Kann man wirklich ernsthaft und mit Erfolg „Reine Homöopathie“ praktizieren?
von J. Künzli von Fimelsberg
Zugleich ein Beitrag zur Hochpotenzfrage
In der jetzigen Zeit soll niemand schweigen oder nachgeben, man muß reden und sich rühren, nicht um zu überreden, sondern um der Wahrheit das Wort zu reden.
GOETHE
Im Zusammenhang mit meinem Aufsatz „Die Heilkunst Hahnemanns“ ist mir gegenüber verschiedentlich die Meinung geäußert worden, ob man strikt nach den Grundsätzen, die ich darin vertrete, auch wirklich mit Erfolg Homöopathie praktizieren könne. Daß dies sehr gut möglich ist, möchte ich an Hand dreier einfacher Fälle aus der täglichen Praxis illustrieren. Die Arbeit ist zugleich ein kleiner Beitrag zur Hochpotenzfrage.
Soweit mir die neuere deutsche Literatur auf unserm Gebiet bekannt ist, ist die Einstellung der Hochpotenzfrage gegenüber recht kritisch, ja man scheint die Anhänger hoher Potenzen direkt als Schwindler anzusehen — was man ihnen freilich nicht direkt ins Gesicht sagt. Diese Einstellung rührt wohl nur davon her, daß man sich nicht vorstellen kann, daß über ca. C 12 noch Arzneisubstanz vorhanden sei. In der Tat ist so etwas unmöglich. Die Anhänger der Hochpotenzen behaupten solches aber auch nicht und haben es nie behauptet. HAHNEMANN sagt, es handle sich bei den höheren Potenzen um befreite Energie, um pure Kraft (z. B. R.A.M.L. 5: 123, ebenso z. B. MORDVINOFF in Stapfs Arch. 10, 3: 77), er nennt sie ausdrücklich Potenzen, Dynamisationen, nicht Verdünnungen (speziell § 269 „Organon“ 6. S. auch meine Arbeit „Die Heilkunst Hahnemanns). Der Nachweis dieser Energien ist bis heute nur klinisch möglich am lebenden Objekt (Mensch und Tier). Die nicht-klinischen Nachweise der Wirksamkeit höherer Potenzen — etwa von BOYD, BOIRON-GAY etc. — halte ich für noch kein sicheres Gut, da sie der Bestätigung durch andere, unabhängige Untersucher bisher ermangeln. ROBILLARD-DAUDEL (Health through Homoeopathy, March 1949, S. 55) und LEESER (Arch. Homöop. 1) haben nur niedere Verdünnungen geprüft. Vielleicht führen diese Forschungen ja etwas weiter als die seinerzeitigen mikroskopischen Untersuchungen MAYERHOFERS und die spätern spektralanalytischen Nachweise. Aber all dies heißt rein nichts. Damit müssen wir uns vorderhand abfinden.
In diesem Sinne möchte ich folgende drei Fälle, wie sie der Hochpotenzanhänger täglich erlebt, etwas ausführlicher mit allen Überlegungen, die man sich bei einer solchen Kur macht, wiedergeben, um auch dem Ungläubigen das Ganze möglichst verständlich zu machen — an etwas zu glauben, das man nicht versteht, wo man nicht nachkommt, kann man freilich mit Recht von einem wissenschaftlich gebildeten Mediziner schwerlich verlangen — und um auch ihn vielleicht einmal zu einem Versuch zu veranlassen.
Fall 1: Fall eines chronischen Winterhustens — er kommt regelmäßig im Herbst beim Kalt-werden und vergeht erst im Frühling wieder, wenn der Schnee weg ist. Ich hatte im Winter 1947/48 schon Therapieversuche mit Rumex, Hepar, Spongia gemacht, wohl Besserungen erzielt, aber nie vollständiges Aufhören. Ich habe oft und oft überlegt, beobachtet und studiert: „was mag wohl das Hauptmittel sein, das schlagartig mit allem Schluß macht?“. Im November 1948 ging es richtig wieder los. Ich nahm nun zuerst nochmals einen genauen Status auf, um zu sehen, was gegenüber dem Vorjahr anders sei, z. T. aber auch, um Verdachtsmomente, die ich während meines häufigen Überdenkens des Falls gefaßt hatte, in irgend einer Richtung bestätigt zu finden. Speziell etwas interessierte mich: Im Vorjahrshusten beobachtete ich einmal, daß Betreffendebei Anwesenheit fremder Personen (anläßlich der Durchleuchtung — die übrigens keine Anhaltspunkte für Tbc. ergab) sozusagen ununterbrochen hustete, räusperte und hüstelte.
Ich hatte damals gedacht, Betreffende wolle vielleicht irgendwie das Mitleid oder Interesse der Anwesenden damit wecken, hatte aber immerhin im Repertorium von KENT nachgeschlagen, welche Arzneien dies eigentümliche, sehr auffallende Zeichen hätten und stellte da in der Rubrik Cough-Strangers, child coughs at sight of.. (S. 806) (Husten – Fremder, Kind hustet in Gegenwart..): Ambr., Ars., Bar. c, Phos. im kleinsten Grad — außer Ars. im mittleren — fest.
Ambr. und Ars. schienen mir wirklich absolut nicht auf die Patientin zu passen. Und Bar. c. ist im Geiste ja schon zurückgeblieben, aber scheu, nicht leutselig wie Betreffende (s. Symptomatologie), ferner auch meist körperlich zurückgeblieben. Immerhin ist Bar. c. nicht ganz zu vernachlässigen. Von Phos. hatte ich eigentlich ein anderes Bild aus meinen Studien — Phos. ist aber doch im Gedächtnis zu behalten, man hat ja aus den Arzneimittellehren nicht immer gerade das typische Bild! Dies Phos. vergaß ich nicht mehr, und mein Hauptverdacht bei der späteren Untersuchung war: Sind da etwa noch andere typische Phos.- (oder Bar. c.-) Zeichen?
Nun die Symptomatologie im November 1948:
- , 26jährig, groß, beinahe etwas Neigung zu Fettsucht.
- Lebhaft, speziell um fremde Leute herum.
- Kann keinen Moment ruhig sein. Immer in Bewegung, immer muß „etwas laufen“.
- Schwatzhaft
- Kindliches, gutmütiges Gemüt, man kann fast von „arrièration mentale“ sprechen. Begreift nur einfache Dinge, höhere Ideen sind ihr absolut fremd — solche Sachen interessieren sie auch gar nicht. Geistige Tiefe fehlt auffallend.
- Bei der Konversation hört sie zu, fragt man sie aber etwas diesbezügliches, so kann sie sehr oft nicht antworten, da sie ganz geistesabwesend war. Zeitweilig freilich ist sie wieder ganz bei der Sache.
Auch dies Symptom wurde mir erst recht deutlich, als ich per Zufall einmal in WHEELERS „Int. to the princ. and pract. of Hom.“ das Kapitel „Phosphor“ las.
- Zeitweilig ausgesprochene Nymphomanie.
- Fremde Personen machen ihr immer einen auffallenden Eindruck — in solcher Anwesenheit ist sie ganz verwandelt, da ist sie nie geistesabwesend.
- Hat Lob sehr gern.
- Kann bei ernsten Sachen ganz kindlich-dumm lachen.
- Entsprechend ihrer Kindlichkeit hat sie absolut keine Selbstbeobachtungsgabe und läßt sich leicht suggestiv beeinflussen, so daß man in der Fragestellung höchst vorsichtig sein muß (§87 Org. 6), um nicht ein ganz falsches Bild zu erhalten. Größeren Wert hat in so einem Fall die ruhige Beobachtung — womöglich über einen längeren Zeitraum — als ein knappes Interrogatorium.
- Oft Kopfkongestionen.
- An einigen Zähnen deutliche Paradentose-Erscheinungen.
- Appetit meist groß, abends größer als morgens. Ißt sehr hastig, schlingt alles nur so herunter.
- Süßes nicht gern, zuckert Tee aber immer sehr stark.
- Verlangen nach Salaten (=Saures).
- Verlangen nach Pikantem: Würste, speziell Salami.
- Salzt fast immer nach.
Der Husten:
- Meist morgens ca. 5 Uhr ganze Anfälle.
- Ebenfalls abends nach dem ins Bett gehen, oft bis Mitternacht.
- Am Tage hustet sie morgens mehr als nachmittags.
- Die Hustenanfälle bestehen meist in trockenem Husten, der Husten vormittags ist begleitet von
- vielem Räuspern.
- Es kann vorkommen, daß die Stimme morgens leicht belegt ist — Sekret im Larynx.
- Er beginnt jeweils beim Kalt-werden im Oktober-November, wenn der erste Schnee fällt. Auch später im Winter bei Kälteeinbrüchen ist er immer stärker. War er vorher relativ unauffallend geworden, konnte er zu so einer Zeit von neuem aufflammen.
- Dies Aufflammen begann sozusagen stets mit Nasenkatarrh (Schnupfen mit Gefühl von allgemeinem Unwohlsein, Kopfdruck, sogar Fiebergefühl), der dann aber rasch nach der Luftröhre übergriff.
- Verschlimmernd wirkt auch deutlich vor allem Wäsche waschen — dies war sie selber aber nicht im Stande anzugeben, sondern es war nur durch eingehende Beobachtung meinerseits, und nachdem ich schon den Phos.-Verdacht hatte, herauszubringen.
- Husten angeblich von Kitzel im Halsgrübchen.
- Oft „tote Finger“.
Thorax: Perkutorisch o. B. Einige bronchitische R.G. Hilusgegend beidseits.
In diesem Krankheitsbild wird der Kenner sehr viele schöne Phosphor-Symptome, wirklich c h a r a k t e r i s t i s c h e (§ 153 Org. 6 und KENTS Philosophy) Symptome entdeckt haben, während für Bar. c. nirgends ein großes Echo zu finden ist.
Deutlich für Phos. sprechen die Symptome:
3: Die konstante Unruhe,
6: Zeitweilig geistesabwesend, zeitweilig aber wieder ganz bei der Sache,
7: Die Nymphomanie,
10: Das kindlich-dumme Lachen zu ernsten Sachen,
17: Das Verlangen nach Wurst, speziell Salami, d. h. gut gewürzt, geschmackreich,
18: Das Salzverlangen,
23: Das morgendliche viele Räuspern,
25: Der Beginn des Hustens und die jeweiligen Aggravationen beim Einbruch kalter, feuchter Witterung, wobei der Hauptakzent auf „kalt“ liegt.
27: Die Aggravation des Hustens, wenn sie die Wäsche macht — man hat ja Phos. schon „washerwomen’sremedy“ genannt (lese Phos. z.B.bei CLARKE, J. H.: Dict. of p. Mat. med. oder in WHEELER: I. p. p. Hom.).
Schauen wir nun noch etwas die übrigen Symptome an:
Patientin ist groß, was zu Phos. passen würde — aber sie neigt eher zu Obesitas — das ist weniger bekannt für Phos. Es heißt also immer etwas Achtung bei Verschreibung nach dem konstitutionellen Eindruck, den der Patient macht. Man kann da unbedingt hereinfallen, wenn man meint, man könne sich ganz auf das Äußere verlassen, ohne die Symptomatologie gewissenhaft erforscht zu haben. Gerade Calc. c. wird auch oft als Mittel für Fette angesehen, in Tat und Wahrheit ist es aber auch oft bei Mageren indiziert.
2: Die Lebhaftigkeit — paßt zu Phos. Man denkt aber eher an irritable, heftige Leute dabei, was hier auch wieder absolut nicht der Fall ist.
4: Als Schwatzhaftigkeitsmittel sind hauptsächlich Hyos., Lach., und Stram. bekannt. Schlagen wir aber das Repertorium auf (Mind — Loquacity S. 63), so finden wir eine ganz große Rubrik — das ist also ein gar nicht so wertvolles Symptom. Phos: kommt hier doch immerhin im 2. Grade vor .
5: Für dieses Symptom kann ich in KENTS Repertorium keine passende Rubrik finden. Es hat: Mind — Childish behavior S. 11 (= kindliche Aufführung).
Das entspricht nicht genau meinem Symptom — sie führt sich gar nicht kindlich auf, so sehr sie auch im Gemüt kindlich ist. Die Rubrik: Mind — Idiocy S. 53 geht zu weit, dünkt es mich. Immerhin ist interessant, hier Phos. auch im 2. Grad zu treffen.
8: Ist wieder ein Symptom, das ich in KENTS Repertorium nirgends genau finden kann (s. auch Sympt. 5). Es hat: Mind — Strangers, presence of agg. S. 84 (= Gegenwart Fremder aggraviert) — das ist hier gar nicht der Fall, sondern im Gegenteil, das stimuliert sie eher! Nur der Husten ist bei Anwesenheit fremder Personen verstärkt. Das ist aber etwas völlig anderes und hat seine eigene Rubrik. Wir sehen hier gerade ein schönes Beispiel dafür, daß die „generals“ (=Allgemeinsymptome, die den ganzen Menschen betreffen) den „particulars“ (=Lokalsymptome) ganz widersprechen können, wofür jeder Materia-medica- Kenner noch viele andere Beispiele aufzählen kann (über „generals“ und „particulars“ s. KENT, Phil., Kap. „The value of Symptoms“ etc.).
Weiter zu unserer Rubrik 8: S. 12 des Repertoriums finden wir noch: Mind — Company, aversion to — presence of strangers (= Abneigung gegen Anwesenheit Fremder). Das ist’s auch nicht. S. 47 haben wir: Mind — Fear, strangers, of… ( = Furcht vor Fremden) — dies ebenfalls nicht!
Eines kennen wir von Phos.: Die Furcht, allein zu sein. Das ist hier aber auch nicht genau.
In so einem Fall ist’s gut, wenn man noch ein anderes Repertorium zu Rate zieht, z. B. dasjenige von KNERR oder das von JAHR. Da wir hier aber so schöne, deutliche Phos.-Symptome in großer Zahl haben, können wir uns dies der Einfachheit halber ersparen.
Wenn wir so ein Symptom in KENTS Repertorium nicht finden, müssen wir uns immer klar sein, daß es vom Autor auch gar nicht fürs Publikum zusammengestellt wurde, sondern nur zum Selbstgebrauch. KENT selbst hat gewiß für jedes mögliche und unmögliche Symptom gewußt, wo suchen — das Repertorium ist ja auch nach ganz bestimmten Gesichtspunkten aufgebaut, die man zuerst beherrschen muß, bevor man es wirklich nutzbringend anwenden kann. Zu dem Zweck werden in den angelsächsischen Ländern ja die Kurse für Repertoriumsgebrauch abgehalten.
9: Wir kennen die außerordentliche Empfänglichkeit von Puls, für Mitgefühlsbezeugung, Beileid, Lob, Trost, Verständnis (Rubrik Mind — consolation amel. S. 16) und die für Schmeichelei von Pallad. (Rubrik Mind — flattery, desires S. 48). Es fragt sich, ob dies in unserm Fall so weit geht.
Übrigens: Wer hätte Lob nicht gern?! Das ist also kein so wichtiges Symptom,sondern recht kommun. Das Gegenteil wäre interessanter. So dürfen wir schon schneller darüber hinweg gehen.
11: Hier gilt wieder, was unter Punkt 5 gesagt.
12: Phos. hat auch Kopfkongestionen, wiewohl solche für Phos. weniger bekannt als für andere Mittel. Aber dies ist auch kein sehr wertvolles Symptom — wieviel Arzneistoffe haben es nicht auch!
13: Wieder etwas sehr interessantes. In der Rubrik Mouth — detached from teeth, Gums — and bleed easily S. 400 (= Zahnfleisch zieht sich von den Zähnen zurück und blutet leicht bei der geringsten Gelegenheit) finden wir nur: Ant. c, Carb. v., und Phos.
Also auch dies objektive Symptom paßt zu unserm Phos.
Oft kommt es vor, daß die objektiven Symptome nicht unter ein sonst angezeigtes Mittel passen. Das ist nicht sehr wesentlich. Alle objektiven Symptome sind Resultate einer langen Entwicklung, sind Endstadien, und unsere Arzneimittelprüfungen sind selten bis zum Auftreten solcher Endresultate getrieben worden (vgl. darüber HERING in Stapfs Arch. 10, 1: 65—66). So wurden schon Warzen mit Chamomilla kuriert, Hautausschläge mit Hyoscyamus, beides Sachen, welche diese Mittel in den Prüfungen noch nie produziert haben. Sie heilten sie aber, weil das übrige Symptomenbild ihnen vollkommen entsprach (diesen Punkt betont z. B. schon AEGIDI in Stapfs Arch. 7,3: 109).
14: Phos. ist bekannt für großen Appetit. Er ist so groß, daß Betreffender die Speisen geradezu verschlingt nach Art eines hungrigen Hundes; daher der englische Ausdruck „appetite canine“.
15: Betreffende hat Süßes und Zucker also nicht gern, aber den Tee süßt sie gern stark. ImRepertorium haben wir die Rubrik: Stomach — desires — sweets S. 486 (= verlangt Süßes allgemein) und Stomach — desires — sweets, sugar S. 486 (= puren Zucker), ferner die Rubrik Stomach — desires — tea S. 486 (= Tee), aber nirgends findet sich „gezuckerter Tee“.
Wir können das Symptom also nirgends genau einordnen. Im allgemeinen sind ja Aversionen, d. h. Abneigungen, wichtiger als „desires“, Verlangen, so daß wir dies Symptom schon übergehen dürfen.
16: Auch Saures hat Phos, gern: Rubrik Stomach — desires — sour, acids etc. S. 486 hält Phos. im 2. Grad.
29: Nehmen wir noch Symptom 29 vor, um nachher dann alle Hustensymptome für sich zu haben: Da müssen wir Rubrik Extremities — numbness — fingers S. 1039 nachschauen: Auch hier findet sich Phos, im 2. Grade.
Nun die Symptome des Hustens:
Sie sind gar nicht sehr charakteristisch, man hätte recht Mühe, nur nach ihnen ein passendes Mittel herauszusuchen.
20: Für 20 finden wir etwa am besten passend Rubrik: Cough — evening — until midnight S.780 (Husten, abends, bis Mitternacht) Arn., Bar. c, Bell.,Carb. v., Caust., Ferr., Hep., Led., Mag. m., Merc, Mez., Nit. ac, Nux v., Phos., Puls., Rhus t., Sep., Spong., Stann., Sulph., Sul. ac, Verat., Zinc.
Hier ist Phos, also im 3. Grad!
19: Für Punkt 19 paßt am ehesten die Rubrik: Cough — morning — bed, in S. 778
(Husten, morgens, im Bett) Am. c, Aster., Bry., Caust., Coc. c, Ferr., Kali n., Nux v., Phos., Rhus t.
Phos. also hier wirklich auch, und zwar im 2. Grad.
21: Den Tag durch hustet sie mehr morgens als nachmittags, aber nachmittags auch, so daß wir also nicht nur in die Allgemeinrubrik Cough — forenoon schauen können. Wie viele Mittel husten aber den Tag durch! Sozusagen alle.
22: „Meist“ Husten trocken, d. h. n i c h t immer. Das ist nicht sehr bestimmt. Sowohl trockener als feuchter Husten haben Riesenrubriken. Mit solchen Symptomen kann man wirklich nicht viel anfangen, sie sind zu allgemein.
24: Larynx and Trachea — voice — hoarseness — morning S. 759 ist zu kombinieren
mit Larynx and Trachea — voice — hoarseness — mucus in larynx S. 759 (= Stimme — Heiserkeit — morgens — kombiniert mit Stimme — Heiserkeit — von Sekret im Larynx). Ersteres ist übrigens auch noch eine recht große Rubrik, sie hält Phos. im 3. Grad. Letztere Rubrik hält Phos. im 2. Grad.
26: Das jeweilige rasche Übergreifen einer Erkältung auf die Brust ist recht bekannt für Phos., eher noch ja das Einsetzen schon direkt auf der Brust unten.
28: Schauen wir nach bei Cough — tickling — throat-pit, from… S. 808 (= Husten von Kitzel im Halsgrübchen), so sehen wir, daß diese Rubrik Phos. nicht enthält. Hat die Patientin dies Symptom nicht genau bezeichnet?
Sie zeigte zwar das Halsgrübchen — man muß sich das „wo“ ja immer zeigen lassen — man kann da Überraschungen erleben.
Abschließend können wir nun sagen: Phos. paßt ganz ausgezeichnet. Die Homöopathizität ist sehr groß. In einem solchen Fall empfiehlt nun HAHNEMANN schon, sofort eine hohe Potenz zu geben. Ich habe ein Kügelchen C 30 gegeben — hätte ich höher gehabt, hätte ich höher gegeben. Ich mußte es betreffender Patientin heimlich in ihre Teetasse am Abendtisch geben, da sie absolut nichts einnehmen wollte, indem sie behauptete, die homöopathischen Medizinen täten ihr nicht gut. Ich hatte diesen Weg noch nie beschritten, mein Lehrmeister Dr. SCHMIDT in Genf hatte aber von Fällen erzählt, wo man das Mittel in die Suppe tat. — Ich fürchtete eine Zerstörung durch den darüber geschütteten heißen Tee (es war Lindenblüten). Ich war sehr gespannt auf die Wirkung. Andern Morgen schon ganz deutliche Verminderung des Hustens. Stetige Fortschritte in den folgenden Tagen. Vor allem kein Morgen-Hustenanfall mehr. Nach fünf Tagen schien mir doch ein stationärer Zustand eingetreten zu sein, so dachte ich, die Zeit für die Verabreichung eines Kügelchens C 200 — unterdessen eingetroffen — sei gekommen, und gab dies wieder wie das erste Mal in die Abend-Teetasse. Darauf Hustenbesserung bis auf nur noch ganz kleinen Rest.
Dieser Rest schien nach einiger Zeit (acht Tagen), auch wieder stationär zu bleiben. Ein Kügelchen C 1000 wieder auf selbe Weise verabreicht. Damit verschwand der Husten ganz und kam den ganzen Winter trotz häufiger Exposition — Betreffende kann sich einfach nicht schonen, wenn sie sich nicht stark krank fühlt — n i c h t mehr, den ersten Winter seit langer Zeit nicht mehr!
Im vorhergegangenen Winter kam bei jedem neuen Schneefall oder Kälteeinbruch, bei kalten Winden, bei abendlichem Ausgehen etc. immer wieder eine neue Verschlimmerung. Gleichzeitig blieben die sonst so häufigen Katarrhe fast ganz aus! Nur im Frühling 1949 bei einer Grippeepidemie kam nochmals einer, sogar mit etwas Husten. Ich gab aber nichts, da ich auf die Nachwirkung des Phos. hoffte — speziell, da ich zuletzt noch C 1000 gegeben hatte. Und wirklich:
Dies Abwarten bewährte sich: Bald war alles von selbst wieder im Geleise.
Von den Geistessymptomen will ich nicht behaupten, sie hätten bisher viel geändert — aber sie bestanden auch seit der Kindheit schon so. Sie werden nach dem HERINGSchen Gesetz deshalb zuletzt vergehen. Ich hoffe hier auf ein Weiterwirken meines gegebenen Phos. Vielleicht muß später noch einmal eine höhere Potenz verabreicht werden — ich möchte aber womöglich noch bis mindestens nächsten Herbst warten.
Das Zahnfleisch-Bluten hat sich ganz verloren und der Prozeß ist anscheinend ganz in einen Inaktivitätszustand übergegangen. Ob das Zahnfleisch wieder vorwachsen wird, ist momentan noch nicht zu sagen.
B e s p r e c h u n g
Wie Sie sehen: Ich brauche ein Repertorium (manchmal sogar zwei, drei), und zwar dasjenige von KENT, eingedenk J. H. CLARKES Mahnung (Dict. of p. Mat. med., preface p. ix): „It is impossible to practice Homoeopathy as it should be practiced without the aid of repertories, and the best repertory is the fullest“ (Homöopathie kann nicht praktiziert werden, wie sie praktiziert werden soll, ohne Repertorien, und das beste Repertorium ist das kompletteste). Nicht jeder Fall ist ja auf den ersten Blick klar — wieviel Symptome, die man für ein bestimmtes Mittel für charakteristisch hält, weist noch eine ganze Reihe anderer Mittel auf, von denen man dies nicht wußte. Das alles im Kopf zu behalten, ist selbst für ein phänomenales Gedächtnis absolut unmöglich. Was will man ohne Repertorium in Fällen mit einer Riesenzahl von Symptomen machen, was in Fällen, die uns in ihren Symptomen an eine ganze Reihe von Mitteln erinnern, und wo wir nur an Hand eines Repertoriums das am besten passende, das am stärksten aus der ganzen Symptomatologie hervorgehende aufdecken können?
Hier ein Wort über die Wertigkeit der Symptome im KENT: Wir finden drei verschiedene Wertgrade, die fett gedruckten, die kursiv gedruckten und die in gewöhnlichem Kleindruck. Die fettgedruckten bezeichnet man als 3wertig (= höchster Grad), die kursiven als 2wertig (= mittlerer Grad), und die kleingedruckten als 1wertig (= kleinster Grad). Der 3. Grad in einer Rubrik wird verwendet für Mittel, die das betreffende Symptom bei a l l e n Prüfern erzeugten. Der 2. Grad für Mittel, die betreffendes Symptom bei v i e l e n , aber nicht allen Prüfern erzeugt haben. Der kleinste Grad für Symptome, die nur bei einzelnen Prüfern auftraten (immerhin bei diesen aber sehr deutlich, nicht bloß unbestimmt, vag). Ferner können in dieser kleinsten Kategorie auch klinische Symptome vorkommen, d. h. sehr ausgesprochene Symptome am Kranken, die man bisher für betr. Mittel nicht kannte, die bei Anwendung dieses Mittels verschwanden.
Die Quellen von KENTS Repertorium sind: Dasjenige von LIPPE, HERINGS Guiding Symptoms, JAHRS Symptomencodex, Übersetzung von HEMPEL und QUIN, und HAHNEMANNS Werke.
Der Gebrauch des Repertoriums ist nicht Automatenarbeit, wie Sie sehen, sondern immer heißt es denken, überlegen, vergleichen. Mechanisches Aufsuchen der Symptome führt häufigst zu Mißgriffen, was schon die allerersten Homöopathen betonen, so CASPARI, WISLICENUS (Stapfs Arch. 3, 2: 75), BETHMANN (Stapfs Arch. 8, 3: 146) und v. BÖNNINGHAUSEN im Rep. d. aps. Arz., S. XI.
Wo ein Schlüsselsymptom, quasi ein Leitmotiv, gefunden wurde, ist alles leichter — wie in obigem Fall der Husten bei Anwesenheit Fremder. Dies Symptom hält Phos. bloß im kleinsten Grad im Repertorium. Ich weiß nicht, von welchem Prüfer es stammt — man müßte dazu alle Phos.-Prüfungen durchsehen — vielleicht ist es auch ein klinisches Symptom, was manchmal diese kleinstgradigen Symptome in KENTS Repertorium sein können. Was für uns wesentlich ist: Auch solche kleinen Symptome können uns auf eine Spur führen. Ein Repertorium mit nur allen stärkstgradigen Symptomen hat somit nur recht beschränkten Wert!
Sie sehen weiter, daß ich bei Betreffender sehr viele Geistes- und Gemütssymptome zu beobachten Gelegenheit hatte, was immer ein großer Vorteil ist. Das „Organon“ spricht darüber ganz unzweideutig in den §§ 211—213. Der eine oder andere wird vielleicht bemerken, daß viele der Gemüts- und Geistessymptome in diesem Fall nicht bloß während der Zeit des Hustens vorhanden sind, sondern die ganze Zeit. Für die Hustenzeit charakteristisch ist eigentlich nur das Husten während Anwesenheit Fremder.
Hier ist nun der Platz zu einer grundsätzlichen Erläuterung:
Wir unterscheiden akute und chronische Krankheiten. Die akuten sind — wenn keine Behandlung stattfindet — charakterisiert durch ein Ansteigen der Krankheitszeichen bis zu einer gewissen Höhe und nachheriges Abschwellen bis zum Verschwinden, alles in einer bestimmten, nicht allzu langen Zeit. Die chronischen haben auch das Ansteigen, ein Abschwellen bis zum Verschwinden kommt aber ohne passende Arzneibehandlung nie vor. Die akuten können eine latente chronische Krankheit zum Aufflammen bringen.
Den betreffenden Husten müssen wir schon als ein Aufflammen einer chronischen Krankheit ansehen, er ist einer Stichflamme vergleichbar, die plötzlich aus einem schwelenden Feuerherd ausbricht — er kommt ja völlig isoliert, nicht im Rahmen einer Influenzaepidemie, bei Kälte und Schneefall, auch dauert er zu lange und dann ferner diese Rezidivtendenz alle Winter! Die chronische Basis-Krankheit möge man bezeichnen, wie man wolle, vielleicht als maskierte Tuberkulose im Sinne von BIRCHER – PONNDORF – STARLINGER – PONCET – RICHET, vielleicht als katarrhalische Toxikose im Sinne v. NEERGAARDS, oder so wie die alten Homöopathen als Psora oder Sykosis oder eher Psoro-Sykosis.
Die homöopathische Therapie richtet sich immer nach dem Symptomenbild, gleichgültig ob dann für ein chronisches Leiden ein sog. „akutes“ Mittel — die Akten über die Zugehörigkeit vieler Mittel, die heute durchweg zu den „akuten“ gezählt werden, zu den „chronischen“ (schon von RUMMEL in Stapfs Ardi. 9, 3: 186 punkto Antipsorica festgestellt), sind ganz sicher noch nicht zu schließen.
So liest man in letzter Zeit ab und zu von Belladonna — „chronisches“ Mittel (vgl. dazu v. BÖNNINGHAUSEN im Rep. d. aps. Arz.) — oder für ein akutes Leiden ein sog. „chronisches“ Mittel, d. h. ein Antipsoricum, ein Antisyphiliticum oder ein Antisykoticum, nach der Symptomatologie angewendet werden muß.
Nur auf eines müssen wir bei der Abfassung eines akuten Krankheitsbildes aufpassen (z. B. bei Masern): Nicht chronische Symptome von der vorbestandenen chronischen Krankheit (denn heute ist gewiß fast niemand mehr absolut gesund — s. z. B. v. NEERGAARD, ganz im Sinne unserer drei chronischen Miasmen) hereinmengen (KENT, Philos.), was unbedingt passieren kann, wenn man an Hand eines Interrogatoriums den Kranken ausfragt (Aufbau eines Interrogatoriums s.„Organon“ 6. Andre: KENT, WASSILY) — da heißt es aufpassen. Im allgemeinen werden ja die Zeichen einer akuten Krankheit so hervorstechend sein und geschildert werden (§§ 82, 99 u. 152 Org. 6), daß man kaum zum Interrogatorium Zuflucht nehmen muß. Bei den chronischen Leiden ist so eine Vorsichtsmaßnahme nun nicht nötig. Hier heißt es nur, die Totalität der Symptome, d. h. die Gesamtheit aller subjektiven und objektiven Krankheitszeichen möglichst vollständig erfassen.
Unser Husten nun ist also ein chronischer Fall und so ist die Hereinnahme aller Gemüts- und Geistessymptome, deren man habhaft werden kann, am Platz, ja notwendig.
Noch ein anderer Punkt muß hier besprochen werden: Der eine oder andere wirft vielleicht ein, man hätte doch in so einem Fall nur die Symptome desHustens notwendig und müsse nur das Mittel für die Hustensymptome herausfinden. Den Betreffenden bitte ich, „Organon“ 6, Anmerkung zu § 7 zu lesen. Da wird er sehen, daß man so etwas symptomatische Behandlung nennt, die sogar in der Schulmedizin nicht besonders günstig angeschrieben ist. Sie bewirkt nur Palliation, und Palliation ist nie Heilung, befriedigt deshalb nie. In unserm Falle habe ich im Winter 47/48 Palliation getrieben — Erfolg: Gar nie verging der Husten so absolut ganz, wie man es gewünscht hätte, immer blieb noch ein kleiner Rest, und prompt hat alles im November 48. wieder neu angefangen. Vielleicht wäre er diesmal ohne zweckmäßige Hilfe sogar schlimmer geworden — wir wissen ja, was die Phos.-Konstitution alles bekommen kann!
Aber ich weiß, daß viele Homöopathen nicht gern schon gerade zu Beginn einer Behandlung ein „chronisches“ Mittel geben, sondern fast immer mit einem „akuten“ gegen die hauptsächlich störenden Lokalsymptome — in diesem Fall den Husten — den Anfang machen (schon HARTMANN empfiehlt z. B., nie direkt mit einem Antipsoricum eine Kur zu beginnen— Stapfs Arch. 8, 2: 35; 8, 3:158). In so einem Fall wie dem obigen, wo nach der ganzen klinischen Untersuchung zu schließen gewiß k e i n e Gefahr lauert, sehe ich aber nicht ein, warum man nicht direkt mit dem Hauptmittel, das den g a n z e n Kranken erfaßt, einsetzen soll. — In einem vorgeschrittenen Fall von Tbc. z. B. würde ich es hingegen kaum wagen. Das sind Fragen, die der Forschung noch offen stehen. — Auch sind ja in betreffendem Fall keine schrecklichen Schmerzen rasch zu stillen, oder ein bedrohlicher akuter Notzustand zu beheben, was die vorerstige Applikation eines „akuten“ Mittels erfordern könnte — ich erinnere mich hier eines Falles von Nephrolithiasis (Oxalatsteine), wo ich auf diese Weise den Anfall zuerst mit dem treffend auf die Kolik passenden Berberis vulg. kupierte, um später dann mit dem auf die chronischen Zeichen passenden Lycopodium den Kranken zu behandeln.
Und noch ein Einwurf des Klinikers: Das Fehlen jeglicher Laboratoriumsdaten, wie Senkung, evtl. ganzer Blutstatus, Wassermann, Urinbefund etc. Da muß ich vom heutigen Standpunkt der Medizin aus zugeben, daß dieser Einwurf berechtigt ist. Zweifellos wäre die Totalität der Symptome dadurch um einige Symptome vermehrt worden — ob aber auch bereichert? In diesem Sinne könnte der oder jener auch noch z. B. bei obigem Fall eine genaue Halsuntersuchung, eine Laryngoskopie, ja vielleicht eine Oesophagoskopie etc. fordern.
Hand aufs Herz: Wäre das nicht reiner „klinischer Leerlauf“ (der freilich nur zu oft herhalten muß, um die therapeutische Blöße zu decken!)? In meiner Praxis beschränke ich mich darauf, das Laboratorium nur dort heranzuziehen, wo es wirklich Ausschlaggebendes zu Diagnose oder Prognose zu sagen hat. So ist natürlich das Blutbild bei der Leukämie unentbehrlich, die Senkung bei der Tbc. etc. Alle übrige Vielgeschäftigkeit ist in meinen Augen ein purer Unfug.
Nun zur Frage der angewendeten Potenzen C 30, C 200 und C 1000 (erstere mir unbekannten Ursprungs, da von meinem Vater ererbt, wohl ca. 30jährig [Anmerkung zu § 272 Org. 6!], C200 und C 1000 vom Laboratoire homeopathique scientifique D. Schmidt – Geneve). Gewiß erkennt mancher Erfahrene in der Symptomatologie an den vielen charakteristischen Phos.-Symptomen dessen treffendes Passen für diesen Fall — übrigens ist ja Phos. auch ein in unserer Richtung sehr bekanntes Mittel für Atemwegaffektionen bis zur Pneumonie etc. Ich zweifle also nicht, daß eine Großzahl von Ihnen auch Phos. gegeben hätte, so wie ich aber die neuere deutsche Homöopathie kenne, wohl etwa bloß in der Potenz D 30 (warum, sagt uns schon RUMMEL [AHZ 21: 251]: „Die Hinneigung zu starken, massiven Gaben hat z. T. ihren Grund in der Ansicht der Spezifiker und Generalisierer, die durch die Stärke der Arznei ersetzen wollen, was ihre ungenaue Wahl verschuldet; z. T. entspringt sie aber auch aus der Herrschaft der materiellen Ansicht überhaupt.“). Zu wenig potenzierte Gaben erzeugen aber Nebenbeschwerden und Erstverschlimmerungen (§§ 155—160 und 275—287 Org. 6!) — es soll auch vorkommen, daß das Heilmittel nur in höherer Potenz heilt, in niedrigerer ganz unwirksam bleibe (z. B. BAHR zit. in MENDE, S. 62; ferner v. BÖNNINGHAUSEN, A.d.H. S. 403, 404; G. W. WOLF in seinen Hom. Erf. H. 2, S. 338, und WHEELER in I.p.p. Hom. S. 29), und es gibt ja von der passenden Arznei keine Gabe, die zu klein wäre (§§ 51, 169, 249a. 275, 279 hauptsächlich), um des Übels nicht Herr zu werden, — und je höher die Potenz von der passenden Arznei, umso schneller ist die Heilung perfekt (vgl. z. B. v. BÖNNINGHAUSEN [A.d.H. S. 403—404, 416], HERING [Amer. hom. Rev. 1860: 516], und nach den Erfahrungen aller Hochpotenz-Anhänger).
Die Arzneiempfindlichkeit des kranken Körpers für die passende Arznei ist ganz unendlich groß. Warum soll man sich deshalb gegen die Erfahrungssätze HAHNEMANNS sträuben und nicht hierin auch mit vollem Vertrauen seinen Anweisungen folgen? Paßt das Mittel so treffend — wobei vor allem auf das Passen in den charakteristischen Symptomen (§ 153), was hier ganz der Fall ist, zu achten ist —, so kann man dasselbe direkt in hoher Potenz geben: Die Gabe wird nie zu klein sein, um nicht schon einen deutlichen Anfang von Besserung zu produzieren. Hätte ich damals schon Phos. C1000 im Hause gehabt, — hatte nur C 30 zur Hand — hätte ich direkt mit Phos. C1000 begonnen und vielleicht dann mit einem einzigen Kügelchen erreicht, was ich hier erst mit drei Gaben von einem Kügelchen Phos. C 30, 200 und 1000 erreichte (s. Fall 2, wo ich mir diese Erfahrung zu Nutze machte).
Die zweite Frage ist die der Repetition. Mancher von Ihnen hätte vielleicht die gleiche Potenz repetiert und die gleiche Gabe (1 Kügelchen Phos. D 30), in mehr oder weniger großen Abständen. Das Resultat wäre ganz sicher nicht dasselbe gewesen: Ganz sicher wären sehr deutliche Phos.-Symptome aufgetreten, die der Patient vorher nie hatte. Dies soll vermieden werden und kann es, wenn man in der Repetition in den Potenzen ansteigt (§§ 154, 246—248, 270a (6), 276, 280, 281, 282 Org. 6 und KENTS Philos.). Ich fand es nicht nötig, auch in der Gabe anzusteigen, da mir ein Kügelchen schon schöne Erfolge gab (§ 272), —warum also mehr Kügelchen geben — das würde nur die Gefahren heraufbeschwören, die §§ 275 und 276 zeichnen (s. auch HERING [Stapfs Arch. 9, 3: 109—110]).
Wann soll nun das Mittel repetiert werden (§ 246, und KENTS Philos.): Sobald ein deutlicher Stillstand in den Fortschritten der Heilung eintritt, oder erneute Verschlimmerung. Dies sind die Zeichen, daß betreffende Gabe nun ausgewirkt hat (bei akuten Leiden geht dies weniger lang, bei chronischen länger). Das erste war hier zweimal der Fall. Im allgemeinen aber heißt es: Repetiere möglichst wenig. In vielen Fällen genügt schon eine einzige Gabe des passenden Mittels, um alles zu leisten, was möglich ist (vgl. v. BÖNNINGHAUSEN [A.d.H. S. 403, 404, 416] und HERING [Amer. hom. Rev. S. 516]), um allein die ganze Heilung zustande zu bringen.
Daß die ganze Heilung völlig ohne jegliche „Suggestion“ verlief, ist nochmals zu betonen. Wie gern wird der Suggestion zugeschoben, was doch ganz nur Mittelwirkung ist.
Sie sehen bei diesem Fall auch, wie mühsam oft die Aufnahme eines Krankheitsbildes bei Patienten ist, die sich gar nicht selbst beobachten können. Nur eine ganz lange, intensive Beobachtungszeit gibt hier das gewünschte Resultat. Aber wie herrlich lohnt sich nachher diese wirkliche „Erforschung“ in einer glänzenden Heilung.
Fall 2: ist ein Fall von schriftlicher Behandlung, immerhin ist mir betreffende Patientin von Angesicht bekannt. Anfang März 1949 hörte ich von Betreffender, sie sei den ganzen Winter erkältet und habe einen gräßlichen Husten. Ich trug ihr darauf hin meine Dienste an, worauf ich folgenden Brief erhielt:
Ort, 8. März 1949
„ . . . . Mein Husten hat sich aber seit ein paar Tagen stillschweigend verzogen — ich habe die letzte Woche in meinen wärmsten Hüllen u. in der warmen Stube so elend von innen heraus gefroren, und jetzt denke ich, das sei vielleicht die Heilung gewesen. Vor 14 Tagen war ich bei Dr. F., u. der sagte, es sei Keuchhusten. Aber ich habe es nie geglaubt. Husten trocken, Gemütsstimmung ebenso…. Natürlich tut das ganze Gestell weh, wenn man so ein paar Stunden lang bellt. Am Morgen war es ganz gut, so von 3 Uhr an ging’s los. Merkwürdigerweise muß ich aber nie husten, wenn ich im Bett liege“ (das sagt sie im Praesens, also ist er doch noch nicht ganz vorbei, was sich weiter unten bestätigt). „Dr. F. gab mir Codeintropfen, aber die habe ich sehr schlecht vertragen. 2 mal 20 Tropfen im Tag. Aber ich nahm sehr wenig. Wohl haben sie sofort den Husten abgestoppt, aber die ganze Person war ein bißchen kaputt. Wenn Sie mir etwas für die allgemeine Abgeklapptheit senden könnten, bin ich sogar sehr froh…. Es ist mir hier grad kalt genug. Ich habe die letzten 14 Tage vin de Vial getrunken (aber nur wenig), aber wenn ich weniger müde wäre, würde ich mir selber sogar besser gefallen…. Also — ich huste nur noch, wenn ich viel schwatze, und wenn ich von der Kälte in die Wärme komme, und vice versa“ (also doch noch!)…
Es besteht also doch noch ein gewisser Rest von Husten, dazu allgemeine Abgeklapptheit.
Die Patientin ist ca. 60jährig, mittelgroß, mager. Sie spricht etwas langsam, aber gewählt und alles gut prononciert. Hat große geistige Interessen, ist immer auf dem Laufenden in der Tagesgeschichte.
In der Symptomatologie interessiert den Kenner natürlich hauptsächlich das sehr klar ausgesprochene Symptom: „ich huste nur noch, wenn ich von der Kälte in die Wärme komme, und vice versa.“
Man würde meinen, Betreffende hätte dies aus dem Repertorium abgeschrieben, denn wir finden da (S. 810): Cough — Warm room, going from, to cold air, or vice versa agg. (= Husten — wenn aus dem warmen Zimmer in die Kälte gehend, und auch umgekehrt).
Aber ich kann Sie versichern, daß Betreffende in ihrem Leben noch nie ein Repertorium gesehen hat — sie war bisher immer in Schulmedizinerbehandlung. Dies Symptom illustriert doch sehr schön, wie wirklichkeitsnahe unsere Symptomatologie, wie sie uns von HAHNEMANN gegeben wurde, ist. Die Fachausdrücke der Medizin vergehen — in 100 Jahren wird wohl niemand mehr unser wissenschaftliches Kauderwelsch („On apprend ordinairement des langues pour exprimer nettement ce qu’on sait, mais il semble que les medecins apprennent leur Jargon que pour embrouiller ce qu’ils ne savent pas“ (FONTENELLE) verstehen, so wie auch wir etwa die Schriften FR. HOFFMANNS, STAHLS etc. nur noch nach längeren Vorstudien verstehen können. Die Sprache des Volkes, aus der unsere homöopathische Symptomatologie ihre Ausdrücke schöpft, wird aber schwerlich in so kurzer Zeit sich schon so stark ändern, daß wir sie nicht mehr verstehen. Lesen wir doch als Schweizer z. B. noch heute des PARACELSUS kraftvolle, ebenfalls aus dem Volke geschöpfte Sprache mit hohem Genuß — da klingt’s und rollt’s, wie wenn wir heute einem boden-verwachsenen Innerschweizer Bauern zuhören, was er uns über seine oder seiner Tiere Krankheit berichtet.
Die Rubrik nun enthält: Acon., All. C., Carb. v., Lach., Nat. c, Nux v., Phos., Rumex, Sep., Verat. v.
Somit nur Phos. im 3. Grad, und Rumex im 2., sonst alles im 1. Grad. Das ist schon sehr interessant. Sofort sehe ich die typische Phos.-Person vor mir — hier ist dieser Typus viel leichter erkennbar als im Falle 1 — Die großen geistigen Interessen, die gewählte Sprache, die langsam und wohl überlegt ist! Das ist nun typisch Phos., wie ich es mir von meinen Studien her vorstellte.
Aber da ist noch Rumex, ebenfalls sehr interessant in so einem Hustenfall.
Und dann noch die ganze Reihe 1. gradiger Symptome, unter andern All. C., das bei vielen solcher Hustenfälle nach Katarrh diesen Winter 48/49 paßte. Immerhin: Phos. gefällt uns schon sehr.
Und noch etwas anderes: Dies Symptom gibt Patientin uns erst zuletzt, ganz am Ende des Briefes preis. Wie oft kommt das vor! So nebenbei schlüpft gerade noch die Hauptsache für uns heraus.
Nehmen wir noch ein weiteres klar ausgesprochenes Symptom: Husten von zuviel Schwatzen. Das ist ein recht allgemeines, also wenig wertvolles. Phos. findet sich in der Rubrik: Cough — Talking, (S. 807) im 2. Grad, Rumex im 3., All. C. ist gar nicht da. Dies ist punkto All. C. schon ganz interessant und rückt es in die Ferne.
Dann ist da noch ein weiteres Symptom: Der Husten kam immer erst hauptsächlich nachmittags, so von 15 Uhr an (Patientin sagt „kam“. Dürfen wir das Symptom also jetzt noch zu unsern jetzigen Symptomen nehmen? Ich glaube ja, denn mit dem Codein wurde nur Unterdrückung getrieben, und die ganze Natur des Hustens hat sich dadurch wohl nur insofern geändert, als er fürs Ohr geringer geworden ist, innerlich aber noch dieselben Mängel bestehen, von denen der hörbare Husten nur ein Einzelsymptom war. Und im übrigen soll man immer die Ursprünge eines Leidens genau erforschen — oft kann nur bei den ursprünglichen Symptomen die Spur für das Heilmittel gefunden werden.). Dies hauptsächliche Auftreten von 15 Uhr an scheint mir insofern wichtig, als Rumex eher morgens beim Erwachen die Hauptaggravation hat. Sehen wir die Rubrik im Repertorium nach: Cough — afternoon S. 779, eine Riesenrubrik. Eine Unterrubrik von dieser großen hat: 3 p.m., d.h. Punkt 15 Uhr und weder vor noch nachher.
Ferner eine andere: 3—4 p.m., eine weitere: 3—5 p.m., und dann eine: 3—10 p.m. — letztere hält als einziges Mittel Bell, im 1. Grad. Das kommt bei Betreffender weniger in Betracht. Sie ist absolut keine Bell.-Natur.
So müssen wir obige Hauptrubrik Cough — Afternoon nehmen. Phos. Ist hier im 1. Grad, Rumex gar nicht vertreten. Dies ist punkto Rumex interessant und lenkt uns umsomehr auf Phos.
Die allgemeine Abgeschlagenheit ist wiederum ein recht unbestimmtes Symptom und paßt schon auch zu Phos.
Der Husten ist trocken — auch wieder ein viel zu allgemeines Symptom, um damit viel anfangen zu können. Und weiter sind keine bemerkenswerten Symptome mehr in dem Fall.
Wir müssen uns nun für das Mittel entscheiden. Phos, leuchtet mir sehr ein, gerade wegen der geistigen Eigentümlichkeiten („was für den Allopathen die Beachtung des Pulses ist, das ist für den Homöopathen die Erforschung des Gemütszustandes“ BÖNNINGHAUSEN [A.d.H. S. 248 Anm.]). Aber auch Rumex ist also nicht völlig zu vergessen. Ich glaube aber, wenn Rumex hier das Mittel wäre, hätte Patientin sozusagen sicher etwas von der Empfindlichkeit der Luftröhre gegen Einatmen kalter Luft geschrieben, oder von Diarrhoe, oder sonst ein typisches Rumex-Symptom. Diese Überlegungen erwiesen sich als richtig. Wegen der typischen Geistes- und Gemütssymptome der Patientin und auch ihres Phos.-Typs (konstitutionell) wagte ich, gleich eine höhere Potenz zu geben: Ein Kügelchen Phos. C 1000 und Placebo für 8 Tage. Die Erfahrung vom vorigen Fall wollte angewendet sein. Der Erfolg war durchschlagend.
Folgendes der Antwortbrief:
- März 1949
(Mit Einnehmen begonnen 10. Mz.)
„Sie haben mir da mit den vier unschuldigen Pülverli einen herrlichen Dienst erwiesen. Der Husten hat sich verzogen“ (er bestand also doch noch — erneute Bestätigung),„— wie ich hoffe endgültig“ (noch ist das Erstaunen so groß, daß kaum an eine Endgültigkeit dieser merkwürdig raschen Wirksamkeit geglaubt werden kann!) „und was mich noch mehr freut, ich bin wieder sehr unternehmend, und sehe die Welt mit andern Augen an“.
Das ganz spontan geschrieben, ist das allerbeste Zeugnis, daß Phos. ganz prima paßte. Gerade die geistige und gemütliche Aufheiterung im Verlaufe einer Kur mit unsern Mitteln ist ja das beste Indiz der richtigen Wahl des Mittels. Wo in einer Kur eine deutliche Gemütsaufheiterung auftritt, müssen wir uns keine Sorge machen über den weitern Erfolg, sollten die verschiedenen körperlichen Symptome auch noch keine Anzeichen von Besserung erkennen lassen. Und in so einem Fall ja nie Mittelwechsel, weil die Lokalsymptome mit Besserung noch zögern. Nur ruhig abwarten: Diese der körperlichen Heilung vorauseilende Gemütsaufheiterung ist dem Morgenrot, das den kommenden Tag verkündet, zu vergleichen (spez. § 253 Org. 6).
Weitere Kommentare zu dieser Heilung kann ich mir ersparen. Noch etwas vielleicht: Der Übelwollende mag denken, der Husten sei ja schon fast fertig gewesen und wäre wohl von selbst oder in der Nachwirkung des Codein noch ganz verschwunden. Da stimme ich nicht gerne bei: Das typische Hustenmittel Phos. hat ja doch den Allgemeinzustand des Patienten so auffallend verändert — wieso soll der Husten, gerade seine eigentliche Domäne, „von selbst“ oder „in der Codein-Nachwirkung“ verschwunden sein?
Fall 3: In betreffender Familie ging schon einige Zeit eine Influenza um, die in der ganzen Gegend damals epidemisch war. Die Erscheinungen begannen mit vielem Niesen, reichlicher Nasenabsonderung, zuerst wäßrig, dann später spärlicher und gelblich-grün; das Sekret exkoriierte die Nasenflügel und Oberlippe; meist wäßrige Augen. Bald ging der Katarrh durch den Pharynx in den Larynx hinunter. Die Folge war dann Husten mit reichlicher Schleimansammlung im Larynx und Schmerzhaftigkeit des letzteren. Etwas Fieber. Bei keinerlei Therapie, jedoch Schonung, dauerten die Erscheinungen ca. 10 Tage.
Nun kam in betreffende Familie Besuch mit einem ca. 4jährigen Kind. Nach einem Aufenthalt von etwa 10 Tagen dachte der Besuch wieder ans Abreisen. Nun aber, gerade einen Tag vor dem festgesetzten Abreisetermin, war das Kind recht „mudrig“, leicht gereizt (schon die Nacht war unruhig gewesen), dazu vieles Niesen, öfteres Schneuzen und wäßrige Äuglein. Alles im geheizten Zimmer — es war im Februar 1949 — aggraviert. Sobald das Kind auf der Veranda draußen war, konnte keine Spur von Katarrh mehr an ihm entdeckt werden, hier war es auch ganz munter. Da man unter diesen Umständen an eine Verschiebung der Abreise denken mußte, was aber recht ungelegen gekommen wäre, so ersuchte man mich um ein Mittel.
15 Uhr betreffenden Tages — das Kind war ins Bett getan worden — reichte ich drei Kügelchen All. C., Potenz C 30 (aus der Homoeopathischen Centraloffizin Dr. Wagner & Dr. Haas in Basel). Darauf schlief es etwas — immer ein sehr gutes Zeichen nach Mitteleinnahme — und um 16 Uhr war wirklich aber auch keine Spur von Katarrh mehr zu entdecken, so daß die Mutter es wieder aufnahm. Es blieb den ganzen Abend auf, ohne auch nur noch ein Mal zu niesen etc., hatte guten Appetit, war ganz munter. Es schlief dann die Nacht ausgezeichnet und so konnte anderntags doch gereist werden. Das Kind überstand die Reise prima und blieb auch zuhause weiterhin gesund! Was mir noch später auffiel: Die langanhaltende Dankbarkeit des betreffenden Kleinen nach dieser Heilung. Etwas Ähnliches ist mir schon bei Tierheilungen aufgefallen — das Tier war nachher mir gegenüber für lange Zeit auffallend zutraulich.
Auch hier sind einige Punkte einer noch etwas ausführlicheren Betrachtung wert:
Ich gab also drei Kügelchen All. C., Potenz C 30. Hätte ich C 200 zur Hand gehabt, hätte ich ohne Bedenken auch letzteres gegeben. Höher jedoch nicht. Die allgemeine Regel bei der Anwendung höherer Potenzen ist, bei erklärtem akutem Stadium C 30 oder 200 zu reichen; bei Fällen, die schon in Chronizität übergehen C 1000. Bei unserm Fall ist aber das akute Stadium noch nicht einmal ganz erklärt, sondern wir sind fast noch in den Prodromen. Das Krankheitsbild ist deshalb auch noch gar nicht sehr ausgeprägt, und hätte ich nicht den Charakter der Influenza bei betreffender Familie gekannt, so wäre mir All. C. vielleicht vorderhand als das Heilmittel gar nicht in den Sinn gekommen. Daraus ist ersichtlich, wie wichtig die Kenntnis des jeweiligen Epidemiecharakters für uns Homöopathen ist (§§ 101, 102 Org. 6).
So ist die Verabreichung von C 30 hier wohl absolut berechtigt gewesen. Ich gab nun drei Kügelchen, mehr gefühlsmäßig, als aus bestimmten Gründen. Vielleicht hätte auch eines allein genügt. Das kann ich nicht entscheiden, da ich keine Vergleichsfälle hatte. Sonst hätte ich auch mit einem Kügelchen probiert. In unserm Fall aber wollte man unbedingt abreisen. So gab ich lieber drei, denn zum Experimentieren war hier keine Zeit.
Das Mittel war Allium Cepa. Wie ich schon eben sagte, dachte ich an dies Mittel nur deswegen, weil ich den Charakter der Familieninfluenza kannte. Diese sprach ja deutlich für All. C. Beim Kind war vorderhand nur e i n Charakteristikum ausgesprochen: Die Aggravation aller Katarrhsymptome im warmen Raum und die Symptomenfreiheit in der frischen Luft. Schauen wir im Repertorium die betreffende Rubrik nach: N o s e – Coryza – Warm room aggr. S. 329 (Nase – Schnupfen – Warmer Raum verschlimmert), so finden wir folgende Mittel: All. C., Ant. c., Carb. v., Cycl., Merc., Mer. i. r., Nux. v., Phos., Sep.
Allium Cepa ist hier und zwar sehr deutlich. Dann ist beim Kind noch dieses Wässern der Augen, das für All. C. so charakteristisch ist.
Das ist aber auch alles. Doch ist sehr wahrscheinlich, daß das Kind die gleiche Influenza bekommt, die in betreffender Familie umging, und das war eben All. C. Auf diese Überlegungen hin gab ich darum dies Mittel sofort ein, in der Hoffnung, doch bis andern Tags Reisefähigkeit zu erzielen. Der Erfolg war aber noch viel größer als erwartet. Schon e i n e Stunde nach Einnehmen war alles weg, der ganze Katarrh radikal abgeschnitten. Ich muß sagen, ich war selbst erstaunt. Der kindliche Organismus reagiert ja sehr fein auf unsere Mittel, das ist bekannt. Auch All. C. wird sehr für die Kinderpraxis empfohlen. Trotzdem: solche Sachen sind erstaunlich.
Ich sagte oben, hätte ich den Charakter der Influenza bei betreffender Familie nicht gekannt, so hätte ich bei dem Kind kaum an All. C. gedacht. Hätte dann vielleicht Acon. gegeben, wie noch viele von Ihnen. Ich bin aber überzeugt, daß dies nicht den gleichen Effekt gehabt hätte. Wohl wäre die Krankheit vielleicht nicht heftig ausgebrochen, aber so radikal kupiert wäre sie keinesfalls worden.
Und so ist es mit all‘ unsern Infektionskrankheiten, Scharlach, Masern etc. Wenden wir durchs Band schematisch die in den Büchern für dieselben empfohlenen Mittel an, etwa Puls. für Masern etc., so erreichen wir vielleicht schon einen milden Verlauf, aber kaum einen abgekürzten. Nur das Simillimum kann kurz Schluß machen. Nur das Simillimum bringt einen Scharlachkranken sofort zur Heilung etc. So muß unser Bestreben immer sein, das Simillimum für den Fall zu suchen. Nur dies ist eine Praxis, die auch weiterhin durch die Jahrhunderte ihre Berechtigung und ihre überzeugten Anhänger behalten wird.
Das Suchen des Simillimums ist freilich oft nicht leicht, das ist oft eine mühsame, sehr mühsame Arbeit (§148 Anm. Org. 6), die viel Denken erfordert — immerhin nützliches Denken, keine Spekulationen (welch‘ letztere sich zwar immer wieder in die Homöopathie einschmuggeln wollen — PREU [StapfS Arch. 10, 3: 75]). Die Arbeit hat aber ihren tiefen Sinn. Die Menschheit ist noch lange nicht reif, ohne sie zu wertvollen Früchten zu gelangen.
Zum Schluß muß ich mich nun noch entschuldigen, vielleicht manche von Ihnen mit diesen „kleinen“ Fällen belästigt, ja gelangweilt zu haben, statt große, „klinische“ Fälle zu bringen, wie Pneumonie etc. Zu meiner Entschuldigung möchte ich aber folgende Punkte anführen:
- Der Husten ist auch gar nicht immer leicht zu nehmen — ich denke hier an Fall 1 — und vor allem gar nicht immer leicht zu heilen, wie mir jeder erfahrene Praktiker bestätigen wird, indem sowohl die Aufnahme des Symptomenbildes, als dann auch die Suche des Simillimums viel Mühe bereiten kann.
- Es machen ja doch, wie jeder von Ihnen gestehen muß, die „großen, klassischen, klinischen“ Fälle einen recht kleinen Prozentsatz unserer Patienten aus (s. dazu Schema 24, S. 253 bei NEERGAARD) — in meiner langjährigen Assistentenzeit sah ich im ganzen z. B. nur drei typische Pneumonien, wovon eine Lobärpneumonie (betreffende Patientin, eine jüngere Frau, war nach der „Heilung“ mit Sulfonamiden aber in einem deplorablen Zustand — vielleicht ist sie heute noch nicht ganz davon erholt) und zwei Bronchopneumonien (die eine bei einem alten Trinker, dem man die Fieber mit Sulfonamiden schon recht rasch kupierte, der aber trotzdem nicht lange nachher doch starb. Die andere kompliziert mit Empyem, bei einer ältern Frau — auch sie lebt nicht mehr).
- Es macht in unserer Behandlung (Homöopathie) nichts aus, ob es sich um einen „kleinen“ oder einen „großen“ Fall handelt. Immer bleibt die Forderung nach dem Simile. Und wir haben auch bei „großen“ wie „kleinen“ Fällen dieselben Resultate. So hat mein Vater während der Grippeepidemie 1918 in ausgedehnter Praxis keinen einzigen Patienten verloren, ob es sich um einfache Grippe oder Grippe-Pneumonie handelte. Die diesbezüglichen Krankengeschichten stehen jedem ernsthaften Interessenten zur Bearbeitung bei mir zu Hause zur Verfügung. Und
- beginnen doch die meisten „großen“ Fälle auch zuerst als „kleine“. Sehr oft macht sie erst falsche Behandlung zu „großen“.
- Zum Vorwurf des „Langweilens“, der „allzu großen Trockenheit“ etc.: Sensationen sind nur unsere Heilungen, unsere Resultate; was vorangeht, ist allermühsamste Kleinarbeit, unablässiges Denken. Ich muß aber auch hier nochmals fragen: Lohnt es sich denn nicht?
Nach all dem glaube ich doch, eine Berechtigung für meine Publikation zu haben. Ich hoffe damit diesen und jenen zu einem Versuch mit höheren Potenzen in geeigneten Fällen anzuregen. Auch ist sicher jeder Anwender hoher Potenzen gerne bereit, Kollegen, die sich dafür interessieren, persönlich Anweisungen zu geben, im Sinne des alten Spruchs
„Verba docent — exempla trahunt“.
L i t e r a t u r :
(Neuere Werke, die noch im Buchhandel erhältlich: Verleger angegeben)
AEGIDI, J.: Stapfs Arch. 7, 3.
BETHMANN: Stapfs Arch. 8, 3.
BIRCHER, W.: Die maskierte Tuberkulose. Zürich 1943. Wendepunkt-Verlag.
- BÖNNINGHAUSEN, C: Aphorismen des Hippokrates. Leipzig 1863.
—: Repertorium der antips. Arzn. Münster 1832.
CASPARI-WISLICENUS: Stapfs Arch. 3, 2.
CLARKE, J. H.: Dictionary of Practical Materia Medica. London 1947. The Hom. Publish. Comp.
HAHNEMANN, SAMUEL: Reine Arzneimittellehre, 2. Auflage, Tl. 5. Düsseldorf 1839 [Faksimileausgabe. Ulm/Donau. Karl F. Haug Verlag.]
—: Organon 6. Aufl., hrsg. v. Haehl, Leipzig 1921. Karl F. Haug Verlag.
HARTMANN, F.: Stapfs Arch. 8, 2, 3.
Health through Homoeopathy (J. brit. Hom. Assoc. March 1949).
HERING, C: Amer. hom. Rev. 1860.
—: Stapfs Arch. 9, 3; 10, 1.
KENT, J. T.: Lectures on Homoeopathic Philosophy, 4th edition, Chicago. Ehrhart & Karl.
—: Repertory of the Hom. Mat. Med., 4th edition. Chicago 1935. Ehrhart & Karl.
KÜNZLI, J.: Die Heilkunst Hahnemann’s, reine Homöopathie. Hausmitt. der Hom. Centraloffizin
Dr. Wagner & Dr. Haas, Basel, Februar 1949.
MENDE, J. P.: Die Homöopathie. Schaffhausen 1866.
MORDVINOFF: Stapfs Arch. 10, 3.
- NEERGAARD, K.: Die Katarrhinfektion als chronische Allgemeinerkrankung. Dresden-Leipzig
- Steinkopf.
PREU: Stapfs Arch. 10, 3.
RUMMEL, G. A.: Stapfs Arch. 9, 3.
—: AHZ21: 251.
WASSILY, P.: Wie ich die Homöopathie lehre. Stuttgart 1927.
WHEELER, CH. E.: An introduction to the princ. and practice of Homoeopathy. London 1920.
WOLF, C. W.: Homöopathische Erfahrungen, H. 2 (Die vier Grundverer. d. Menschheit)
Berlin 1860.
(Anschr. d. Verf.: Dr. med. ]. Künzli v. Fimelsberg, St. Gallen, Rosenbergstraße 14)
aus: ZKH 1958/3
mit freundlicher Genehmigung des Haug-Verlages
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