Zwei Heilungen Hahnemanns mit Quinquagintamillesimalpotenzen
von J. Künzli von Fimelsberg
Nach einem Vortrag anläßlich des Hahnemann-Jubiläums-Kongresses im September 1955 in Stuttgart.
Hahnemann war bis zu seinem Tode, wie wir wissen, in stetem wissenschaftlichem Briefwechsel mit Bönninghausen. Am 24. April 1843, d.h. noch zwei Monate vor seinem Tode, läßt er Bönninghausen eine Abschrift aus seinem letzten, neuesten Krankenjournale von zwei Fällen, die er mit Quinquaginta-millesimalpotenzen geheilt hat, zugehen. Er nennt sie selbst bescheiden ,noch nicht die instruktivsten“. Für uns Nachfahren sind sie aber instruktiv genug. Bönninghausen teilt sie uns im Band 21, Heft 1, Seite 79 u. ff. des Stapfschen Archivs mit, d.h. Band 1 des Neuen Archivs, herausgegeben bei Schumann in Leipzig, nicht mehr bei Reclam, 1844.
Die Publikation war aber allem nach den damaligen Homöopathen vollkommen unverständlich. Sogar Stapf machte beim Druck überall Fragezeichen und Fragesätze hin, und auch Bönninghausen erlaubt sich an einer Stelle eine Erläuterung, sie Ihnen verständlich zu bringen.
Zu diesem Zweck muß ich Ihnen zuerst erläutern, wie die Quinquagintamillesimalpotenzen appliziert werden, nach den §§ 247 und 248 der 6., posthumen, erst 1921 erschienenen Auflage des Organon. Die Quinquagintamillesimalpotenzen unterscheiden sich bekanntlich von den Centesimal- und Dezimalpotenzen dadurch, daß bei der einzelnen Verdünnungsstufe 50′ 000 mal = Quinquagintamille — verdünnt wird, statt nur 100 wie bei den Centesimal-, oder gar nur 10 wie bei den Dezimalpotenzen.
Der Patient erhält in einer Papierkapsel das Kügelchen der gewählten Potenz in etwas Milchzucker mit nach Hause. Dort quetscht er das Kügelchen z.B. mit einem Messergriff zusammen und schüttet das Pulver in eine mehr oder weniger große Menge frischen Wassers hinein.
Es gibt hier zwei Möglichkeiten: Entweder eine große Menge Wasser, z. B. 40 Eßlöffel — 600 ccm, oder etwas weniger, 30, 20 Eßlöffel. Die Auflösung in viel Wasser ist vor allem für akute Leiden, wo viel eingenommen werden muß, angezeigt.
Die andere Möglichkeit ist: Auflösung in nur 7, 8 Eßlöffeln Wasser, also 105 bis 120 ccm. Diese konzentrierte Lösung muß dann aber vor jedem Einnehmen verdünnt werden, indem man einen Eßlöffel daraus in 1 Glas frisch Wasser gibt und erst hiervon einnehmen läßt.
Um die Lösung frisch zu halten, muß man etwas Weingeist zugeben oder an einem Faden ein Stückchen Holzkohle hineinhängen.
Eingenommen wird je nach Fall — in chronischen Fällen alle Tage einmal, oder alle ander Tage einmal, in akuten Fällen alle 6, 5, 4, 3, 2 Stunden, oder stündlich oder halbstündlich etc., wenn es sich um ganz lebensbedrohliche akute Zustände handelt.
Die Hauptsache aber ist, daß vor jeder Einnahme mit 10 Schüttelschlägen höher potenziert wird. Man nimmt also die Flasche in die eine Hand und schlägt sie 10mal stark gegen die andere Hand. Dann wird ein Eßlöffel voll draus in das Glas frisch Wasser gegeben, gehörig umgerührt und nun von dieser Verdünnung die erforderliche Menge, sagen wir z.B. 1 Kaffeelöffel voll, eingegeben. Dann wird das Glas ausgeschüttet. Denn vor jeder Entnahme muß die Stammflüssigkeit in der Flasche höher potenziert werden, danach entnimmt man wieder den Eßlüffel voll und rührt ihn tüchtig in ein neues Glas mit frischem Wasser ein und gibt wieder die erforderliche Menge. Und so weiter.
Ist die Flasche aufgebraucht, so setzt man mit einem neuen Kügelchen höherer Potenz eine frische an.
Der Vorteil der neuen Potenzen ist nach Hahnemann, daß man damit speziell chronische Krankheiten in kürzerer Zeit heilen kann als mit der alten Art, nach welcher man e i n Kügelchen gibt und die Wirkungsdauer abwartet. Nun will ich Ihnen die Fälle vorlesen, wobei Sie mir erlauben, anschließend stets gleich hier und dort einen kleinen Kommentar zu geben.
Der erste Fall:
„Julie M., ein Landmädchen, 14 Jahre alt, noch unmenstruiert. 12. Sept. 1842. Einen Monat vorher, Schlafen in der Sonne. Vier Tage nach diesem Schlafen in der Sonne kam ihr der schreckliche Gedanke, sie sehe einen Wolf, und wieder 6 Tage darauf war ihr, als bekomme sie einen großen Schlag auf den Kopf. Nun sprach sie irre, ward wie toll, weinte viel, zuweilen Schwierigkeit zu atmen, spuckt weißen Schleim, konnte keine Empfindung angeben.
Sie bekam Bell.: Gelinderte Dynamisation in 7 Eßlöffeln, davon nach Schütteln ein Eßlöffel in 1 Glas Wasser und nach Rühren davon 1 Kaffeelöffel früh zu nehmen.“
„Gelinderte Dynamisation” heißt also Quinquagintamillesimalpotenz. „In 7 Eßlöffeln” etc.: Ein Kügelchen wird, wie ich es Ihnen erklärte, in die Flasche geschüttet; es wird immer morgens früh eingenommen. Vor jedem Einnehmen Flasche 10mal stark schütteln, 1 Eßlöffel daraus in 1 Glas frisch Wasser einrühren und hievon 1 Kaffeelöffel einnehmen. Rest wegschütten. Am nächsten Morgen alles wieder genau gleich machen.
4 Tage später neue Konsultation:
„16. — etwas ruhiger, konnte sich schnauben, was sie in ihrem Wahnsinne nicht konnte; redete noch so verkehrt, macht aber dabei nicht so viele Geberden. Gestern Abend viel geweint. Guter Stuhl. Schlaf ziemlich. Noch bewegt sie sich viel; doch vor Bell. viel mehr. Augenweiß voll rötlicher Adern. Scheint einen Schmerz im Nacken zu haben.“
„Soll aus dem Glase, worin ein Eßlöffel voll eingerührt war, ein Kaffeelöffel voll in ein zweites Glas Wasser einrühren, und davon 2 bis 4 Kaffeelöffel (täglich um einen steigend), morgens nehmen.“
Es geht also schon etwas besser, aber es sind die beiden neuen Bell.-Symptome: rotgeädertes Augenweiß und Schmerz im Nacken, dazugetreten. Kommen im Verlauf einer homöopathischen Kur mit dem vollkommen gut indizierten Mittel — wie es hier offensichtlich Bell. ist — solche Symptome vom Mittel heraus, die also kein zu deckendes Symptom an der Krankheit als Spiegelbild haben, so ist dies im allgemeinen das Zeichen zu starker Einzeldosen. Z. B. sagt dies § 156 des Organon. Man kann diesem Hervortreten von Mittel-Symptomen leicht abhelfen, wenn man die Einzelgaben noch etwas mehr verdünnt. Also ein zweites Glas voll Wasser, ein Kaffeelöffel aus dem ersten in dies zweite einrühren und nun erst hiervon einnehmen.
Hahnemann läßt steigende Dosen dieser höheren Verdünnung nehmen. Heute 2, morgen 3, übermorgen 4 Kaffeelöffel der jedesmal wieder frisch aus der Flasche hergestellten Verdünnung. Warum, kann ich nicht gut sagen. Wir müssen bedenken, daß wir erst Herbst 1842 schreiben, also ist alles noch im Experimentierstadium.
Die Patientin hat nun bisher 4 Tage eingenommen. Also sind 4 Eßlöffel aus den 7 in der Flasche weg. Folglich bleiben noch 3 Eßlöffel für eben oben genannte 3 Male.
Folgende Konsultation deshalb auf den 20. angesetzt:
„20. — viel besser, spricht vernünftiger, will etwas arbeiten, nennt mich und wünscht eine gegenwärtige Dame zu küssen. Von da fing ihr zärtliches Wesen an; — wird leicht ungehalten und nimmt übel, — schläft gut, weint sehr oft, wird aber zornig von einer Kleinigkeit, ißt mehr als gewöhnlich; wenn sie zur Besinnung kommt, liebt sie zu spielen, doch nur wie kleine Kinder.
Bell. ein Kügelchen höherer Potenz, 7 Eßlöffel, geschüttelt, in 2 Gläser, 6 Kaffeelöffel vom 2. Glase. Morgens früh.“
Also weitere Fortschritte. Obwohl etwas neue, aber auf alle Fälle nicht bedeutende Symptome erschienen sind, ist wohl das Beste: Weiterfahren mit Bell. 1 Kügelchen höherer Dynamisation wird also wieder gleich angesetzt wie vorher: In 7 Eßlöffeln Wasser und etwas Weingeist. Vor jeder Entnahme Flasche 10mal schütteln. 1 Eßlöffel voll heraus in ein 1. Glas frisch Wasser, umrühren. Ein Kaffeelöffelchen daraus in ein 2. Glas Wasser einrühren und von dort nun 6 Kaffeelöffelchen einnehmen. Danach alle Gläser ausschütten. Am nächsten Abend wieder genau gleich ansetzen. Und wieder 6 Kaffeelöffelchen nehmen.
Hahnemann behält also die Verdünnung durch 2 Gläser bei, da die Patientin eben zu sensibel ist, um schon die Ein-Glas-Verdünnung zu ertragen. Er läßt nun aber 6 Kaffeelöffelchen als Einzelgabe nehmen. Das ist schon erlaubt, denn die zuletzt genommenen 4 der vorangehenden Lösung wurden ja gut ertragen.
Die Flüssigkeit reicht wieder für 7 Tage. Also Konsultation am 28.
„28. — Den 22., 23., 24. sehr aufgeregt Tag und Nacht. Große Geilheit in Geberden und Worten, hebt ihre Röcke auf und will die Geschlechtsteile anderer berühren; gerät schnell in Zorn und schlägt jedermann.
Hyos. X 7 Eßlöffel etc. in 1 Glas Wasser; früh ein Kaffeelöffel.“
Nun haben sich die neuen, andersartigen Symptome aber doch deutlicher entwickelt. Treten im Verlaufe einer homöopathischen Kur solche neue, andersartige Symptome auf, d.h. solche, die nicht ins Arzneimittelbild des gerade verabreichten Mittels gehören, so ist das das Signal, daß nun ein besser indiziertes Mittel gesucht werden muß, das bisherige ist nun nicht mehr dem Fall angemessen.
Hahnemann sieht das neue Mittel in Hyos. Er gibt Hyos. X, ein Kügelchen, das muß heißen, Hyos. 30. Centesimalpotenz, denn Hyos. 30. Quinquagintamillesimalpotenz wird Qxxx geschrieben (nach dem Organon). Allem nach muß Hahnemann Hyos. eben noch nicht in Quinquagintamillesimalpotenz besessen haben, also gibt er die höchste Centesimalpotenz, die er besitzt. Das Kügelchen wird gleich gegeben wie die bisherigen Mittel, auch nach der Plusmethode, d.h. jede neue Gabe höher potenziert. Also Kügelchen quetschen — in Flasche mit 7 Eßlöffeln Wasser, schütteln, ein Eßlöffel heraus, umrühren, 1 Kaffeelöffel einnehmen. Rest ausschütten, selbe Verdünnung am nächsten Abend frisch herstellen und wieder gleich viel nehmen etc.
Interessant ist, daß Hahnemann hier also offensichtlich eine Centesimalpotenz nach der neuen Methode gibt, was ja einige moderne Homöopathen auch schon gemacht haben.
Nach wieder 7 Tagen ist die Lösung aufgebraucht:
Nächste Konsultation:
„5. Oktober. Wollte 5 Tage lang nichts essen, klagt Bauchweh; seit einigen Tagen weniger boshaft und weniger geil, auch vernünftiger. Allzu weicher Stuhl, Jücken über den ganzen Körper, vorzüglich an ihren Geschlechtsteilen. — Schlaf gut.
Saccharum lactis auf 7 Tage in 7 Eßlöffel etc. etc.“
Wieder etwas Fortschritte, aber auch wieder ganz neue Symptome! Das Bild kompliziert sich dadurch. Die Lage wird unübersichtlich. Was tut jeder gewissenhafte Arzt in solchem Fall? Anhalten und beobachten. Also gibt man am besten Saccharum lactis, ebenso wie die vorangehenden Mittel, ein Kügelchen in 1 Pulver Milchzucker, gequetscht und in neue Flasche geschüttet etc., so daß keinerlei psychologische Störmomente in die Kur gebracht werden. Nach 5 Tagen prüft Hahnemann nach, da ja S. 1. bloß als Notbehelf gegeben:
„10. — Den 7. arger Anfall von Bosheit, wollte alle Welt schlagen. Tags darauf den 8. Anfall von Schreckhaftigkeit und Furcht, fast wie beim Beginn ihrer Krankheit (Schreck vor einem eingebildeten Wolf). — Furcht man wolle sie verbrennen. Seitdem ruhig geworden und redet vernünftig und nichts Unziemliches seit den letzten 2 Tagen.
Sacch. lactis etc.“
Offensichtlich geht man nun doch der Heilung entgegen, aber das Bild ist noch nicht ganz stabilisiert. Darum noch etwas weiter Sacch. lactis.
„14. — völlig gut und verständig, den 18. — ebenso, doch oft etwas Kopfweh, Neigung, am Tage zu schlafen, weniger heiter.Neuer Schwefel (neue Dynamisation vom wenigsten Stoffe) 1 Kügelchen in 3 Gläsern; früh ein Kaffeelöffel.“
Wer das Organon studiert hat, weiß, daß Hahnemann keine Geisteskrankheit als geheilt ansieht, bevor sie nicht das passende Antipsoricum erhalten hat. Mit Antipsoricas allein heilt man nie definitiv. So ist auch hier nun der Moment gekommen, wo Hahnemann das nötige Antipsoricum für nötig hält. Die Tagesschläfrigkeit und der weniger heitere Gemütszustand, sowie wohl auch die Symptome, die damals unter Hyos. hervorgegangen sind, indizieren den Schwefel.
„Neuer Schwefel“ wäre nun eben Quinquagintamillesimalpotenz.
„1 Kügelchen in 3 Gläser“ heißt Kügelchen quetschen, in Flasche mit 7 Eßlöffel Wasser, schütteln, jeden Tag ein Eßlöffel heraus in ein 1. Glas Wasser, umrühren, 1 Kaffeelöffel heraus in ein 2. Glas, umrühren, ein Kaffeelöffel heraus in ein 3. Glas, umrühren, und nun hiervon 1 Kaffeelöffel einnehmen.
Wir sehen: Große Vorsicht. Das ist begreiflich. Die Patientin ist sensibel, das sahen wir bei Bell. Wenn wir nun Schwefel geben, so kann das bei unvorsichtiger Dosierung alles Erreichte wieder gefährden. Darum jedesmalige Verdünnung durch 3 Gläser.
„22. — sehr wohl, sehr wenig Kopfweh. Schwefel, nächste Dynamisation in 2 Gläsern.“
Da Schwefel durch 3 Gläser verdünnt gut ertragen wurde, kann man nun schon die bloß 2glasige Verdünnung anwenden.
„Brauchte dann noch den Schwefel mit Unterbrechung bis zum November, und war und blieb ein gesundes, verständiges, liebes Mädchen.“Erlauben Sie mir noch zwei allgemeine Bemerkungen zu diesem ersten Fall:
Einesteils sehen Sie darin, wie vorsichtig Hahnemann vorgeht, beispielhaft auch noch für uns Heutige. Andernteils nennt Hahnemann leider nirgends bei den neuen Potenzen den Potenzgrad. Im Organon steht, man beginne jeweils mit den niedersten Potenzgraden, also Q1, Q2 etc.
Welcher Potenzgrad ist dann jeweils gemeint, wenn es heißt, man setzt eine neue Flasche mit einem Kügelchen höheren Potenzgrades an? Das hängt von der Zahl der Schüttelschläge ab, die die Flasche erhalten hat. Haben wir z.B. in unserem Falle mit Bell. Q 1 begonnen — in 7 Eßlöffeln also für 7 Tage, da ja pro Tag ein Eßlöffel gebraucht wird, so hat man 7mal 10mal geschüttelt = 70 Schüttelschläge total. Der nächste Potenzgrad darf also Q2 sein, denn die einzelnen Kügelchenpotenzen unterscheiden sich durch je 100 Schüttelschläge voneinander. Hätten wir aber Bell. Q1 in 40 Eßlöffeln Wasser gelöst, zu 40 Dosen, also 40mal 10 Schüttelschläge = 400, so dürfte die nächste Kügelchenpotenz, die wir zur Bereitung einer neuen Flasche brauchen, nicht unter Q5 sein.
Der 2. Fall: „O-t, ein Schauspieler, 33 Jahre alt, verheiratet.
- Januar 1843. Seit mehrern Jahren oft böser Hals, so wie jetzt seit einem Monate. Das vorige Halsweh dauerte 6 Wochen. Beim Speichel-Schlingen Empfindung wie Sticheln, Gefühl von Verengung und Wundheit.
Wenn er das Halsweh nicht hat, leidet er an einer Spalte, an einem Risse des Afters, mit heftigem, schründenden Schmerze; dann ist der After entzündet, geschwollen und verengert; mit großer Anstrengung kann er dann nur seinen Stuhlgang von sich geben, wobei geschwollene Haemorrhoidal-Venen hervortreten. Er nahm den 15. Januar früh nüchtern einen Kaffeelöffel einer Auflösung von 1 Streukügelchen Bell. X° niedrigster damaliger Dynamisation, in 7 Eßlöffel Wasser aufgelöst, wovon man einen Eßlöffel in 1 Trinkglas voll Wasser wohl eingerührt hatte.“
Beginn der Kur also wieder mit Bell. X°, ein Kügelchen. Das heißt Bell. 30. Centesimalpotenz. Denn diese haben die alten Homöopathen stets mit röm. X bezeichnet. Man beginnt ja auch laut Organon keine Kur mit Q-Potenzen gleich der 30., sondern stets mit den niedersten Dynamisationsgraden. Auch heißts „niedrigster damaliger“ Dynamisation, während Hahnemann von den Q-Potenzen immer als von den „neuen“ Dynamisationen redet. „Damalig“ hat also den Sinn von „früheren“.
„15. — Abends verschlimmertes Halsweh.
16.— Halsweh vergangen, aber das Übel des Afters wieder da, — wie beschrieben, offener Riß mit Schründe-Schmerz, Entzündung, Geschwulst, klopfender Schmerz und Verengerung. Gleichwohl abends ein schmerzhafter Stuhlgang. Er gestand, vor 8 Jahren einen Schanker gehabt zu haben, den man, wie gewöhnlich, durch Ätzmittel zerstört hatte, wonach alle die genannten Übel entstanden.
Den 16. Januar Merc. viv. 1 glob. niedrigster, neuer Dynamisation I, (welche ungeheuer weniger Stoff enthält als die bisherige), zum Einnehmen ebenso zubereitet und ebenso eingenommen (nach jedesmaligem Schütteln der Flasche) ein Löffel in 1 Glas Wasser, wie bei Bell., wohl umgerührt.“
Das Halsweh war also merkwürdig rasch weg. Dann kam aber die Afteraffektion wieder. Hahnemann inspiziert die Sache, und da erfolgt das Geständnis des unterdrückten Schankers. Auf die Symptome hin wählt Hahnemann Merc. viv. Er gibt Q I.
Schon am 20. kommt der Patient wieder, nachdem er also nur 4mal von der Flüssigkeit genommen hat:
„20. Januar. Fast kein Halsweh mehr. After besser; doch fühlt er da noch Wundheitsschmerz nach den Stuhlgängen; hat da kein Pulsieren mehr, keine Geschwulst des Afters und keine Entzündung. After weniger verengert.
Ein Kügelchen Merc. viv. (Q 2) zweiter solcher Dynamisation, ebenso zubereitet und eingenommen, morgens.“
Der Patient kam also schon nach 4 Tagen wieder. Er hat also noch 3 Eßlöffel in der Flasche. Da alles auf der Besserung scheint, wird er mit der Weisung nach Hause geschickt, nun zuerst noch die 3 restlichen Löffel zu brauchen, was bis am 23. gehen wird, und dann mit dem neuen Kügelchen Merc.Q2 eine neue Flasche mit 7 Eßlöffeln anzumachen und wieder gleich weiterzufahren und sich aufs Ende, also auf den 30., wieder zu. stellen.
Er kommt aber schon am 25. wieder, nachdem er also erst 2mal von Merc. Q2 genommen hat:
„25. Januar. Fast ganz gut im Halse, aber am After Schrundschmerz und starke Stiche, starker Schmerz im After nach dem Stuhlgange, noch etwas Verengerung daselbst und Hitze.“
Da der Patient erst 2mal von Q2 eingenommen hat, kann man da noch nicht viel sagen und muß ihn heimschicken mit der Weisung, erst mal Q2 fertig zu nehmen. Dies ist am 30. der Fall:
„30. Nachm. die letzte Gabe (1 Kaffeelöffel). Den 28. After besser, Halsweh zurückgekehrt; Schrunden im After ziemlich stark.
1 Kügelchen Milchzucker auf 7 Tage, ebenso zubereitet und einzunehmen.“
Nun ist also wieder das Halsweh da. Die Sache wird auch hier etwas merkwürdig. Wiederum entschließt sich Hahnemann zu einer Placebo-Pause für 7 Tage: 1 Kügelchen Sacch. lactis genau so angemacht wie die vorangegangenen Medizinen.
„7. Februar. Starker Geschwürschmerz im Halse. Bauchweh, doch gute Stühle, aber mehrmal nacheinander, bei großem Durste. Am After ist alles gut.
Sulphur Q2 in 7 Eßlöffel, wie oben.“
Die Situation hat sich unter Placebo gar nicht geklärt. Die jetzigen Symptome deuten auf Sulphur, das als Q2 gegeben wird, in 7 Eßlöffeln Wasser, also genau wie bekannt. Reicht für wieder 7 Tage.
”13.— Hatte Geschwürschmerz im Halse, besonders beim Schlingen des Speichels, dessen er jetzt in Menge hat, besonders viel den 11. und 12. Einige Verengerung des Afters, vorzüglich seit gestern.
Nun gerochen hier (…) und Merc. viv. II/o, 1 Kügelchen, wie immer in 7 Eßlöffel, 1/2 Löffel Branntwein und einzunehmen wie vorher.“
Durch Sul. hat sich also keinerlei Besserung angebahnt. Im Gegenteil hat Sul. eher wieder Merc.-Symptome „herausgetrieben“. Sul. hat ja heute noch den Ruf, so Symptome herauszutreiben, wo sie undeutlich sind. Hahnemann entschließt sich deshalb nochmals für Merc. viv. Er gibt Merc.II/o = 1 Kügelchen, nachdem er vorerst an Merc. riechen ließ. Was heißt nun dies Merc. II/o? Das ist wirklich der schwierigste Punkt für eine Deutung. Ist es Mercur 6. Centesimalpotenz? Das schreibt man aber gewöhnlich Merc. II°. Und wieso sollte Hahnemann nun von den vorher begonnenen Q-Potenzen abgehen? Er hat voran zuletzt Merc. Q2, geschrieben und gegeben. So kann er jetzt nicht nochmals dasselbe geben. Heißt dies röm. II vielleicht auch 6, wie bei den alten Centesimalpotenzen? Dort ist ja 3 = I, 6 = II, 9 = III etc., indem die röm. Ziffern die besonders wirksamen Potenzen bezeichnen. Er würde also einen Sprung auf Q6 machen. Das kann schon sein. M. E. ist das die plausibelste Erklärung.
Das Kügelchen wird wie üblich angemacht und genommen, reicht also auch wieder für 7 Tage.
„20.— Hals besser seit dem 18.; viel am After gelitten — Stuhlgang macht Schmerz beim Abgange; weniger Durst.
§/o Milchzucker in 7 Eßlöffel.“
Nun hat sich die Sache wieder eher auf den After verlagert, wenngleich nicht mehr so stark. Wir begreifen die Interpolation von nochmals 7 Tagen Placebo-Applikation. Darin kann sich die Situation klären.
„3. März. Kein Halsweh mehr. Beim Gehen zum Stuhle kommt ein blutleerer Aderknoten heraus (ehedem mit Brennen und Schründen), jetzt bloß Jucken an der Stelle.
Riechen acid. nitri. — und §/o, Milchzucker in 7.“
Wirklich hat sich die Situation nun geklärt. Das typische Nit.ac.-Symptom ist aufgetreten und Hahnemann gibts gleich, per inhalationem. Daneben nun nur noch weiter Placebo, 1 Kügelchen zum Lösen in 7 Eßlöffel Wasser etc., immer nach der nun bekannten Methode.
Am 20. März erst kommt der Patient wieder:
„20. März. Fast kein Schmerz mehr nach dem Stuhlgange; gestern etwas Blutabgang mit dem Stuhle, (altes Symptom). Hals gut, nur beim Kalttrinken noch etwas Empfindung.
Nun Riechen acid. nitri. — (Riechen geschieht nach öffnen eines kl., ein Loth geringen Weingeists oder Branntwein enthaltenen Fläschchens, worin ein Kügelchen Arznei aufgelöst ist, auf 1, 2 Augenblicke zu riechen.)
Blieb dauernd wohl.“
Der Patient kam also am 20. wieder, da er eben am Vortage etwas Blutabgang beim Stuhl bemerkt hatte. Hahnemann merkt an: ,altes Symptom“, d.h.: nichts Besondres dran, alles ist in Ordnung. Wir haben eine Andeutung des Heringschen Gesetzes. Wenn ein altes Symptom im Verlaufe einer Kur zurückkehrt, so ist das immer ein gutes Zeichen. Hahnemann hat ja das Heringsche Gesetz gekannt, er schätzte Hering sehr hoch.
Nach heutiger Ansicht wäre die erneute Applikation von Nit. ac. hier nicht nötig gewesen, da alles auf besten Wegen ist und somit kein Rückschritt die erneute Repetition von Nit. ac. erfordert hätte.
Auch zu diesem Fall noch eine Allgemeinbemerkung. Viele von Ihnen hätten wahrscheinlich schon gerade anfangs Nit. ac. gegeben. Denn die Symptome sind ja so typisch. Die Kenntnis der einzelnen Mittel der Arzneimittellehre hat seit Hahnemanns Zeiten doch deutlich zugenommen. Wir müssen uns klar sein, daß er viele Mittel erst von A bis Z neu erforschen mußte; was überliefert war, war zumeist pure Phantasie. Und Nit. ac. ist auch nicht gerade ein Mittel, das man täglich braucht.
Und nun erlauben Sie mir noch ein kurzes Schlußwort: Als Deutschinterpret bei der Übersetzung der 6. Auflage des Organon ins Französische durch Dr. Pierre Schmidt von Genf mußte ich mich schon 1946 intensiv mit dem Organon befassen. Die Frage der Quinquagintamillesimalpotenzen hat mich gleich sehr angezogen. Ab 1949 habe ich, z.T. mit Dr. Schmidt zusammen, alle Antipsorica der Reihe nach selbst zu bereiten begonnen und angewendet und so nach und nach eine gewisse Erfahrung gesammelt. 1953 traf ich nun per Zufall bei der Lektüre von Stapfs Archiv auf diese Heilungsfälle. Sie können sich denken: Ich hatte einen freudig erregten Tag. Denn hier fand ich die Bestätigung, daß ich das Organon richtig verstanden habe und daß Hahnemann genau die gleichen Fragen bewegten wie mich, wenn man so eine Kur durchführt.
Ich kann die Quinquagintamillesimalpotenzen eben nicht nur als ein historisches Kuriosum auffassen, sondern bin der festen Überzeugung, daß sie ihre ganz bestimmten Vorteile haben. Wenn ich einmal eine Erfahrung von etwa 10 Jahren hinter mir habe, will ich mich gerne äußern. Hahnemann verspricht durch sie vor allem eine raschere Heilung chronischer Leiden. Wie steht das in diesen Fällen:
Fall 1, die Geisteskrankheit heilt in 1 ½ Monaten aus. Dazu wage ich nicht viel zu sagen.
Fall 2, eine alte Lues, heilt in 2 ½ Monaten. Hat sich die Heilung wirklich 4 Jahre aufrechterhalten — Zeitraum, den Bönninghausen bei echter Heilung fordert, so ist das, verglichen mit der schulmedizinischen Behandlungsweise solcher Fälle, glänzend. Hahnemann hat leider nicht mehr selber nachprüfen können. An uns ist es, diese Sachen zu verifizieren.
Auch aus einem andern Grund aber sind die Fälle und überhaupt die Quinquagintamillesimalpotenzen erwähnenswert: Zeigen sie doch den noch im hohen Alter von fast 90 Jahren so regen Geist Hahnemanns. Noch experimentiert er weiter, noch sucht er seine bisherigen glänzenden Entdeckungen zu verbessern. Keine Spur von geistiger Verknöcherung und Senilität, wie schon behauptet wurde. Im Gegenteil, auch hierin ein leuchtendes Beispiel für die Nachwelt.
Zusammenfassung: Zwei Heilungen Hahnemanns mit Quinquagintamillesimalpotenzen aus den Jahren 1842 und 1843, die eine, eine Geisteskrankheit, mit Bell., Hyos. und Sul., die andere, eine Lues III, mit Bell., Merc. viv., Sul. und Nit. ac., publiziert in Stapfs Archiv 21/1/S. 79 u. ff., Bönninghausen mitgeteilt.
Résumé: Deux guérisons authentiques, réalisées par Hahnemann, en 1842 et 1843, avec ses fameuses dynamisations cinquantemillésimales, la première, une affection mentale, avec Bell., Hyos. et Sul., l’autre, une syphilis tertiaire, avec Bell., Merc. viv., Sul. et Nit. ac., publiées dans les Archives de Stapf, vol. XXI/1/p. 79 etc., d’après une correspondance personnelle à Boenninghausen,
Summary: Two authentic cures realized by Hahnemann in 1842 and 1843, with plussed potencies (quinquagintamillesimal potencies), the first, a mental illness, with Bell., Hyos. and Sul., the second, a syphilis III, with Bell., Merc. viv., Sul. and Nit. ac., published in Stapfs Archives, vol. XXII/1/p. 79 etc., from a personal correspondence to Boenninghausen
Anschrift des Verf.: Dr. med. J. Künzli, F. J. H. L., St. GalIen/Schweiz
aus: DHM 1956 / Heft 9
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