Falldarstellungen seiner Schüler

Zustand nach Operation bei Morbus Hirschsprung

Dr. Horst Hauptmann

Zusammenfassung

Das Megacolon congenitum – der sogenannte Morbus Hirschsprung – ist ein Syndrom, das seine Entstehung dem Fehlen des intramuralen Ganglienplexus im Sigmoidbereich verdankt. Eine schematische Zeichnung soll dies verdeutlichen.
Die operative Entfernung des aganglionären Darmanteils ist zwar unumgänglich, bessert jedoch nur zum Teil die gestörte Motilität und Dysbakterie des Dickdarms. In der Regel resultiert hieraus eine Dystrophie mit Verdauungsproblemen, insbesondere Blähbauch, Enterokolitiden, Appetitmangel sowie eine psychische Verhaltensstörung.
Es wird der Krankheitsverlauf eines an Megacolon congenitum leidenden Jungen ein- gehend geschildert, die ausführliche homöo- pathische Anamnese vorgetragen, die Repertorisation der wahlanzeigenden Symptome entwickelt und die Behandlung mit Hochpotenzeinzelgaben von Calcium carbonicum dargelegt.

Summary

Megacolon congenitum – the so-called Hirschsprung’s disease – is a Syndrome caused by a lack of the intramural ganglia of the plexusses in the sigmoideum area. A schematic illustration shall demonstrate this. Although the operative removal of the agenglionic part of the intestines is inevitable, it improves the disturbed motility and the disturbed bacterial flora of the large intestine-colonic only to some part. In general, the result is dystrophy with indigestion, in particular swollen abdomen, enterocolitis, anorexia and a psychic behaviour disorder.
In the following we will give a detailed description of the course of disease of megacolon congenitum in a boy and of the homoeopathic anamnesis; we will develop the repertorisation of the Symptoms indicating the choice and explain the treatment with single high-potency doses of calcium carbonate.
The positive effect will be revealed by means of a case control study and by photos taken before and during this therapy.

Krankheitsbild

Das Megacolon congenitum, der sogenannte Morbus Hirschsprung, ist ein Syndrom, das durch Fehlen des intramuralen Ganglienplexus* im Sigmoid*-Bereich entsteht. Damit ist in diesem Darmabschnitt keine Peristaltik* möglich und die Darmpassage erheblich erschwert. Bereits in den ersten Lebenswochen fällt eine zunehmende Obstipationsneigung, meist bei Umstellung von Muttermilch auf künstliche Milchernährung auf; der Stuhl wird oftmals über eine Woche lang nicht abgesetzt. Infolge der bakteriellen Zersetzung der gestauten Kotmassen kommt es zu vermehrter Gasbildung und zum Trommelbauch mit begleitender lleussymptomatik. Die Verdachtsdiagnose „Morbus Hirschsprung“ kann durch Röntgendiagnostik, neuerdings auch mittels Sonographie unschwer bestätigt werden: In der Kontrastdarstellung findet man ein enges Rektosigmoid*; oralwärts davon Dilatation und Hypertrophie des Darmes (Abb. 1).

Morbus Hirschsprung Abb. 1

Kann auch durch eine symptomatische Therapie mit Laxantien* und durch operative Entfernung des aganglionären* Darmanteils eine gewisse Regulierung des Stuhlgangs und ein eben ausreichendes Gedeihen erzielt werden, so resultiert doch eine Dystrophie* und eine charakteristische Allgemeinsymptomatik mit Appetitmangel, gelegentlichem Erbrechen, Flatulenz, mit Spielunlust, Reizbarkeit und Stimmungslabilität [1, 2].

Kasuistik

Der Junge Dieter, geboren im November 1980, wird am 16. Dezember 1982 in meiner Praxis vorgestellt wegen Gedeihstörung, erheblicher Verdauungsprobleme, auch nach „Operation des Hirschsprung“, und Neigung zu katarrhalischen Infekten. Da es sich um ein ernstes chronisches Krankheitsbild ohne derzeit akute Störung handelt, wird ein erneuter Termin zum 3.1.1983 zu einer eingehenden Anamnese und Untersuchung vereinbart. Die z.Z. Iaufende symptomatische Therapie mit Lactulose und Sab-simplex-Tropfen solle beibehalten werden. Die Arztberichte der Klinik werden angefordert.

Anamnese, Befund und bisheriger Verlauf

Familienanamnese: Beide Eltern gesund, ebenso die 3 1/2-jährige Schwester und der 4 Monate alte Bruder. Der Vater ist von Beruf Bäcker.

Eigenanamnese: Zweite Schwangerschaft, normal, Geburt spontan, Geburtsgewicht 3.210 g, Länge 49 cm, Kopfumfang 34 cm, Apgar 9 / 10 / 10.

Seine Entwicklung gestaltete sich von Anfang an schwierig, und der Knabe mußte mehrmals für längere Zeit in die Klinik, und zwar vom 11.11.80 – 11.2.81, vom 15.3. – 16.6.1981, vom 18.6. – 18.7.81, vom 11.1.1982 – 21.1.1982 und zuletzt vom 21.8. – 14.9.1982. Die Aufenthalte waren wegen ständig rezidivierender Enterokolitiden* erforderlich. Kurzgefaßt ergab sich folgender Verlauf: Die Behandlung erfolgte zunächst mit Dauerkatheter im Darm, Colistin, Sab simplex, Lactulose. Eine Mukoviszidose konnte mittels Schweißdiagramm ausgeschlossen werden, hingegen gelang bei der zweiten Röntgenkontrastdarstellung der Nachweis eines kurzen engen Segmentes im Sigmabereich*. Damit war die Diagnose „Megacolon congenitum Hirschsprung“ gesichert.

Die konservativen Maßnahmen reichten bald nicht mehr aus; immer wieder kam es zu erneuten enterokolitischen Schüben mit Schockerscheinungen, Anämie, Gedeih- und Entwicklungsstörung, so daß im März 1981 die Resektion des aganglionären Sigmaanteils durchgeführt wurde. Doch auch diese Maßnahme führte nur kurzfristig zu einer allgemeinen Besserung und Sanierung der Bauchbeschwerden. Letztendlich hatte sich der Zustand des Kindes weder durch diätetische Maßnahmen wie Heilnahrung, Darmrohr, noch durch Infusionen, medikamentöse Behandlung mit Colistin, Baypen, Ferrosanol, Ferrlecit i.v., Abführmittel usw. gebessert.

Die klinische Untersuchung zeigte einen blassen, traurig dreinschauenden blonden Bub mit schlankem Kopf und Hals, dünnen Ärmchen und Beinchen und einem riesigen aufgetriebenen Bauch. Tympanitischer Klopfschall, Leber und Milz nicht tastbar vergrößert, Thoraxorgane ohne Befund, mittelgroße reizlose Tonsillen, auffallend noch die halonierten Augen (Foto vom 23.1.1983, Abb. 2).

Morbus Hirschsprung Abb 2

Spontanbericht und gelenkter Bericht

Der Bauch sei besonders nach dem Essen vergrößert, und dann besonders der Oberbauch. Zur Zeit könne er einigermaßen Stuhlgang machen. Im Bauch sei oftmals lautes Gurgeln wahrnehmbar. Und die Blähungen gingen eigentlich nur in Bauchlage ab, auch bei Nacht. Heute vormittag habe Dieter einmal erbrochen.

Wenn er in einer Krise stecke, sei er appetitlos, ekelhaft, unausstehlich, weinerlich, böse; sonst aber angepaßt, rücksichtsvoll und keineswegs grob zu seinem jüngeren Bruder; kann gut alleine spielen. Er sei sehr intelligent, denke gut voraus, wisse gut Bescheid. Er sei eigentlich gut zu haben. In der schlechten Phase sei er auffallend apathisch.

Eher frostig, „kalter Frosch“, auch jetzt stelle ich beiderseits kalte Hände und Füße fest.
Bei schwülem, warmem Wetter bilde sich reichlich Stirnschweiß.
Er jammere viel, nachts könne er nicht ruhig liegen, decke sich auf und sei ständig in Bewegung.
Am Tag gurgele es im Bauch, doch nachts störe das noch mehr.
Er sei nicht wetterempfindlich, auf Sonne bekomme er leicht Sonnenbrand, gehe aber in die Sonne; auf Zugluft leicht Schnupfen oder Brustkatarrh, im März 1982 habe er eine Bronchitis gehabt. Er liebe die Wärme, die warme Einhüllung, das warme Bett, sei aber auch gerne an der frischen Luft.
Die Bauchlage bessere die Bauchbeschwerden.
Autofahren habe er gerne.

Der Appetit sei wechselnd. Mal habe Dieter sehr guten Appetit, dann wieder sei der Bauch so voll, daß er nichts essen könne.
Der Durst sei immer groß, er trinke gerne Karamalz, immer warm. Milch nur mit Kaba, aber nicht pur; die Milch wäre schon immer ein Problem.
Verlangen nach Käse, Joghurt, Butterbrot, Nudeln in jeder Form, Würstchen, dagegen Fleisch weniger. Bevorzugt Reis, Kartoffeln manchmal. Gerne Essiggurken, allerdings habe er einmal mit Erbrechen reagiert. Scharf gewürzt oder salzig möge er weniger, doch Suppe, auch mit Maggi, jederzeit. Er möge kein fettes Fleisch. Obst wechselnd. Fisch als Fischstäbchen, sonst weniger, Eier gerne, in jeder Form. Aus Geräuchertem mache er sich nichts, Zwiebeln esse er mit. Auf Mohngebäck komme es zu reichlichem Stuhlgang.
Er trinke gerne etwas zum Essen.

Manchmal jammere er nachts im Bett vor Schmerzen, meist nach Mitternacht von 0 Uhr bis in die Frühe.
Die üblichen Impfungen wurden normal vertragen.
Enge Kleidung könne er nicht haben, das „geht auf den Kreislauf“. Enge am Hals könne er ertragen.
Er bekomme leicht blaue Flecken an den Beinen.
Er könne gut allein sein, sei aber auch gerne in Gesellschaft. Bei Kummer lasse er sich trösten, Eifersucht kenne er nicht.
Es bestehe eine gewisse Angst vor großen Hunden, ein schlechtes Erlebnis habe er aber nicht gehabt. Angst vor Gewitter habe mehr die Mutter, weniger der Bub. Eine Menschenmenge mache nichts. Dieter könne ganz schön zornig werden, wenn er seinen Willen nicht durchsetzen könne. Als ich die Mutter abschließend nach dem liebsten Zug ihres Kindes fragte, antwortet sie lächelnd, „daß er so brav ist“.

Hierarchisation und Repertorisation

  1. auffallende, sonderliche Symptome nach § 153 Organon:
  1. vergrößerter Bauch bei Kindern, „abdomen, enlarged, children“: eine Rubrik mit Punkt;
  2. Abmagerung speziell der Extremitäten, „extremities, emaciation“;
  1. Allgemeinsymtome:
  1. frostige Natur, „generalities, heat, vital, lack of“;
  2. Milch verschlechtert, „generalities, food, milk agg.“;
  3. Abneigung gegen Fleisch, gegen Fett, „stomach, aversion“: „meat“, „fats and rich food“;
  4. Verlangen nach Eiern, „stomach, desires, eggs“;
  5. helle Komplexion, „generalities, complexion, fair, blonde, light“ (SR);
  1. Lokalsymptome:
  1. halonierte Augen, „face, discoloration, bluish, eyes, circles around“.

Diese Rubriken weisen eindeutig auf Calcium carbonicum als ähnlichstes Mittel hin, gefolgt von Lycopodium, Silicea, Sepia und Sulfur.

Die Geistes- und Gemütssymptome, weitere Allgemeinsymptome, sowie die zahlreichen Symptome im Bauchraum wurden zur Arzneimittelwahl nicht herangezogen, da sie zum größten Teil logisch erscheinen und daher als zweitrangig figurieren. Andererseits bestätigen sie größtenteils das Mittel. Die Äußerung der Mutter, ihr Bub sei trotz der schweren Krankheit eigentlich brav, weist allerdings deutlich auf Calcium carbonicum hin.

Verlauf

Am 13.1.1983
erhielt Dieter die erste Gabe Calcium carbonicum C 30 (jeweils DHU), fünf Globuli auf die Zunge.

18.1.1983:
Heute morgen einige Male erbrochen, geblähter Bauch, Übelkeit, Blässe.
Ich empfehle abzuwarten.

8.2.1983:
Heute sei zum erstenmal ein weicher Stuhl abgesetzt worden, doch gehe die Hose nicht zu. Die Eltern haben gestern Lactulose und Sab simplex abgesetzt.
Wieder die Empfehlung, weiter zu warten.
Dritte Polio-Sabin-Impfung.

4.3.1983:
Befinden gut, Stuhlgang regelmäßig. Bauch schon kleiner. Der Appetit sei sehr gut, er verlange jeden Tag ein Ei. Auch sei er aktiver.

14.6.1983:
Zwischendurch sei es „einigermaßen gegangen“. Kleine Stuhlkrisen seien von selbst wieder vergangen.

1.8.1983:
Seit längerer Zeit produziere Dieter weniger Stuhlgang, der Bauch sei wieder größer. Er habe einen familiären grippalen Infekt erwischt und darauf mit säuerlichem Erbrechen nach dem Essen, auch nach Tee reagiert. Gestern habe die Mutter wegen Fieber ein Benuron-Zäpfchen – noch vom vorherigen Arzt – verabreicht.

Bei der Untersuchung ist der Bub etwas kritisch, jammert, aber ist rasch beruhigt. Bauch mäßig gewölbt, weich. Leberrand tastbar, sonstiger Befund unauffällig. Er sei auch nicht so fidel wie sonst und falle öfters hin. Gewicht: 13,9 kg (40. Perzentile*).

Er erhält wiederum fünf Globuli Calcium carbonicum C 200.

31.8.1983:
Seit 1 Woche verstopft, stört aber wenig; der Bauch ist nicht wesentlich vergrößert. Er sei wieder sehr aktiv und frage viel „Warum…?“.

Die Mindeswirkungsdauer des Mittels ist noch nicht abgelaufen, es geht dem Patienten gut, deshalb erhält er noch keine neue Arznei.

26.9.1983:
Es bestehen wechselnde Beschwerden mit dem Bauch, und heute sei ein blutiger Urin aufgefallen, dabei keine Harnsperre, jedoch Schmerzen nach der Miktion. Makrohämaturie tropfenweise. Seit 14 Tagen Stuhlverhaltung oder plötzlicher Durchfall wie Wasser. Dabei ist der Bub ganz freundlich und gut gelaunt. Er plappert ständig vor sich hin.

Großer gespannter Bauch, geringgradig rote Penisspitze, sonst kein pathologischer Befund. Im Urinstix (Combur 8) finden sich: Eiweiß 500 mg / dl, Blut einfach positiv, Hämoglobin einfach positiv, ca. 250 Erythrozyten in der Zählkammer. Im Sediment massenhaft frische Erythrozyten, vermehrt Plattenepithelien und vermehrt Leukozyten.

Ich verabreiche einen Globulus Calcium carbonicum C 10.000.

5.10.1983:
Befinden wieder gut. Urinstix (Combur 8): negativ, Urinsediment: vereinzelt Erythrozyten und Leukozyten, Plattenepithelien, Schleim.

10.10.1983:
Die Winde gehen gut ab, der Stuhlgang ist noch etwas verzögert, Bauch relativ dünn.

29.11.1983:
Der Bauch sei manchmal groß, besser dann durch Stuhlgang. Keine Bauchschmerzen und kein Gurgeln im Bauch mehr (Abb. 3 und 4).

Morbus Hirschsprung Abb. 3

9.1.1984:
Bis vor 1 Woche habe Dieter geregelten Stuhlgang gehabt, ein- bis zweimal täglich, doch jetzt mit dem Husten erneute Verstopfung und geblähter Bauch, jedoch lange nicht so schlimm wie früher. Das Allgemeinbefinden sei nicht gestört.

Nun folgt die zweite Dosis Calcium carbonicum C 10.000, wiederum einen Globulus.

6. 2. 1984:
Zur Zeit schwergehender Stuhlgang. Das Befinden sei „Spitze“.

16. 7.1984:
Zwischendurch sind keine Störungen aufgetreten. Aus Dieter ist – und das kann man wirklich bestätigen – ein pfiffiger Bub geworden, der in den Kindergarten geht und dort ausgezeichnet zurecht kommt. Sein Gewicht beträgt nunmehr 17,0 kg (60. Perzentile*). Die klinische Untersuchung ergab keinen pathologischen Befund mehr. Gegenüber seinem früheren Erscheinungsbild hat sich der Bub sehr gut entwickelt.

Morbus Hirschsprung Abb. 5

20.2.1986:
In der letzten Zeit hin und wieder Bauchweh, meist am Sonntag, wenn’s Eis gegeben hat oder vom Essen im Gasthaus. Wie früher bekommt er dann Schmerzen vornehmlich im Oberbauch und muß sich zusammenkrümmen. Dann etwas geblähter Bauch.

Er erhält jetzt die dritte Dosis Calcium carbonicum C 10.000, nochmals einen Globulus.

27. 2. 1986:
Der Bub habe ab sofort nicht mehr geklagt, die Winde gehen jetzt ab.

Literatur:

[1] Dieckhoff, J.: Lehrbuch der Pädiatrie. Leipzig 1986.
[2] Lassrich, Trevot, Schäfer: Pädiatrischer Röntgenatlas. Stuttgart 1955.

Glossar:

Ganglienplexus,
intramural
Ansammlung von Nervenzellen in einer Wand, hier in der Darmwand
Dystrophie
mangelhaftes Wachstum durch Ernährungsstörung
Enterocolitis
Entzündung von Dünn- und Dickdarm gleichzeitig
Ileus
Darmverschluß
Laxantien
Mittel zum Weichmachen des Stuhls
Peristaltik
natürliche Bewegung der Därme
Perzentile,
40. bzw. 60.
Das Gewicht des Kindes bewegt sich im statistischen Durchschnitt innerhalb 40 bzw. 60 von 100 Kindern seiner Altersstufe.
Andere Interpretation: 40 bzw. 60 % der gleichaltrigen Kinder haben ein geringeres Körpergewicht als er.
Rektosigmoid
letzter Dickdarmabschnitt, bestehend aus Sigmoid* und Enddarm
Sigmoid,
Sigmabereich
S-förmiger Abschnitt des Dickdarms
No Comments

Post a Comment