngere Bruder, geboren im Dezember 1990, hatte starken Milchschorf nach der Geburt, auffallend rauhe rote Bäckchen und entwickelte unter Calcium carbonicum bereits in den ersten Monaten ebenfalls eine Neurodermitis, die nach Tuberculinum gleichfalls prompt abheilte.

Diskussion

Ich habe sehr viele Fälle von Neurodermitis in meiner Praxis, welche erst unter Tuberculinum oder Bacillinum völlig abheilten. Die hauptsächlichen wahlanzeigenden Symptome – oft nur einige wenige von diesen bei dem jeweiligen einzelnen Patienten – waren folgende:

  • familiäre Belastung mit Tuberkulose „Tuberculosis hereditary“
  • ruhelose Kinder „Restlessnessin children“
  • Kinder schlagen andere „Striking in children“
  • Furcht vor Fremden „Fear strangers“
  • Verlangen zu reisen „Travel, desire to“
  • Heftigkeit,„Violence“
  • widerspenstig, eigensinnig „Obstinate“, Contrary“
  • Furcht vor Hunden und Katzen, „Fear, dogs, cats“
  • schlägt seinen Kopf gegen andere Dinge, „Striking himself, knocking his head against walls and things“
    Zähneknirschen „Teeth grinding sleep during
    Zähne: Gezackt, früh Caries, Caries an Seitenflächen, Engstand, Fehlstellung, Diastema
    Teeth: „Serrated, Caries premature – on sides of teeth, jammed, irregular formation“
    “diastema“
    Zahnung spät, schwierig, rudimentär „Dentition late, difficult, rudimentary only“
    Lange Augenwimpern „Eyelashes long and silken“
    Adenoide „Adenoids“
    Rezidivierende und chronische Infekte des Respirationstraktes, Pneumonie bei Kleinkindern
    „Coryza persistent, inflammation bronchial tubes in children, chronic, inflammation lungs in infants“
    Rezidivierende Anginen „Inflammation tonsills recurrent“
    Enuresis nocturna, „Bladder, urination, involuntary, night“
    Blasenentzündung rezidivierend, chronisch „Infalammation bladder recurrent, chronic“
    Masturbation „Masturbation – in children“
    Trichterbrust, Hühnerbrust „Protrusion sternum“
    Rücken: Haare längs der Wirbelsäule „Hair on back“
    Hautausschläge schon seit der Geburt – also hereditäre Tuberculinie!
    Allergie auf Tierhaare, Milch „Eruptions allergic, eruptions allergic milk“
    Herpes circinatus-artige Hautausschäge „Eruptions herpetic circinate“
    Nachtschweiße, „Perspiration, sleep, during“
  • Knieellenbogenlage im Schlaf „Sleep, position, knees, knees and elbows, on“
  • Viele Haare schon als Neugeborenes „Hairy“
  • Ausgeprägte Erkältungsanfälligkeit „ Cold tendency to take“
  • Verlangen nach kalter Milch, Salami, Speck, Butter(!!), Bananen.
    „Generalities, food, desires: milk-cold , sausages-salami, bacon, butter. bananas“ •
    Frischluftverlangen, „generalities, air, open, desire“

Nochmals möchte ich darauf hinweisen, dass in meiner Praxis die Ausheilung der
Neurodermitis in vielen Fällen, bei denen die Gesamtheit der Symptome auf ein großes
Polychrest hinwies, erst unter Tuberculinum oder Bacillinum erfolgte, auch wenn nur einige wenige Symptome bei dem jeweiligen Kind auf Tuberculinum oder Bacillinum hinwiesen.
Wichtig erwies sich vor allem die familiäre Belastung mit Tuberkulose.

Literatur:

  1. Complete Repertory
  2. Henry C.Allen: Nosoden, 2.Auflage 1992, Kapitel Tuberculin: Stuhl und anus, Seite 69

Zusammenfassung:

Ein einjähriges Kind wird wegen Neurodermitis seit dritter Lebenswoche zuerst mit Sulfur behandelt, welches zwar eine Besserung, aber keine Ausheilung bewirkt. Erst nach Bekanntwerden einer Tuberkulose der Vorfahren und aufgrund der neu aufgetretenen Zeichen und Symptome heilt die Neurodermitis auf Tuberkulinum ab.

Im darauffolgenden Jahr neuerliche Konsultation, weil das knapp 3-jährige Kind noch kaum spricht. Es hat Angst im Dunklen Es besteht ein Kryptorchismus, Phimose, Enkopresis bei Obstipation, zunehmende Entwicklung von massiven X-Beinen. Soll operiert werden. Die Gabe von Calcium carbonicum bessert Ängste und Sprache, behebt Phimose und Kryptorchismus,aber die X-Beine und die Enkopresis sogar um einiges verschlimmert. Das wegen der auffallenden geistigen und körperlichen Retardation und der X-Beine gegebene Barium carbonicum bewirkt binnen 9 Monaten eine erstaunliche geistige und körperliche Entwicklung und die Normalisierung der Beinstellung in den Knieen.

Wegen anhaltender Enkopresis des inzwischen 5-jährigen Kindes und der nun immer deutlich werdenden tuberkulinischen Zeichen und Symptome neuerliche Gabe von Tuberkulin. Promptes Ansprechen der Enkopresis – sofort sauber geworden. Verhalten drastisch gebessert. In vielen Fällen von Neurodermitis, rezidivierenden oder chronischen Tonsillitdien, Adenoiden,rezidivierenden oder chronischen Infektionen des Respirationstraktes oder der Blase erfolgte die endgültige Ausheilung bei Vorliegen einer Tuberculinie oder tuberkulinischer Stigmata am Patienten erst nach Gabe von Tuberculinum oder Bacillinum.

Summary:

A child suffering from neurodermits since third week of life comes to consultation at the age of one year. It gets Sulfur, whch ameliorates but does not heal completely. Meanwhile mother found out, that Tuberculosis was in family. The child shows new symptoms, which correspond with Tuberculinum, which completely heales Neurodermitis.

Consultation with three years: Talks nearly nothing, fear dark, retraction testes, phimosis, encopresis with constipation and severe X-legs.Should be operated, but mother refuses operation. Calcium carbonicem ameliorates fears and speech, retraction testes and phimosis but X-legs and Enkopresis aggravated. Consultation with four years: X-legs, encopresis, mental and physical retardation. Baryta carbonica produces a remarkable mental and physical development and noramlization of posture of legs.

Consultation with five years: Because of constant encopresis of the child and pronounced tuberculinic symptoms the child gets Tuberculinum. Not any encopresis since Tuberculinum and remarkable amelioration of behaviour.

In many cases of neurodermitis, recurrent or chronic tonsillits, adenoids, recurrent and chronic infections of respirationorgans and bladder definitve healing only took place under treatment with Tuberculinum or Bacillinum for those patients with hereditary Tuberculosis or tuberculinic stigmata.

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