Falldarstellungen seiner Schüler

Harnsteine und Hautpilze

Dr.med.vet.Marc Bär

Hippie, ein im Februar 1990 geborener männlicher Tibet-Terrier ist im ersten Lebensjahr gesund. Im Frühling 1991 beginnen Hautprobleme: Krusten und Schuppen verbunden mit Juckreiz. Im Sommer 1991 kommt eine Entzündung des Gehörganges hinzu, welche im Dezember offenbar bis ins Innenohr reicht – Hippie zeigt nämlich Gleichgewichts-störungen[1]. Beide Beschwerden sowie eine sich seit Februar 1992 entwickelnde Entzündung des Kinns verschlechtern jedoch seinen Gesundheitszustand.

Bis zu diesem Zeitpunkt wurde nicht aggressiv therapiert, aber nun werden Antibiotika lokal und peroral[2] eingesetzt. Das Kinn wird untersucht, es läßt sich ein Dermatophyt[3], Microsporon canis, isolieren. Nach dem Absetzen der Antibiotika schließt sich die übliche vierwöchige Therapie mit Griseofulvin[4] peroral an. Nach einer Ohrspülung unter Narkose und längerer lokaler Therapie sind zwar die Ohren wieder in Ordnung. Die Mykose am Kinn aber rezidiviert und wird ein zweites Mal mit Griseofulvin und schließlich mit Nizoral[5] behandelt.

Im April 1993 beginnt Hippie schließlich, auf den Betten zu urinieren. Eine Untersuchung des Harnsediments ergibt dreifach positiv Tripelphosphate[6], welche mittels Diät aufgelöst werden können. Dennoch wird nun die Homöopathie eingeschaltet, und am 13. April kommt Hippie mit seiner Besitzerin zur Anamnese.

Hippie, der sich unruhig verhält und im ständigen Wechsel einmal nervös abliegt, dann wieder aufsteht, herumrennt, wieder abliegt usw., kommt aus einer seriösen Zucht. Die Übernahme verlief ohne Probleme, er war damals zwölf Wochen alt und schloß sich sofort den neuen Menschen an. Obwohl anfangs kleiner als die Katzen der Besitzer-familie, hatte er vor jenen keine Angst.

Schon zu Beginn hätte er die Angewohnheit gehabt, auf Betten zu urinieren und war lange nicht stubenrein. Nun begann diese Unsitte also wieder, und der Harnbefund zeigte wieso: War doch die Blase durch die Steinchen entzündet, daher der häufige Harndrang.

Hippie sei ein nervöser Hund, vor allem, wenn man etwas an ihm tun will. Er wird von der ganzen Familie – Vater, Mutter und zwei Töchter von sechzehn bzw. zwanzig Jahren -, die übrigens sehr sympathisch und aufgeschlossen ist, geliebt und verwöhnt. Dennoch gehe er, sobald die Schlafzimmertüre offen stehe, auf ein Bett, um dort zu urinieren. Weich gebettet, läßt sich, muß Hippie denken, besser entleeren. Dies könne sogar unmittelbar nach einem Spaziergang passieren. Die Besitzerin meint, es sei, weil er sich in den Mittelpunkt stellen will – nicht nur der Blasenentzündung wegen.

Morgens erhält er vor der Familie etwas Futter, tut man dies nicht, reklamiert[7] er jaulend. Auch sein Futter nachmittags muß bis 14.oo Uhr im Napf sein, will man nicht ein nervöses Getue riskieren. Liebend gerne würde er die Katzen vertreiben, um deren Futter zu fressen, da müsse man schon sehr bestimmt „Nein“ sagen. Sonst seien beide Katzen ihm gegenüber eher dominant, nur nicht, wenn es ums Futter geht.

Hippie läuft noch immer umher und schaut jetzt gerade zum Fenster heraus.

Zu Hündinnen habe er ein naives Verhältnis: Er markiere zwar, interessiere sich aber nicht besonders für sie. Der Geschlechtstrieb sei klein, Tibet-Terrier sind ohnehin erst mit 2 1/2 Jahren geschlechtsreif.

Hippie will nun ins Freie und kratzt am Fenster, zu uns Menschen hat er bis jetzt keinen Kontakt aufgenommen; er ist überall im Raum und ständig in Bewegung.

Hippie ist allgemein ungeduldig: Warte man beispielsweise bis nach dem Frühstück, um mit ihm eine kleine Runde zu drehen, tue er blöd und jaule. Zu Hause folgt er der Besitzerin auf Schritt und Tritt, kann selbst aber gut allein gelassen werden. Wenn Familienmitglieder nach Hause kommen, freut er sich sehr. Seine Ungeduld sei besonders ausgeprägt beim Fressen und beim Spazierengehen. Er liebt es nicht besonders, wenn etwas an ihm gemacht wird, beispielsweise, wenn er gekämmt wird: Zunächst dauert es lange, bis er dann Ruhe gebe, schließlich liege er irgendwann ab und habe es dann doch gar nicht so ungern. Er knurrt nur, wenn es ihn schmerzt, also beispielsweise, wenn man an den Haaren rupft. Wenn er schmutzig ist, hat er ein Waschbad gerne. Er beißt alles an, schon mehrere Paar Schuhe mußten deswegen weggeworfen werden[8]. Leidenschaftlich gräbt er nach Mäusen und spielt, wenn sie tot sind, mit ihnen. Am liebsten würde Hippie zwischen Besitzer und Besitzerin auf dem Bett schlafen.

Hippie ist ein anspruchsloser Fresser und nicht gierig. Knochen kann man ihm wegnehmen, er vergräbt sie auch nicht. Die Augen tränen fast immer, er sehe schlecht[9] und finde oft seinen Ball nicht. Dafür höre er gut und wisse z.B. schon von weitem, wenn sich das Auto des Besitzers nähert. Die Ohren sind nun in Ordnung. Damals bei der Entzündung hatte er schon Schmerzen, wenn man ihn nur an den Ohren streichelte. Der Geruchssinn sei auch gut, aber jagen tue er nicht. Ab und zu streune er und wurde schon relativ weit vom Haus entfernt aufgegriffen. Den Mund hat Hippie beim Schlafen teilweise offen. Der Pilz am Kinn dehnt sich nun auf die Lippen aus.

Immer noch läuft Hippie herum und kratzt regelmässig am Fenster, weil er nach draußen will.

Der Pilz scheine auch zu jucken, denn sehr häufig reibe er das Kinn am Boden. Hippie frißt, wie gesagt, nicht gierig, aber alles auf einmal. Weil ihm die Haare im Gesichtsfeld hängen, sind nach der Fütterung der Napf und die Umgebung schmutzig, sich selber putze er aber gut. Er bekommt nichts vom Tisch, das einzige was er immer frißt, sind Guetzlis[10] – die nehme er aber weniger aus Gluscht[11], sondern eher, um mit den Besitzern in Beziehung zu treten.

Der Durst sei normal. Frisches und damit kühles Wasser aus der Leitung hat er lieber als abgestandenes, das er sein läßt. Er trinke auch gerne aus fließenden Brunnen. Kotabgang kann beobachtet werden. Stuhl und Stuhlgang sind normal, Flatulenz ist keine zu beobachten. Kot hinterläßt er im Haus nie, nur Urin.

Vor Hunden ist er furchtlos, auch vor größeren. Kleinere Hunde greift er nicht an, bei gleich großen oder größeren wehrt er sich, aber nicht tollkühn; er weicht aus, wenn er klar der Unterlegene ist. Nur an der Leine tue er blöd[12].

Endlich sitzt Hippie nun ab und beginnt am mitgebrachten Kauknochen zu nagen.

Mit Kindern, auch mit fremden, ist er brav; er kläfft nur, wenn Kinder am Gartenzaun vorbeispazieren.

Schon steht Hippie wieder auf und rennt herum.

Zweimal hatte Hippie epileptiforme Anfälle: Er stand dann und zitterte, saß wieder ab und fiel um, er konnte nicht gehen und erbrach nach etwa zwanzig Minuten – dann war alles vorbei. Das Bewußtsein blieb währenddessen mehr oder weniger erhalten.

In der Nacht muß Hippie angebunden schlafen; sonst würde er ein Tohuwabohu anrichten, sobald nur eine Mücke summe oder wenn die Katzen nach Hause kämen. Er scheint ein Nachtvögelchen zu sein und ist nachts von sich aus aktiv. Lieber als im Korb liegt er auf weichen Böden, die Schlaflage ist unterschiedlich: seitlich, auf dem Rücken oder auf dem Bauch. Morgens ist er sofort wach, außer, es sei wirklich noch sehr früh. Am Sonntag will er ab 9.oo Uhr ins Schlafzimmer der Besitzer.

Hippie hat es nicht gerne zu kalt. Im Schnee liegt er nicht ab, obwohl er sich schon sehr gerne im Schnee wälzt und mit Schnee spielt. Nun endlich liegt er ab und ist ruhig.

Autofahren tut er gerne. Nur beim Warten, da sei er kein Hirsch, weder im Auto noch vor einem Geschäft, da werde er sehr ungeduldig. Aber ungeduldig ist er ja sowieso schnell. Geräusche stören ihn nicht, neue Dinge auf dem Spaziergang sind ihm egal. Er sei einfach ein nervöser und zappeliger Hund; man könne beispielsweise nicht mit ihm neben dem Straßenverkehr spazieren gehen. Es sei bei ihm keine Angst, sondern eine aktive Nervosität. Hippie tröstet die Besitzer, wenn sie krank oder traurig sind. Er ist nicht faul, sondern lebhaft und ausdauernd.

Die Haut sei immer ein Problem gewesen, zum Beispiel habe er Schuppen in den Achselhöhlen, da kratze er sich dauernd. Wenn die Haut verletzt sei, kratze und schlecke er noch mehr. Auch am Penis lecke er sich intensiv, obwohl nur eine leichtgradige Vorhautentzündung besteht. Vor kurzem hatte er einmalig einen Samenerguß im Schlaf. Im Schlaf sieht man keine Träume, weder zuckt er, noch gibt er Laute von sich. Die Lippen und Bindehäute sind rot, der After nicht. Wenn Hippie schmutzig ist, wälzt er sich und will den Schmutz los sein. Ins Wasser geht er nur sehr ungern, aber durch Pfützen zu gehen, das liebe er.

 

Hierarchisation und Repertorisation

II.      gut beobachtete Geistes- und Gemütssymptome:

  1. Ungeduld über Kleinigkeiten, „mind, impatience, trifles about“;
  2. Erregung über Kleinigkeiten, „mind, excitement, trifles, over“;
  3. Waschsucht, „mind, washing, cleanness, mania for“ (enthält kein Medorrhinum);
  4. genau in Kleinigkeiten, „mind, conscientious about trifles“ (SR);
  5. möchte nachts spielen, „mind, play, desire to, night“ (SR) bzw. fröhlich am Abend, „mind, cheerful, night“ (enthält kein Medorrhinum);

III.      Allgemeinsymptome:

  1. Phosphate im Urin, „urine, sediment, phosphates“;
  2. Verlangen nach kalten Getränken, nach Eis, „stomach, desires“: „cold drinks“,

„ice-cream“ (SR);

V.      Lokalsymptome:

  1. Ekzem im Mundbereich, „face, eruptions, herpes, lips, about“.

 

Verlauf

13.4.1993:

Mein Wahl des Arzneimittels fällt zunächst auf Sulfur – nicht zuletzt aufgrund des Symptoms „erträgt keinen Schmutz“ („mania for cleaness“). Er erhält Sulfur 200 (alle Arzneien: Schmidt-Nagel).

26.5.1993:

Keine Befindensveränderung.

Ich verabreiche Medorrhinum M.

7.7.1993:

Das Kinn, das zuvor hochrot war, ist nun zu rosa abgeblaßt. Hippie ist deutlich ruhiger geworden und uriniert nicht mehr in die Betten.

18.11.1993:

Zuerst zeigte das linke, nun das rechte Ohr eine eitrige Absonderung. Er uriniert nicht mehr in die Betten, hat immer noch wenig Geschlechtstrieb. Inzwischen ist er wieder rascher nervös. Er hat keinen Juckreiz mehr, Kinn und Lippen sind in Ordnung und zeigen eine normale Hautpigmentierung. Epileptiforme Anfälle sind nie wieder aufgetreten.

Ich gebe wieder Medorrhinum, zunächst in der Potenzstufe Q1.

25.11.1993:

Die Ohren sind noch nicht besser. Im Harnsediment finden sich zweifach positiv Tripelphospate, allerdings ohne klinische Symptomatik.

Nun verabreiche ich die zweite Dosis Medorrhinum M.

8.12.1993:

Das rechte Ohr ist immer noch schmerzhaft.

Da erst 13 Tage nach der Mitteleinnahme vergangen sind, warte ich und verabreiche kein Mittel.

28.1.1994:

Er uriniert vielleicht etwas häufig. Das Harnsediment ist in Ordnung.

2.2.1994:

Er uriniert noch immer etwas zu häufig, sonst ist er beschwerdefrei.

Er erhält Medorrhinum XM.

21.7.1994:

Mund und Harn sind in Ordnung, nun interessiert er sich für Hündinnen.

Er hatte möglicherweise einen epileptiformen Anfall: Es wurde zwar kein Anfall beobachtet, aber er war etwas verstört, als die Besitzer nach Hause kamen.

Er bekommt keine Medikation.

10.7.95:

Das rechte Ohr zeigt einen schwarzen Inhalt. Drei Monaten zuvor gab es eine kurze Periode, wo er wieder ins Bett urinierte. Der Zustand ist aber eindeutig stabil.

Nun verabreiche ich die zweite Dosis Medorrhinum XM.

 

Diskussion

Die Ungeduld bei Kleinigkeiten war bei Hippie sicherlich ein besonders auffallendes Geistes- und Gemütssymptom. Nach Dr. Künzli sind alle Rubriken wertvoll, welche das Harnsediment betreffen; deshalb habe ich dieses Zeichen als relativ hochwertiges und sicheres Allgemeinsymptom eingestuft. Die Manie für Sauberkeit könnte gedeutet werden als Manie, sich die Hände zu waschen – in der letzteren Rubrik ist Medorrhinum enthalten (dann müßte es aber auch so in der Repertorisationsliste stehen). Die Genauigkeit in Kleinigkeiten – er hält sich peinlich genau an die Zeiten des Fressens und Spazierengehens – und die emotionale Erregung durch Kleinigkeiten sind ebenfalls sichere Geistes- und Gemütssymptome. Bei dem Allgemeinsymptom „Verlangen nach kalten Getränken“, wurde, um kein Mittel zu verpassen, die Rubrik „Verlangen nach Eis“ miteinbezogen, welche als Nachtrag Medorrhinum enthält.

Um Hippies Bereitwilligkeit, nachts jederzeit ein Tohuwabohu anzurichten, Rechnung zu tragen, wurden die Rubriken „Lust nachts zu spielen“ und „Fröhlichkeit abends“ herangezogen. Da dies jedoch eine bloße Interpretation sein könnte, wird dieses Symptom nicht besonders hoch gewertet.

Was mir bei Tieren, die Medorrhinum benötigen, häufig aufgefallen ist, nämlich eine Bauchlage im Schlaf, war bei beiden Medorrhinum-Fällen[13] nicht vorhanden. Dr. Künzli bemerkte aber immer wieder, daß fehlende Symptome nicht gewertet werden dürfen. Dennoch: Schlaf in Bauchlage ist der Anatomie wegen bei Katzen und Hunden selten. Tritt die Bauchlage regelmäßig auf, so sollte die Rubrik „sleep, position, abdomen on“ unbedingt herangezogen werden. In dieser Rubrik ist Medorrhinum bei Hunden (und bei Pferden – was sonst bedeutet: „für diese beiden Tierarten“?) eine Arznei, die einen Punkt verdient.

Die Dominanz und die Unruhe von Medorrhinum ist im vorliegenden Fall schön zu beobachten, die betreffenden Rubriken weisen ebenfalls auf Medorrhinum hin. Auch wenn dieses Symptom nicht vorhanden ist, können Medorrhinum-Fälle gelöst werden, wie dem Beispiel dieser Hierarchisierung zu entnehmen ist (verstehe ich nicht ganz}.

Dieser Fall zeigt wieder einmal, welche Wichtigkeit jede einzelne Bemerkung Dr. Künzlis hat: Ohne die Bedeutung der Rubrik „urine, sediment, phosphates“ zu beachten, wäre das heilende Mittel Medorrhinum  sicherlich viel schwieriger zu finden gewesen.

 

  1. durch Miteinbezug des Innenohrs, da sich hier das Gleichgewichtsorgan mit seinen Knöchelchen befindet
  2. Einnahme durch den Mund
  3. ein Hautpilz
  4. ein Antimykotikum (Antipilzmittel)
  5. ein anderes Antimykotikum
  6. eine Art Blasensteine
  7. schweizerdeutscher Ausdruck für „sich beschweren“
  8. junge Hunde tun das gerne
  9. Tibet-Terrier haben Haare vor den Augen und sind deshalb im Sichtfeld teilweise eingeschränkt.
  10. schweizerdeutscher Ausdruck für „Bonbons“
  11. schweizerdeutscher Ausdruck für „Lust“, „Verlangen“
  12. umgangssprachlicher Ausdruck für ???
  13. Der Verfasser bezieht sich auf den Fall „Fragmentierter Processus coronoideus“.
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