Prämenstruelles Syndrom und Angstzustände
Ines Diemer
Im Juli 1991 sucht mich eine 37-jährige Frau wegen starker prämenstrueller Störungen auf. Die Patientin ist verheiratet, hat keine Kinder und arbeitet als Krankenpflegerin in einem Altersheim sowie in der Hauspflege. Sie ist dunkelhaarig, von mittelgroßer Statur, wirkt sportlich und fährt einen Motorroller, eine Vespa. Vom Wesen her wirkt sie mild und freundlich. Sie ist traurig wegen unerfüllten Kinderwunsches, denn der Ehemann hat sich unterbinden lassen.
Ihre Störungen setzen jeweils schon nach der Ovulation, zwei Wochen vor der Periode, ein und dauern bis zur Menstruation. Es handelt sich dabei um folgende Beschwerden:
- Intestinalbeschwerden:
Extreme Blähungen ohne Windabgang sowie Schmerzen im rechten Unterbauch. Die einzig erträgliche Position ist dann die Rückenlage; die Beschwerden werden etwas gelindert, wenn der Ehemann ihren Bauch massiert.
- Psychische Veränderungen:
Die Patientin leidet dann an einer Depression und an Ängsten, welche sich nachts und beim Alleinsein verschlechtern; sie verliert ihr Selbstvertrauen, wird entscheidungsunfähig und kann das Haus z.B. für Einkäufe nicht mehr verlassen. Sie hat das Gefühl, nicht mehr sie selbst zu sein. In dieser Zeit muß der Ehemann alles erledigen.
Einige Tage vor der Menstruation zeigt sie folgendes Verhalten: Will er das Haus verlassen, um zur Arbeit zu gehen, packt und umklammert sie ihn mit großer Kraft und krallt ihre Fingernägel in seine Oberarme, um zu verhindern, daß er weggeht. Dabei zittert sie am ganzen Leibe, kann nicht mehr denken und ist benebelt.
- Schlafstörungen:
In der Zeit vor der Periode bestehen ferner Einschlafstörungen, und zwar aus Angst. Das Licht muß die ganze Nacht brennen. Ist der Ehemann in dieser Zeit auf Reisen, bleibt die Patientin die ganze Nacht auf und läuft voller Angst in der Wohnung herum, bis sie gänzlich erschöpft einschläft.
Anamnestisch litt die Patientin unter rezidivierenden Erkältungen, die erst nach einer Tonsillektomie mit 12 Jahren aufhörten. Mit 8 Jahren hatte sie eine Vaginitis* mit starkem Brennen, auf diese Erkrankung reagierte sie damals mit großer Angst. Bis 1986 bestand eine Harninkontinenz vor der Periode.
Aus der Familienanamnese ist erwähnenswert:
Der Vater ist Alkoholiker, nach Verlust eines Armes wurde er Invalide.
An Allgemeinsymptomen gibt die Patientin an:
Sie leidet unter Höhenschwindel.
Hitze und Sonne machen sie schlapp.
Etwas, was Schmerzen machen müßte, z.B. eine Wunde, tut ihr meist überhaupt nicht weh.
Sie hat Verlangen nach Brot, nach Zwiebeln und nach sauren Gurken.
Sie hat keinen Durst, ja sogar eine Abneigung, Wasser zu trinken.
Brot sowie Teigwaren aus Vollkorn machen ihr Blähungen.
Hierarchisation und Repertorisation
- auffallende, sonderliche Zeichen und Symptome nach § 153 Organon:
- Beschwerden, die normalerweise schmerzen, sind schmerzlos, „generalities, painlessness of complaints usually painful“;/li>
- gut beobachtete Geistes- und Gemütssymptome:
- klammert sich an ihren Mann, „mind, clinging to persons or furniture“;
- Verlangen nach Gesellschaft, wenn sie allein ist, geht es ihr schlechter, „mind, company, desire for, alone, while agg.“;
- Verlangen nach Gesellschaft in der Nacht, „mind, company, desire for, night“;
- Furcht in der Dunkelheit, Verlangen nach Licht, „mind, fear, dark“, „mind, light, desire for“;
- fühlt sich ganz hilflos, „mind, helplessness, feeling of“;/li>
- Depression vor der Periode, „mind, sadness, menses, before“;
- Allgemeinsymptome:
- Abneigung gegenüber Wasser, „stomach, aversions, water“;
- durstlos, „stomach, thirstlessness“;
- Schlaflosigkeit bei Dunkelheit, „sleeplessness, dark room“.
Verlauf
Am 5.7.91 erhielt die Patientin eine Dosis Stramonium M (jeweils Schmidt-Nagel).
Daraufhin ihr Bericht: Die Blähungen und psychische Störungen vor der Menstruation wurden rasch besser. Sie hat viel geweint, ist aber ausgeglichener. Sie kann jetzt ohne Licht einschlafen, selbst dann, wenn der Ehemann auf Reisen ist. Das Anklammern ist nicht mehr vorgekommen. Die Mensintervalle wurden kürzer: Der Zyklus, der bislang 33 Tage dauerte, normalisierte sich jetzt auf 28 Tage.
In der Folgezeit brauchte die Patientin etwa ein- bis dreimal im Jahr eine weitere Dosis Stramonium, da sich ihr prämenstruelles Syndrom jeweils nach einigen Monaten wieder mäßig verschlechterte, wobei folgende Symptome auftraten: Kopfspannung oder -leere, Apathie oder Nervosität, Schwindel, ernstere Stimmung, geringere Belastbarkeit. Die auffälligen psychischen Störungen und Bauchbeschwerden sind jedoch nie wieder aufgetreten.
Verabreichte Arzneigaben(Schmidt-Nagel)
1991, Juli: Stramonium M
1992, Januar: Stramonium M
1993, Mai: Stramonium M
Juli: Stramonium M
Oktober: Stramonium XM
1994, Mai: Stramonium M
September: Stramonium XM
1995, Mai: Stramonium XM
November: Stramonium XM
Die jeweils lange Dauer einer befriedigenden Wirkung der Mittel veranlaßte mich, ein- und diesselbe Potenzhöhe mehrfach zu verabreichen und nicht – wie in den meisten Fällen bewährt – nur zweimal nacheinander. Die wiederholt nötigen Gaben lassen allerdings vermuten, daß zur Heilung entweder noch die nächsthöhere Potenzstufe, die CM, nötig ist oder daß künftig ein anderes Mittel angezeigt sein könnte, welches sich bis jetzt noch nicht deutlich genug darstellt.
Nachbemerkung
Stramonium ist ein Mittel, das ich öfters bei chronischen Problemen mit Erfolg verschrieben habe, u.a. bei unruhigen und aggressiven Kindern.
Zwei meiner Stramonium-Patienten zeigten ein auffälliges Verhalten: Mit schöner Regelmäßigkeit riefen sie mich 1-2 Tage vor meinen Ferien wegen einer Bagatelle an, ohne daß sie wissen konnten, daß ich kurz vor der Abreise stand. Intuitiv schienen sie zu spüren, daß die Person, an die sie sich sonst seelisch „anklammern“ („clinging“) konnten, sie verlassen würde. Im Fall einer HIV-positiven Frau, die seit 11 Jahren symptomfrei ist, aber unter Ängsten leidet, hat mich dieses Verhalten nach zweijähriger Suche zum richtigen Mittel geführt. Ob man sich der Interpretation anschließen will, diese Patienten hätten meine Reiseabsichten intuitiv geahnt, mag jedem Leser selbst überlassen bleiben. Jedenfalls ist Stramonium ein bekanntes Mittel für Menschen mit hellseherischen Fähigkeiten: „mind, clairvoyance“ und „mind, prophesying“.
Ins Glossar
- Vaginitis
- Scheidenentzündung
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