Falldarstellungen seiner Schüler

Vorhofflimmern

Dr. Hermann Anzenbacher

Bei der damals 36 Jahre alten Patientin B.C. traten im Januar 1988 plötzlich Zwischenblutungen, eine auffallende Müdigkeit sowie Vorhofflimmern auf. Die internistische und kardiologische Abklärung ergaben keinen Hinweis auf Vitium cordis, Kardiomyopathie oder Hyperthyreose, so dass die Diagnose eines idiopathischen Vorhofflimmerns gestellt wurde. Eine Behandlung mit Antiarrhythmika wurde begonnen. Die empfohlene Chinidin-Dosis blieb jedoch ohne Wirkung, und vor einer Erhöhung der Dosis dieses Medikaments willigte die Patientin in einen homöopathischen Behandlungsversuch ein. Die homöopathische Anamnese fand am 6.6.1988 statt.

Anamnese

Die Patientin ist von kräftiger Statur, hat braune Haare und braune Augen und eine reine, eher trockene Haut. In ihrem Verhalten ist sie, obwohl ich sie schon einige Jahre behandelt habe, zurückhaltend. Ihr Redestil ist flüssig, kurz und genau.

Die Kindheit und Jugend seien unauffällig verlaufen.
Zurückblickend glaubt die Patientin jedoch, von den Eltern nie richtig angenommen worden zu sein; im Gegensatz zu ihren Geschwistern habe man ihr von zu Hause aus nichts Gutes und keinen persönlichen Erfolg vergönnt. Diese Vorstellung mache sie traurig, sie müsse immer wieder daran denken.

Die Patientin, Mutter von drei gesunden Kindern, die in harmonischer Ehe lebt, leidet unter ausgeprägten Ängsten:

  • extreme Angst vor einem möglichen Unfall eines Familienangehörigen,
  • sehr starke Angst in engen Räumen,
  • Furcht vor der Zukunft bzw. vor drohender Krankheit sowie
  • panische Furcht vor Ratten und Mäusen.

Sie ist eine fleißige Hausfrau, die ihre Arbeit genau verrichtet, lehnt Musik ab und weint nicht leicht.

Heißes Wetter und warme Räume verträgt sie schlecht.
Sie ist empfindlich gegen Durchzug.
Sie empfindet ein starkes Schwindelgefühl, wenn sie auch nur auf eine Leiter steigt.
Auf Mehlspeisen bekommt sie leicht Sodbrennen, nach Weißwein Schlaflosigkeit.
Sie hat ein deutliches Hungergefühl zwischen 9 und 10 Uhr vormittags.
Beim Schlafen liegt der Kopf flach. Im Bett ist ihr eher zu warm. Sie erwacht um ca. drei Uhr nachts.
Nach dem Mittagessen ist sie müde, ein Mittagsschlaf bessert dann deutlich.
Kragen und Gürtel werden schlecht vertragen.

Die Schwangerschaften verliefen unauffällig.
Dysmenorrhoe vor und zu Beginn der Menstruation, die Blutung ist dunkel mit Klumpen.
Sie hat Warzen an den Fingern.
Immer wieder hat sie sehr warme Hände und Fü.e.

Hierarchisation und Repertorisation

  1. auffallende, sonderliche Symptome nach § 153 „Organon“:
  1. Hunger gegen 10 Uhr morgens, „stomach, appetite, increased, forenoon, 10 a.m.“;
  2. unregelmäßiger Herzschlag, „chest, palpitation, irregular“: enthält Natrium muriaticum.
  1. gut beobachtete Geistes- und Gemütssymptome:
  1. Beschwerden durch Demütigung, „mortification, ailments after“:
  2. kommt immer wieder auf vergangene unangenehme Ereignisse zurück, „mind, dwells on past disagreeable ocurrences“: Natrium muriaticum
  3. Abneigung gegen Musik, „mind, sensitive, music, to“: oder negativ;
  4. Angst, daß etwas passieren könnte, „mind, fear, happen, something will“;
  5. Furcht vor der Zukunft, „mind, anxiety, future, about“;
  6. Furcht vor drohender Krankheit, „mind, fear, disease, of impending“;
  7. Angst in engen Räumen, „mind, fear, narrow place, in, claustrophobia“ bzw. „ generalities, room full of people agg.“: Nur die letztere Rubrik enthält Natrium muriaticum;
  1. Allgemeinsymptome:
  1. heißes Wetter sowie warme Räume verschlimmern, „generalities, warm agg.“;
  2. Abneigung gegen Kleidung, „generalities, clothing, intolerance of“
    1. Menses dunkelfarbig mit Klumpen, „genitalia-female, menses, dark“, „genitalia- female
    2. menses, clotted“;
      Abneigung gegen Wein, „stomach, aversion, wine“;
  1. Lokalsymptome:
  1. Schwindel an hochgelegenen Orten, „vertigo, high places“
  2. Warzen an den Fingern, „extremities, warts, fingers“;
  3. Haarausfall „head, hair, falling“.

Verlauf

Am 13.6.88 begann ich die Therapie mit Natrium muriaticum 200 (alle Medikamente Schmidt-Nagel). Darauf kam es zu einem kurzfristiges Umschalten auf Sinusrhythmus, dann aber wieder Vorhofflimmern.

Die Therapie wurde mit Natrium muriaticum fortgesetzt, alle 5-6 Wochen erhielt die Patientin eine neue Mittelgabe, insgesamt 15 Dosen.

Bei jeder Gabe dieses Mittels kam es erneut zu einem kurfristigen Umschalten auf einen Sinusrhythmus mit und ohne supraventrikuläre Extrasystolen. Sinusrhythmus, jeweils durch EKG verifiziert, bestand im November 1988 sowie im Juli, November und Dezember 1989, hielt jedoch nicht länger als jeweils 3-4 Wochen lang an.

Die Zwischenblutung sistierte. Allgemeinbefinden, Belastbarkeit, Müdigkeit zeigten eine leichte, aber keine entscheidende Besserung, auch nicht nach einer Erhöhung der Dosis auf Natrium muriaticum M und XM. Auffallend war, daß zwar nach jeder Mittelgabe eine Besserung des Allgemeinbefindens eintrat, welche aber nicht lange anhielt, maximal nur etwa vier Wochen.

Anläßlich der Erstkommunion des jüngsten Kindes im März 1990, mitbedingt durch eine akute Anspannung und Überarbeitung, tritt ein auffallend starker psychischer Erregungszustand auf: Die Patientin übersieht ihre Arbeit nicht mehr, sie hat Atemnot bei Anstrengungen, träumt vom Tod und sieht Tote.

Erneute Repertorisation und Hierarchisation

  1. auffallende, sonderliche Symptome nach § 153 „Organon“:
  1. erträgt keine Kragen, „external throat, clothing agg.“
  2. erträgt keinen Gürtel, „abdomen, clothing, sensitive to“
  3. Atemnot bei Anstrengungen, „respiration, difficult, exertion, after“
  1. gut beobachtete Geistes- und Gemütssymptome:
  1. sieht Tote, „mind, delusions, dead, persons, sees“;
  2. träumt vom Tod, „sleep, dreams, death, of“;
  3. Beschwerden durch Demütigung, „mind, ailments, mortification“
  4. Furcht vor der Zukunft, „mind, anxiety, future, about“;
  5. Furcht vor drohender Krankheit, „mind, fear, disease, of impending“;
  1. Allgemeinsymptome:
  1. heißes Wetter sowie warme Räume verschlimmern, „generalities, warm agg“;
  2. Menses dunkelfarbig mit Klumpen, „genitalia-female, menses, dark“, „genitalia- female, menses, clotted“;
  3. Abneigung gegen Wein, „stomach, aversion, wine“;
  1. Lokalsymptome:
  1. unregelmäßiger Puls, „generalities, pulse, irregular“;
  2. Warzen an den Fingern, „extremities, warts, fingers“;
  3. Schwindel an hochgelegenen Orten, „vertigo, high places“:

Alle drei neu berichteten Symptome: „sieht Tote“, „Träume vom Tod“ und „Atemnot bei Anstrengungen“ enthalten Lachesis in höherem, die beiden letzteren Symptome sogar im höchsten Grad als Zeichen, dass sich Lachesis bei diesen Symptomen klinisch besonders häufig bestätigt hat.

Weiterer Verlauf

Am 29.3.90 verabreichte ich Lachesis 200. Daraufhin kam es zu einer schlagartigen Besserung des Allgemeinbefindens, der Müdigkeit, der Belastbarkeit und des Schlafes. Die EKG-Kontrollen am 5.4. und am 19.4.90 zeigten einen stabilen Sinusrhythmus. Die Schlafqualität und die Leistungsfähigkeit hatten sich gebessert, und die Nervosität hatte abgenommen.

In der Folge wurde das neue Mittel Lachesis bis Dezember 1992 im Abstand von fünf bis sechs Wochen wiederholt – immer dann, wenn erneute Beschwerden auftraten, wobei die Potenz schrittweise auf M und XM erhöht wurde. Anlaß zur Wiederholung des Mittels waren das Wiederauftreten von Extrasystolen bzw. von Müdigkeit, Erschöpfung oder Atemnot. Der Sinusrhythmus wurde zunehmend stabiler, war anfangs noch unterbrochen von einzelnen Extrasystolen, später jedoch nicht mehr.

Ab Dezember 1992 fand die neuerliche Mittelgabe alle zwei bis drei Monate, ab Dezember 1994 alle vier bis sechs Monate statt. Am Krankheitsverlauf ließ sich eindeutig ablesen, dass sich die regelmäßige Mittelgabe alle fünf bis sechs Wochen eher störend auswirkte, dass dagegen ein längeres Zuwarten bis zur nächsten Verabreichung des Medikaments einen deutlich stabilisierenden Effekt auf den Organismus der Patientin ausübte.

Derzeit hat die Patientin einen stabilen Sinusrhythmus, verbunden mit allgemeinem Wohlbefinden und körperlicher Belastbarkeit. Bei der bislang letzten EKG-Kontrolle am 5.3.96 war der Sinusrhythmus unverändert stabil. Allerdings begannen zu dem Zeitpunkt wieder Beschwerden – die Müdigkeit, die Schlafstörung und eine beginnende depressive Verstimmung, die zuvor verschwunden waren. Deshalb wurde Lachesis sechs Monate nach der vorangegan-genen Dosis wiederholt.

Nachträglich hatte die Patientin übrigens ihre Familiensituation geschildert und eine gewisse Eifersucht gegen ihre Geschwister erwähnt. Diesen Umstand, der die Mittelwahl von Lachesis bestätigt, hatte sie mir ursprünglich in Abrede gestellt.

Nachbemerkung

Für mich war dieser Fall sehr lehrreich: Man sollte sich mit einer zwar erkennbaren, aber doch unbefriedigenden Wirkung nicht zufriedengeben, sondern jenes Mittel suchen, das dem Beschwerdebild des Patienten am ähnlichsten ist. Andererseits ist es ebenso wichtig, auch wenn man nur ein Simile gefunden hat, dieses dem Patienten wiederholt so oft zu verabreichen, bis aus der Wirkung eindeutig ablesbar ist, daß es sich nicht um das Simillimum handeln kann – z.B. wenn es unter dem verabreichten Mittel zu einer Krise kommt. Solch eine Krise ist oft eine besondere Chance innerhalb der Behandlung des Patienten. Lassen doch gerade die in solch einer Situation akut auftauchenden bzw. sich verstärkenden Symptome das Simillimum oft viel deutlicher erkennen, als es je sonst der Fall ist. Wie der homöopathische Arzt in dieser Situation vorgehen soll, erläutert Hahnemann in Paragraph 167, „Organon“ [1]:

„Entstehen (…) beim Gebrauche dieser zuerst angewendeten, unvollkommen homöopathischen Arznei Nebenbeschwerden von einiger Bedeutung, so (…) untersucht man den nun geänderten Krankheitszustand auf´s Neue und bringt den Rest der ursprünglichen Symptome mit den neu entstandenen in Verbindung, zur Aufzeichnung eines neuen Krankheitsbildes.“

Auch im hier geschilderten Fall haben sich die neu entstandenen Symptome als besonders hochwertig für die Mittelwahl erwiesen. Deshalb rangieren sie innerhalb der Hierarchisierung grundsätzlich weit oben.

Literatur

  1. Samuel Hahnemann: Organon der Heilkunst, 6. Auflage.

Zusammenfassung:

Eine 36-jährige Frau kam 1988 wegen idiopathischem Vorhofflimmern in meine Behandlung, da die allopathischer Therapie erfolglos geblieben war.

Unter dem erstgewählten Mittel Natrium muriatium zeigte im EKG jeweils nur eine kurzzeitige Umschaltung auf den Sinusrhythmus. Eine weitere Befragung der Patientin ergab den Hinweis auf eindeutige Eifersucht dieser Frau gegenüber Familienmitgliedern. Lachesis war ihr Mittel und ihr Herz stellte sich sofort auf einen stabilen, anhaltenden Sinusrhythmus um. Bestätigung durch laufende EKG-Kontrollen.

Summary:

In 1988 a 36 year old woman consulted me because of ideopathic atrial fibrillation. The medicaments of allopathic medicine did not work, therefore she tried homoeopathic treatment.

The first remedy Natrium muriaticum showed by EKG-control only some spikes of sinusrhythm.

The additional interrogation showed a clear situation of yelousy of this woman against her family members. Lachesis was her remedy and changed the atrial fibrillation immediately and contiuously, constantly controlled by EKG.

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