Falldarstellungen seiner Schüler

Rezidivierende Stimmbandpolypen

Dr.med Maria Bormann

Der 58-jährige Patient kam am 9.8.95 zur Erstanamnese wegen rezidivierender Stimmbandpolypen. Diese bestanden zu dem Zeitpunkt seit Jahren. Sie wurden schon fünfmal chirurgisch abgetragen, wobei sich die Abstände zwischen HNO-ärztlichern Eingriff und Nachwachsen der Polypen immer mehr verringerten. Zuletzt betrug er drei bis vier Monate. Über neun Monate hatte der Patient eine Prednisolontherapie erhalten, die, außer vieler Nebenwirkungen, hinsichtlich des Polypenwachstums nichts änderte. Auch eine logopädische Betreuung konnte das erneute Wachstum nicht verhindern. Ein Rezidiv bemerkte er jeweils an der plötzlich sehr heiseren, brüchigen, belegten Stimme und an einem dauernden Räusperzwang. Die Angst des Patienten vor weiteren Eingriffen und vor einer Entartung der nachwachsenden Polypen führten ihn schließlich zur Homöopathie.

Eigenanamnese

Er hatte viele Kinderkrankheiten, die ohne Komplikationen verlaufen seien. Seit vielen Jahren bestehen Herzprobleme: Schon seit seinem 30. Lebensjahr leidet er an Herzrhythmusstörungen. Er nimmt deshalb regelmäßig Isoptin. Am rechten Nebenhoden wurde eine Zyste entfernt. Außerdem hatte er ein Fibrom am Steiß und ein ca. 2×2 cm großes Lipom am Rücken links der Wirbelsäule. Seit seiner Kindheit hatte er häufig Durchfall, der sich besonders bei Aufregungen, bei Prüfungsangst, bei Unsicherheiten (bis heute) zeigt. Als Jugendlicher hatte er ein ausgedehntes Ekzem, das nach etwa zwei Jahren durch intensive Salbenbehandlung (vermutlich Zinksalben) endlich abgeheilt war. Sehr viele Jahre hatte er eine sehr fettige Gesichtshaut und fettige Haare. Diese seien schon ab dem 20. Lebensjahr ergraut. An gegenwärtigen Beschwerden nennt er folgende Symptome: Sehr oft erkältet. An ihm gehe keine Grippewelle vorüber. Wenn er lange vor dem Computer sitzt, tränen ihm die Augen; Tränenfluss hat er auch an den Tagen, wo er sich schlapp fühlt. Oft seien die Lider gerötet. Seit etwa fünf Jahren Einschlafstörungen, besonders nach positiven Erlebnissen. Er wacht auch nachts mehrfach auf, kann aber dann schnell wieder einschlafen.

Im gelenkten Bericht kommt folgendes zur Sprache:

Er isst nicht übermäßig gern. Er kann auch fasten. Er bekommt massive Blähungen von Äpfeln und Zwiebeln. Fett verträgt er überhaupt nicht. Sein Bauch ist immer in Bewegung, „er knurrt und gluckert.“ Sein Strahl ist beim Wasserlassen dünner geworden. Nachts muss er ca. zweimal austreten gehen. Die Prostata sei in Ordnung. Er träumt sehr viele, meist schöne Träume. Als Kind und Jugendlicher habe er dagegen unter Alpträumen gelitten. Hitze verträgt er, ebenso Kälte. Er kommt leicht ins Schwitzen, er ist immer gut durchblutet und fühlt sich warm. Nachts oft durchgeschwitzt, besonders in der Lendengegend. Oft geht es ihm im Frühjahr und Herbst schlecht. Die Übergangszeiten sind schwieriger. Reizklima belastet ihn. Vor Sturm und Gewitter geht es ihm schlecht. Bezüglich seiner Mentalität erzählt er, dass er früher sehr impulsiv gewesen sei, auch mal geschrieen habe. Wütend wird er noch heute, wenn ihn ein Freund beleidigt. Im Betrieb hat er keinen Ärger, ebenso wenig mit seiner Frau. Zu seinen Kindern war er gut – ein Spaßmacher. Als Kind sei er sehr ängstlich gewesen, später habe er die Angst mit Vernunft beherrscht. Heute hat er große Angst vor Operationen und vor Krankheiten. In der Familie gibt es Depressionen, einen Herzinfarkt, Brustkrebs und Nierenentzündungen. Bei der Untersuchung fallen neben dem faltenreichen Gesicht kariöse Zähne auf (Karies bestehe schon seit der Schulzeit), sehr viele Leberflecke und abgebrochene Fingernägel. Sonst keine auffälligen Befunde.

Hierarchisation und Repertorisation

Folgende Symptome zog ich zur Mittelfindung heran und brachte sie in hierarchische Ordnung:
I. Auffallende, sonderliche Zeichen und Symptome entsprechend § 153 Organon:

  1. Durchfall bei Aufregung, „rectum, diarrhoea, excitement“ und „rectum, diarrhoea, nervous“;
  2. frühzeitig ergraute Haare, „head, hair, gray, becomes“;
  3. fette Haare und fettes Gesicht, „face, greasy“;
  4. brüchige Fingernägel, „extremities, brittle finger nails“;

 

II. Geistes- und Gemütssymptom:

  1. Furcht vor Krankheit, „mind, fear, disease, impending“;

 

III. Allgemeinsymptome:

  1. Stimmbandpolypen, „larynx and trachea, condylomata, larynx“ und „larynx and trachea, polypi, vocal cords“;
  2. Lipom, „generalities, tumors, lipoma“ (SR, Complete);
  3. Zwiebeln verschlimmern, „generalities, food, onions agg.“
  4. Fett verschlimmert, „generalities, fat, agg.“;
  5. vor Gewitter verschlimmert, „generalities, storm, approach of“;
  6. im Frühjahr und Herbst verschlimmert, „generalities, spring“ und „generalities, autumn“;

 

V. Lokalsymptom:

  1. Leberflecke, „skin, freckles“.

Bei der Anamneseerhebung könnte man zunächst an Sulfur oder Lycopodium denken, aber Sulfur hat keine nervöse Diarrhoe, Lycopodium keine brüchigen Fingernägel und beide fehlen in der Rubrik Stimmbandpolypen. Allein Thuja deckt sowohl alle auffallenden, sonderlichen Zeichen und Symptome als auch die Stimmbandpolypen, ferner wichtige Allgemeinsymptome des Patienten. Auch im Clarke wird Thuja als Mittel für Polypen erwähnt1.

 

Behandlung und Verlauf

23.8.1995:
Thuja M.
30.9.1995:
Er hatte Urlaub, in dem es ihm nicht besonders gut ging: Schlecht geschlafen. Föhn und Sturm haben ihn angestrengt. Die Nase war morgens immer zu. Kontrolle in der HNO-Klinik: Polyp nicht wesentlich verändert
Thuja M.
4.11.1995:
Kontrolle in der HNO-Klinik: Der Polyp wachse langsam, es müsse aber nicht eingegriffen werden, man könne abwarten. Die Stimme wechselt, in den letzten Wochen habe sie sich aber nicht verschlechtert. Er kann jetzt ohne Anstrengung etwas lauter sprechen.
An seinem Oberschenkel hat sich eine Warze entwickelt. Sie hat eine gezackte, bürstenartige Oberfläche. Ich kann den Patienten überzeugen, nichts gegen die Warze zu unternehmen. Innerhalb der nächsten drei Monate verschwindet sie wieder.
Das Erscheinen dieser Warze darf nicht zum Mittelwechsel führen, solange es dem Patienten gut geht und die Hauptbeschwerden sich bessern.
Thuja XM.
9.12.1995:
Mit den Polypen sei er zufrieden, die Stimme ist gleich geblieben, er habe sogar längere Reden halten können, ohne dass er heiser wurde. Mit seinem Allgemeinbefinden ist er noch nicht ausreichend zufrieden.
Thuja XM.
26.1.1996:
Kontrolle in der HNO-Klinik: Der Polyp ist kleiner geworden.
Thuja CM.
10.3.1996:
Mitteilung aus der HNO-Klinik: Der Polyp ist weg.
Therapie: Abwarten
3.4.1996:
Mit der Sprache geht es gut, er räuspert sich kaum noch, er spürt, dass der Polyp nicht nachgewachsen ist.
13.5.1996:
Kontrolle In der HNO-Klinik. Der Polyp ist weg, man sieht lediglich noch die Stelle, wo er gewesen ist.
5.8.1996:
Stimme und Polyp o.B.

 

Epikrise

Ab August 1996 wurden mit dem Patienten halbjährige, seit 1999 jährliche Kontrollen in der HNO-Klinik vereinbart. Aus Sicht der Fachärzte wäre selbst dies nicht mehr notwendig. Doch der Patient besteht aus eigenem Sicherheitsbedürfnis auf diesen Kontrollen.

Wie so oft in der Homöopathie ist neben dem eigentlichen Behandlungsziel ein weiterer Erfolg zu verzeichnen: Der Patient hat kaum noch Infekte. Im Gegensatz zu vorher macht er nur noch leichte, mit Hausmitteln behandelbare Erkältungen durch, so dass man von einer allgemeinen Stabilisierung des Immunsystems ausgehen kann.

Thuja occidentalis ist als chronisches Mittel längst nicht so bekannt wie die üblichen Polychreste. Der Patient bot jedoch viele Zeichen und Symptome dieses Mittels:

  • Auswüchse: Zyste, Fibrom, Lipom, Polypen,
  • brüchige Nägel,
  • Leberflecke,
  • fette Haare und fettiges Gesicht,
  • Durchfall bei Aufregung,
  • Zwiebel- und Fettunverträglichkeit.

Im Verlauf trat die Warze mit gezackter Oberfläche auf, „skin, warts, jagged“, ebenfalls ein Thuja-Symptom.

Das in der Anamnese geäußertes „Knurren und Gluckern“ im Bauch könnte eventuell als das bekannte Thuja-Symptom „Bewegung im Unterbauche, wie von etwas Lebendigem“2 gedeutet werden.

Nachbeobachtungszeit: Fünf Jahre.

 

Literatur:

  1. Peter Vint: Der Neue Clarke, Enger, 1976, Band 10, S. 5966.
  2. Samuel Hahnemann: Reine Arzneimittellehre, 2. Auflage, Dresden und    Leipzig, 1826, Nachdruck Heidelberg 1983, Band 5, S. 130
No Comments

Post a Comment