Falldarstellungen seiner Schüler

Stevens-Johnson-Syndrom

Dr. Dario Spinedi

1980-81 arbeitete ich auf der pädiatrischen Abteilung eines größeren Spitals. Der Oberarzt war durch meine begeisterten Erzählungen über Homöopathie und deren große Möglichkeiten etwas neugierig geworden. Wir, der Oberarzt und ich, warteten nun auf die gute Gelegenheit: der Oberarzt, um die Wahrheit dieser Aussagen zu überprüfen und ich, um sie zu beweisen.

Eines Abends um 19 Uhr wird ein elfjähriger Bub notfallmäßig eingewiesen. Diagnose: Stevens-Johnson-Syndrom (Erythema exsudativum multiforme majus). Es handelt sich in diesem Fall um eine allergische Reaktion auf Sulfonamide.

Das klinische Bild:

  • ausgeprägte Stomatitis mit Geschwüren an Wangenschleimhaut, Gaumen, Zunge, Pharynx
  • Urethritis
  • Bronchitis
  • Konjunktivitis
  • bläschenförmiger Hautausschlag über den ganzen Körper verteilt
  • Fieber 38,5 Grad C.

Der dort tätige Professor veranlaßt sofort eine Infusion, serologische Untersuchung und antipyretische Behandlung.

Beim Betreten des Zimmers strömt einem ein ekelhafter Geruch entgegen – ein Geruch, der aus dem Munde des Knaben kommt; nur mit Mühe kann ich die Übelkeit unterdrücken. Ein Blick in den Mund: tiefe Zahneindrücke in der landkartenartig veränderten Zunge und ein reichlicher, schleimiger Speichel – und in mir leuchten die Sätze von Nash [1] auf:

„Wie bei Antimonium crudum, so wird auch bei Mercurius das Leitsymptom im Mund beobachtet oder, wie ich viel lieber sagen möchte, die Leitsymptome:

  • das Zahnfleisch ist geschwollen, schwammig, zuweilend blutend;
  • die Zunge ist ebenfalls geschwollen, schlaff, zeigt die Eindrücke der Zähne, gewöhnlich feucht, trotzdem mit heftigem Durst;
  • der ganze Mund ist feucht, mit Speichelfluß, der wie Seifenschmiere oder zähe ist, und
  • der Geruch aus dem Mund ist sehr widerlich; Sie können ihn durch das ganze Zimmer riechen.
    Kein Mittel hat diesen Zustand im gleichen Grade.“

 

Dasselbe Ergebnis, Mercurius solubilis, ergibt die Hierarchisation und die Repertorisation:

  1. auffallende, sonderliche Zeichen und Symptome nach § 153 Organon:
  1. Landkartenzunge, „mouth, mapped tongue“:
  2. Zunge mit Zahneindrücken, „mouth, indented, tongue“;
  3. ekelerregender Mundgeruch, „mouth, odor, sickening“;
  1. Allgemeinsymptome:
  1. schleimiger Speichel, „mouth, saliva, slimy“ und „mouth, saliva, tenacious“;
  1. Lokalsymptome:
  1. Geschwüre an Wangenschleimhaut, Gaumen, Zunge und Pharynx, „mouth, ulcers“, „mouth, ulcers, palate“, „mouth, ulcers,tongue“ und „throat, ulcers“;
  2. bläschenförmiger Hautausschlag, „skin, eruption, vesicular“.

Nash fährt an derselben Stelle [1] fort:

„Wenn eine Bestätigung der Wahrheit des ,Similia´ verlangt würde, so sollte die Heilkraft des Mercurius in den Fällen, wo er durch diese Symptome indiziert ist, befriedigen. (…) Wenn jemand der Wirksamkeit sehr hoher Potenzen skeptisch gegenübersteht, so fordere ich ihn zu einem Versuch gerade in einem solchen Falle auf“.

 

Ich bitte den Oberarzt, nichts therapeutisch zu unternehmen, und im Einverständnis mit den Eltern wage ich es homöopathisch.

 

Ich renne nach Hause bei heftigem Regen. In der Eile hatte ich vergessen, den weißen Arztkittel auszuziehen; die Passanten schauen den von Kopf bis Fuß Nassen etwas neugierig an. Aber mein Herz klopft vor Freude. Es ist ein klassischer Mercur-Fall, und endlich darf ich im Spital dem Oberarzt die Wirkung der Homöopathie demonstrieren.

 

Noch immer rennend kehre ich zum Spital zurück – mit dem Fläschchen von Madame Schmidt „Mercurius M“. Tropfnaß stürme ich ins Zimmer und lasse einen Globulus auf die Zunge des Patienten rollen.

 

Verlauf

Nach zwei Stunden:

Fieber nur noch 37,5o C, seitens der Urethritis hat das Brennen aufgehört, das lästige Hüsteln läßt nach.

 

Inzwischen hat der Professor die Cortison-Therapie verordnet, falls das Fieber wieder steigen sollte. Nur die Kochsalz-Infusion hängt. Oberarzt und Krankenschwester nehmen das Risiko auf sich und verlassen sich auf meine Versicherung, daß der Fall in Ordnung kommen wird.

 

Am nächsten Tag:

Schwerste Halsschmerzen mit Geschwüren besonders ausgeprägt im Pharynx. Der Patient kann nicht essen. Ernährung per Infusion. Aber kein Fieber, daher kein Cortison.

 

Zweiter Tag:

Halsschmerzen viel weniger, aber heftigste Schmerzen und Geschwüre ausgedehnt im Mund; der Patient kann nicht essen. Kein Fieber, daher kein Cortison.

Bei der Visite wage ich die Äußerung: „Merkwürdig, die Krankheit ging von der Lunge nach oben in den Pharynx, und jetzt ist es im Mund besonders ausgeprägt.“ [2] Der Professor erwidert: „Ihrer Aussage gemäß sollte morgen die Krankheit im Gesicht sein“ (allgemeines Lächeln). Kein Fieber, daher kein Cortison.

 

Visite am dritten Tag:

Im Mund hat der Schmerz deutlich nachgelassen. Befund: Ulcerationen und Blutungen an den Lippen und Verkrustungen und Geschwüre um die Lippen herum. Skeptisch fragend schaut mich der Professor an. Verstecktes Schmunzeln von Krankenschwester und Oberarzt. Kein Fieber.

 

Am fünften Tag:

kann der Junge wieder Essen zu sich nehmen. Allgemeinzustand gut.

 

Am sechsten Tag:

Entlassung.

 

Kommentar des Professors dem Oberarzt gegenüber:

„Es ist das erste Mal, daß ich bei einem so schweren Stevens-Johnson-Syndrom ohne Cortison durchgekommen bin und dabei einen so schnellen Heilungsverlauf beobachtet habe.“

Der Oberarzt begibt sich kurz darauf in homöopathische Behandlung.

 

Anmerkungen

  1. E. B. Nash: Leitsymptome in der homöopathischen Therapie, Heidelberg, 12. Aufl. 1983, Seite 20 f.
  2. Die erste Hering´sche Regel* besagt: Ein Verlauf der Symptome von innen nach außen ist ein wichtiges Anzeichen für eine sich vollziehende Heilung.
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